Название | Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes |
---|---|
Автор произведения | Gerd Sodtke |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991076544 |
Ich mochte Trödelmärkte schon immer und ließ mich auch an diesem Morgen, an meinem dienstfreien Wochenende, gerne von dieser fast ausgelassenen Stimmung bei dem herrlichen Frühlingswetter anstecken. Es tat gut, in lachende Gesichter zu schauen und auf fröhliche und gut gelaunte Menschen zu treffen. Die große Menschenmenge erlaubte nur ein langsames Vorankommen, das aber eine gründlichere Betrachtung der angebotenen Waren erlaubte. Oftmals lagen die interessanten Dinge auch etwas verborgen unter den Warentischen. Für einen Trödelmarkt muss man sich eben Zeit nehmen. Für mich bedeutete dieser Tag auch eine willkommene Abwechslung im Vergleich zu der zeitlosen Zeit mit ihrer dauerhaften Hektik im Krankenhausalltag.
Ich hatte meinen Rundgang schon fast beendet, als plötzlich jemand aus einiger Entfernung durch das allgemeine Stimmengewirr hindurch und über alle Köpfe hinweg laut und deutlich meinen Namen rief. Ich wandte mich verwundert in die Richtung um, aus der die Stimme gekommen war, blickte aber geradewegs in die hochstehende Sonne, sodass ich – zunächst geblendet – niemanden erkennen konnte. Aber selbst wenn ich nicht gegen das grelle Sonnenlicht geschaut hätte, hätte ich sie nicht sogleich wiedererkannt. Sie kam mit wehenden, langen braunen Haaren an den anderen Besuchern im Zickzack-Kurs vorbei auf mich zugerannt. „Herr Doktor, Herr Doktor“, rief sie so laut, dass sich sofort einige andere Besucher neugierig zu ihr umdrehten. Sie trug ein farbenfrohes, dennoch schlichtes Sommerkleid, das ihr gut stand. Neun Monate sind eine lange Zeit im Berufsleben eines Arztes, man sieht sehr viele Patienten kommen und gehen. Erst als sie dicht vor mir stand, fiel endlich der Groschen. Ich sah nicht mehr in dieses schmale, viel zu blasse und viel zu ernste Gesicht, sondern ich sah gut gepolsterte Wangen, eine sonnengebräunte Gesichtshaut, und die Spuren der Abmagerung waren vollständig verschwunden. Mehr noch als ihr gesundes Aussehen erstaunte mich aber ihre Stimmungslage. Ich hatte sie als überwiegend stilles, eher zurückhaltendes Mädchen in Erinnerung. Nun jedoch blinkten ihre Augen fröhlich und lebhaft, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus: „Stellen Sie sich bloß vor, es geht mir gut, ich war endlich einmal wieder mit meinen Eltern zusammen in Urlaub!“ Na sieh mal einer an, dachte ich sogleich, also hatte es vielleicht doch Probleme innerhalb der Familie gegeben, von denen mir allerdings ihre Eltern mit keinem Wort berichtet hatten, obwohl ich seinerzeit gezielt danach gefragt hatte. Natürlich sagte ich ihr, wie sehr ich mich für sie freute. Aus der Ferne winkten mir ihre Eltern lachend zu, die kleine Schwester hing an der Hand der Mutter. Meine ehemalige Patientin war geradezu euphorisch, sie plapperte einfach fröhlich drauflos, über die Schule, über Ausbildungspläne, über den neuen Freund und viele andere Dinge. Sie schnatterte beinahe so, wie die aufgeregte Gänseschar, die nach der Legende einst von der Gänseliesel an diesem Ort gehütet worden war. Sie war gegenüber der damaligen Behandlung in unserer Klinik überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen. Mit ihrer unbändigen Begeisterung und wiedergewonnen Lebensfreude hatte sie mich derartig eingefangen und verzaubert, dass ich tatsächlich vergaß, sie nach dem Geheimnis ihrer wundersamen Wandlung zu fragen. Vielleicht war es aber auch besser so. Wir verabschiedeten uns sehr herzlich.
Während der Rückfahrt nach Hause dachte ich über unser überraschendes und erstaunliches Zusammentreffen nach. Bedeutete diese erfreuliche Entwicklung nun auch wirklich das Ende ihrer Magersucht und damit das Ende ihrer Lügen? Oder wollte sie sich doch auch weiterhin durch ihr zukünftiges Leben lügen? Mit einer solchen Einstellung würde sie kaum glücklich werden. Ich wünschte ihr, dass sie den richtigen Weg fand, aber mir blieben doch einige leise Zweifel. Dennoch war dies eindeutig einer meiner besseren Tage, einmal abgesehen von dem bunten, fröhlichen Treiben auf dem Marktplatz.
Nach Literaturangaben werden nur 50 Prozent der Patienten mit Anorexia nervosa (Magersucht) geheilt. Vielleicht aber gehörte meine ehemalige Patientin ja auch zu diesen 50 Prozent.
4 Die versteckte Patientin
Mein Arztzimmer auf der Station war klein, sowohl räumlich als auch im Verhältnis zu den Bergen von Arbeit, die dort auf mich warteten. In Zukunft sollte ich noch mehrere Arztzimmer kennenlernen, die in der Regel ebenso die Grundfläche einer größeren Besenkammer hatten. Dieses mein erstes Arztzimmer hatte jedoch zwei Vorteile. Die Stationsküche lag direkt nebenan, wo immer eine Kanne frischen heißen Kaffees wartete. Wohlgemerkt handelte es sich um Bohnenkaffee, keinen Muckefuck, der seinerzeit auch noch verbreitet war. Diese Kaffeekanne sollte mich noch über so manche überlangen Nächte retten. Der zweite Vorteil bestand darin, dass es streng genommen gar nicht „mein“ Arztzimmer war, weil ich es mir mit einem Kollegen teilen musste. Die Schreibtische waren so zusammengeschoben, dass wir uns direkt gegenübersaßen. Daraus sollte eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit entstehen. Er war ein hilfsbereiter Kollege, auf den man sich immer verlassen konnte. Er war schon drei Jahre an der Klinik und damit der erfahrenste Assistenzarzt. Ich bewunderte seine Ruhe und Gelassenheit, er ruhte gewissermaßen in sich selbst. Sogar in dem hierarchischen Gefüge des Krankenhauses perlte eine Kritik von Vorgesetzten an ihm ab wie Regentropfen an einer Glasscheibe. Eine gewisse Obrigkeitshörigkeit, zu jener Zeit noch weit verbreitet, war ihm völlig fremd.
Bei den „Bergen von Arbeit“ handelte es sich im Wesentlichen um die Akten entlassener Patienten, deren abschließender Arztbrief noch zu diktieren war. Da mir anfangs die notwendige Routine fehlte, um aus dem Krankheitsverlauf eines Patienten einen in sich schlüssigen Arztbrief zu formulieren, und es sich zudem um eine höchst langweilige Tätigkeit handelt, wuchs mein Aktenberg erschreckend schnell an. Die erste wichtige Routine entwickelte ich zunächst dahingehend, durch eine geschickte Stapeltechnik ein vorzeitiges Umstürzen des Aktenberges zu verhindern. Akuter Handlungsbedarf, also das Diktat der Arztbriefe, war aus einer Vielzahl von Gründen irgendwann aber zwingend erforderlich: Es handelte sich um Probleme der Statik, der vorhandenen Bebauungsfläche, der Kommunikation, des aktuellen Bedarfs, ein mentales Problem und strenge Vorgaben des Vorgesetzten: Entweder die Statik geriet gefährlich ins Wanken, und der Umsturz des Aktenberges stand trotz ausgefeilter Stapeltechnik unmittelbar bevor, oder ein Anbau zu einer Bergkette war mangels freier Schreibtischfläche nicht möglich, oder der Berg versperrte mir die Sicht auf meinen gegenübersitzenden Kollegen mit entsprechender Einschränkung der Kommunikation, oder man benötigte die Akte, weil der Patient kurzfristig wieder eingeliefert worden war, oder mein eigener Ordnungssinn meldete sich protestierend, oder schlimmstenfalls mahnte der Chefarzt das Diktat der Arztbriefe an. Besonders diese letzte Möglichkeit galt es unbedingt zu verhindern, die hohe Kunst bestand im Wesentlichen darin, bereits vor einer drohenden Erinnerung des Chefarztes aktiv zu werden. Dazu fand ich in der Klinik nur selten die notwendige Ruhe. Im Ernstfall schleppte ich also anfangs eine Tüte voller Arztbriefe mit nach Hause, um dort diktierend eine Nachtsitzung einzulegen, bis mir mit dem Mikrofon in der Hand die Augen zufielen und mein Kopf ermüdet auf die vor mir ausgebreiteten Krankenunterlagen gesunken war. Bald aber waren solche häuslichen Nachtsitzungen dann nicht mehr erforderlich.
Bevor ich selbstständig arbeiten konnte, begleitete ich meinen Zimmerkollegen bei den täglichen Visiten, auch bei den Chefarztvisiten. Das Ausfüllen des Aufnahmebogens der Patienten hatte im Gegensatz zu heutigen Gepflogenheiten höchst ausführlich zu erfolgen, darauf wurde mein Kollege von dem Chefarzt häufiger hingewiesen, und ich damit natürlich indirekt auch. Hingegen war mein Kollege eher ein Freund knapperer Befundberichte, wenn man es großzügig formulieren wollte. Auf dem Weg zum gewünschten Behandlungsziel schien er eine gewisse Arbeitsrationalisierung zu bevorzugen. Diesen Arbeitsstil behielt er trotz einiger Scharmützel mit dem Chefarzt übrigens bei, wie gesagt, er ruhte in sich selbst. Seine Diagnosen und Therapien waren allerdings überwiegend korrekt.
Bei einer der nächsten Visiten kritisierte der Chefarzt, dass