Название | Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes |
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Автор произведения | Gerd Sodtke |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991076544 |
Das Wochenende zog sich hin, es wurde nicht zu hektisch, aber ich war trotzdem ausreichend beschäftigt. Es gab keine weiteren kritischen Krankheitsfälle, bis auf mein Sorgenkind. Sein Zustand blieb unverändert, ich erhöhte die Sauerstoffzufuhr noch etwas.
Ich hatte nur schwer in einen unruhigen Schlaf finden können, denn zu sehr beschäftigte mich der junge Patient. In der Nacht zu Montag, gegen 2:00 Uhr morgens, schrillte das Telefon. Ich fuhr in dem Bett im Bereitschaftszimmer hoch und griff zum Hörer. Die Nachtschwester meldete sich am Apparat: „Herr Doktor, Sie müssen kommen. Ihr Patient ist verstorben!“ „Was? Wie ist das möglich?“, brüllte ich in den Hörer. Ich hatte wie gewöhnlich in voller Dienstkleidung geschlafen, warf mir nur hastig den Arztkittel über, rannte über die Straße und durch den gegenüberliegenden Haupteingang der Klinik, raste die Treppen hoch auf die Station und riss die Türe seines Zimmers auf.
Der Patient war seit ungefähr einer Stunde tot, ich tastete keinen Puls, konnte keine Herztöne mit dem Stethoskop hören, und seine Pupillen waren geweitet und ohne jegliche Reaktion auf den Lichtreiz meiner kleinen Stabtaschenlampe. Ich schloss ihm die noch halb geöffneten Augen und bedeckte seinen Kopf mit der Bettdecke. Selbst in Kenntnis seines Lungenbefundes hatte ich keinesfalls mit seinem so raschen Lebensende gerechnet. Ich hatte im Gegenteil sehr gehofft, ihn zumindest halbwegs stabil über das Wochenende bringen zu können. Wie hatte das geschehen können? Warum hatte er nicht die bereitliegende Klingel auf seinem Nachttisch betätigt oder um Hilfe gerufen? Oder war ihm im Schlaf die Sauerstoffsonde aus der Nase herausgerutscht? Mich plagten heftige Selbstzweifel. Hätte ich noch mehr für ihn tun können? Hatte ich etwas versäumt oder übersehen? Alle meine Bemühungen waren vergeblich geblieben, es fühlte sich in diesem Augenblick an wie eine sehr bittere Niederlage. Eigentlich durfte gar kein Patient in meinem Dienst versterben, und schon gar nicht ein 23-jähriger junger Mann, für den das Leben eigentlich noch gar nicht so recht begonnen hatte. Damals, als ich noch alleine am Bett meines verstorbenen Patienten stand, fühlte ich mich sogar auf eigenartige Weise schuldig an seinem Tod. Ich sollte noch längere Zeit brauchen, bis ich den plötzlichen Tod eines mir anvertrauten Patienten verarbeiten konnte. Ich ging an das Fenster in seinem Zimmer und schaute in die mondlose, finstere Nacht hinaus. Ich fühlte mich auf einmal sehr einsam. Aber das Grauen war noch nicht vorüber.
Der Patient war verheiratet. „Haben wir eine Telefonnummer von der Ehefrau?“, fragte ich die beiden Nachtschwestern, die ausschließlich Nachtwachen machten und genauso betroffen waren wie ich selbst. Sie reichten mir die Unterlagen des Patienten herüber. Ich griff zum Telefonhörer, wählte die Nummer und erreichte die Ehefrau. Ich sagte zu ihr: „Sie müssen dringend in die Klinik kommen, der Zustand ihres Mannes hat sich erheblich verschlechtert!“ Ich vermied es seit Anbeginn meiner Tätigkeit, nahen Angehörigen am Telefon mehr oder weniger sachlich den Tod eines Patienten mitzuteilen. Dies wollte ich ihnen persönlich sagen und sie auch an das Totenbett begleiten. Telefonisch konnte man schwer beurteilen, wie sie auf die Todesnachricht reagieren würden. Trauer und Verzweiflung suchen sich ihren eigenen Weg.
Ich musste nicht sehr lange auf sie warten, wahrscheinlich wohnte sie ganz in der Nähe. Sie kam mir auffallend langsam, fast zögerlich, mit ernster Miene über den langen Stationsflur entgegen, ich erwartete sie vor seinem Zimmer. Sie ahnte bereits nichts Gutes. Es hatte beinah den Anschein, als wollte sie die Wahrheit überhaupt nicht erfahren. Je näher sie auf mich zukam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Warum wohl hatte der Doktor sie mitten in der Nacht in das Krankenhaus gerufen? Und sie kam nicht alleine. Sie trug eingehüllt in eine warme, himmelblaue Decke einen etwa drei Monate alten Säugling in den Armen, der friedlich schlief. Dieses Kind würde seinen leiblichen Vater nie kennenlernen, es würde nie eine Erinnerung an ihn haben. Die Mutter war 20 Jahre alt, von kräftiger Statur und hochgewachsen. Sie blickte mich ernst und besorgt an. Ich teilte ihr die traurige Nachricht mit. Sie blickte mich weiterhin schweigend und ernst an, ihr Gesicht blieb so regungslos, als hätte sie nicht zugehört oder meine Worte nicht richtig verstanden. Ich erklärte ihr auch den schlimmen Lungenbefund als Todesursache. Sie konnte nicht sprechen, stellte auch keine Fragen, drückte nur ihr kleines Kind fester an sich. Ohne eine Miene zu verziehen, wurden ihre Augen feucht, und dann lief die erste Träne über ihre Wange, und danach noch eine, und langsam wurden es immer mehr. Sie sagte auch weiterhin kein Wort, sie weinte lautlos. Ich hörte kein Schluchzen, keinen verzweifelten Schrei, ich hörte nichts von ihr. Ich bot ihr einen Stuhl an, ich war versucht, sie tröstend in den Arm zu nehmen, war mir aber nicht sicher, ob dies angemessen war. Meine Augen wurden, so glaube ich, auch feucht. Ich bot ihr noch an, jemanden für sie zu verständigen, der ihr beistehen konnte, aber sie wollte dies alles nicht, sie schüttelte nur langsam und schweigend den Kopf. Ich war damals als junger Assistenzarzt mit dieser schwierigen Situation emotional überfordert. Dann führte ich sie an das Bett ihres verstorbenen Ehemannes und sprach ihr mein Mitgefühl aus.
Während des Medizinstudiums hatte man uns so manche Fächer gelehrt, bei denen wir Studenten uns von Beginn an gefragt hatten, was sie mit unserem späteren Beruf zu tun haben sollten. So begann unser erstes Semester unter anderem mit Biologie, Chemie und Physik. Meine Biologiekenntnisse hatten mir in jener Nacht jedenfalls nicht weitergeholfen. Auch im weiteren Verlauf des Studiums fehlte größtenteils der Praxisbezug. Auf Situationen wie die Überbringung von unerwarteten Todesnachrichten oder eine vernünftige, aber mitfühlende Kommunikation mit Patienten und Angehörigen wurden wir in keinster Weise vorbereitet. Ich sollte in späteren Jahren alle erdenklichen Reaktionen bei der Überbringung von Todesnachrichten erleben, die von tiefer Traurigkeit und Verzweiflung bis zu Teilnahmslosigkeit reichten und in einem Fall sogar mit unberechtigten Anschuldigungen endeten.
Montagmorgen, 9:00 Uhr, Röntgenbesprechung. Der Chefarzt demonstrierte die Röntgenbilder meines Wochenendes. Nach anderen Aufnahmen hängte er das Röntgenbild des jungen Mannes an den Schaukasten. Er zögerte, aber für sein geschultes Auge bestand kein Zweifel: Metastasen. Er drehte sich abrupt zu mir um. „Stimmt das Geburtsdatum?“ Ich antwortete: „Das stimmt!“ „Dann müssen wir dringend …“ Ich musste ihn nun endgültig unterbrechen: „Herr Chefarzt, der Patient ist in der vergangenen Nacht leider verstorben.“ Im Demonstrationsraum, in dem alle Ärzte der internistischen Abteilung versammelt waren, herrschte auf einmal betretenes, ungläubiges Schweigen, alle drehten sich zu mir um. Derjenige Kollege, der mir vor Beginn meines Dienstes den Patienten mit der Bemerkung „Ich glaube, der hat nichts“ übergeben und sich frühzeitig in sein dienstfreies Wochenende verabschiedet hatte, schaute mich völlig entgeistert an. Ich erwiderte sehr lange und eindringlich seinen Blick, und zwar so lange, bis er verlegen wegschaute. Er wusste damit sehr genau, um welchen Patienten es sich handelte. „Haben Sie die Angehörigen verständigt?“, fragte der Chefarzt weiter. „Die Ehefrau ist gekommen, ich habe mit ihr gesprochen“, gab ich zur Antwort. Es folgte eine längere Pause, bis der Chefarzt zu bedenken gab: „Aber er war nur zwei Tage bei uns!“ Darauf erklärte ich noch die therapeutischen Maßnahmen, die ich ergriffen hatte. Eine weitere Pause folgte. Schließlich bat er mich, die Ehefrau anzurufen und sie zu fragen, ob sie mit einer Obduktion einverstanden wäre.
Ich rief sie nach der Röntgenbesprechung an, und sie war einverstanden.
Die Obduktion ergab den folgenden Befund: zahlreiche Metastasen der Lunge eines malignen Melanoms (Hautkrebs), einzelne weitere Metastasen in Gehirn und Leber. Der Primärtumor, von dem die Metastasen ausgegangen waren, konnte nicht gefunden werden. Die Diagnose Hautkrebs hatte der Pathologe anhand der feingeweblichen Struktur der Metastasen gestellt. Diesen Befund teilte mir der Chefarzt, dem mein Gemütszustand keineswegs entgangen war, vorab mit. Er wollte mir damit zeigen, dass ich nicht versagt hatte und dass der Patient aufgrund seiner schweren, weit fortgeschrittenen bösartigen Tumorerkrankung rein nach medizinischen Kriterien nicht zu retten gewesen war.
Auf dem Heimweg an diesem Tag dachte ich dennoch traurig: zum Leben zu spät, zum Sterben zu früh.
6 Stille Nacht, heilige Nacht