Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes. Gerd Sodtke

Читать онлайн.
Название Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes
Автор произведения Gerd Sodtke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076544



Скачать книгу

Krankenpfleger, dass sein Tod eine Erlösung für ihn war, zu eigen gemacht. Dennoch hat mich sein Schicksal über die Jahre weiter verfolgt. Er lag mit einer Dauer von mindestens sechs Wochen ungewöhnlich lange auf unserer Station. Sechs Wochen, in denen ich seinen langsamen, aber fortschreitenden körperlichen Verfall durch den bösartigen Hodentumor miterleben musste. Sein Gesicht sehe ich auch heute noch vor mir, und selbst seinen Namen habe ich bis zum heutigen Tag nicht vergessen.

      Über den Verbleib der Pistole mit dem nussbraunen Holzgriff und dem silbern glänzenden Lauf habe ich nie wieder etwas gehört.

      Sein Bettnachbar, der Polizist, der ebenfalls an Hodenkrebs erkrankt war, starb zwei Wochen später.

      Die alten, hohen Kastanienbäume im Innenhof der Urologischen Klinik stehen dort heute nicht mehr vollzählig.

      Die pflegerische Tätigkeit war auf keinen Fall eine verlorene Zeit. Vielmehr war sie dank des guten Betriebsklimas auf der Station eine sehr schöne und lehrreiche Erfahrung. So konnte ich in späteren Jahren sehr gut nachempfinden, was das Pflegepersonal in den Krankenhäusern zu leisten hat. Nach vielen Monaten als Krankenpfleger in der Urologie, die mich in meinem Berufswunsch nur bestärkt hatten, kehrte ich meinem Vaterland den Rücken. Es gab hier auf absehbare Zeit keinen freien Studienplatz.

      2 Sonnenblumenaugen

      Nach erfolgtem Medizinstudium bekam ich meine erste Stelle als junger Assistenzarzt in einem mittelgroßen Krankenhaus mit 380 Betten auf einer internistischen Abteilung. Die Aufregung war groß, verfügte ich doch über gute theoretische Kenntnisse, aber kaum über praktische Erfahrung. Einerseits sagte ich mir, dass es jedem Anfänger in diesem Beruf gewiss ebenso erging. Andererseits konnte ich nun endlich erfahren, wozu dieses lange Studium gut war. Die dortigen Assistenzärzte freuten sich über die willkommene Verstärkung ihres Teams. Der Chefarzt war, wie man so schön sagt, von altem Schrot und Korn, streng, aber gerecht. Wenn es Probleme gab, hielt er seine Hand schützend über seine Assistenzärzte. Er wurde mein erster großer Lehrmeister.

      Nach kurzen drei Wochen der Einarbeitung wurde entschieden, mich in der verbleibenden Woche des ersten Monats für drei Nachtdienste einzuteilen, zwei Wochentage und einen Samstag. Nachtdienst an einem Wochentag bedeutete damals: Tagdienst – anschließender Nachtdienst – Tagdienst am darauffolgenden Tag, also 32 Stunden Dauerdienst. Eine solche Regelung gibt es heute dank eines Arbeitsschutzgesetzes nicht mehr. Oftmals fand man nachts aber für zwei oder drei kurze Stunden einen, wenn auch etwas unruhigen Schlaf. Wem das Schicksal nicht gewogen war, der war aber auch die gesamte Nacht ununterbrochen auf den Beinen. Unaufhaltsame Müdigkeit innerhalb solcher Mammutdienste gab es nicht, denn dazu war der Adrenalinspiegel viel zu hoch. Man musste besonders nachts stets wachsam bleiben und völlig eigenverantwortlich handeln. Zu Hause, nach dem Dienstende, fiel dieses Gebäude aus Konzentration, Vorsicht und Fürsorge zum Wohl der Patienten wie ein Kartenhaus in sich zusammen, und es folgte ein tiefer, traumloser Schlaf.

      Meine ersten Nachtdienste waren recht unruhig. Sie waren wie ein Sprung in kaltes Wasser nach der kurzen Einarbeitungszeit, und entsprechend groß war die Anspannung. Immerhin gab es aber noch den Chefarzt oder die Oberärztin im Rufbereitschaftsdienst für die Klärung schwieriger Fragen. Es kamen zahlreiche Notfallpatienten mit akuter Herzschwäche, entgleister Zuckerkrankheit, Bluthochdruck-Krise, allergischer Reaktion, akutem Asthmaanfall und viele andere mehr. Die ganze Wahrheit war: Je mehr Notfälle in diesen ersten Nachtdiensten kamen, umso schneller konnte man als junger Assistenzarzt auch klinische Erfahrungen sammeln. Zu meiner eigenen Beruhigung schleppte ich stets eine schwere Aktentasche voller Fachbücher zu den ersten Nachtdiensten mit in die Klinik, eine wertvolle Hilfe bei problematischen Krankheitsfällen. Die ersten nächtlichen Prüfungen hatte ich mit Bravour bestanden, es hatte keine Komplikationen gegeben. Immerhin befand ich mich ja noch in der Probezeit.

      Dann aber kam dieser unvergessliche Nachtdienst an einem Sonntag. Am späten Nachmittag saß in der Notfallambulanz eine junge, schlanke Frau, vielleicht 22 Jahre alt, das Gesicht von pechschwarzen, schulterlangen Haaren eingerahmt. Sie klagte über etwas Druckgefühl im rechten Oberbauch und Fieber bis 39,5 Grad Celsius. Ihre Haut war trotz des grellen Lichts der Neonröhren in dem Ambulanzraum intensiv sonnengebräunt, sodass die starke Gelbsucht nicht sofort auffiel. Aber ein Blick in ihre dunkelbraunen, erschöpften, glasigen Augen genügte, sie waren dunkelgelb verfärbt. In späteren Jahren sollte ich lernen, den Blutwert Bilirubin, der die Gelbfärbung verursacht, recht genau nach der Augenfarbe einzuschätzen. Als ich ihre Augen noch betrachtete, dachte ich spontan an winzige Sonnenblumen, denn die Gelbsucht war sehr ausgeprägt.

      Eine Gelbsucht kann nun im Wesentlichen zwei Ursachen haben: eine Gallenblasenerkrankung oder eine Leberkrankheit. Ich entschied mich für die Galle, zumal die Patientin beim Abtasten des Bauches mit einem leichten Druckschmerz im rechten Oberbauch reagiert hatte, und versorgte sie mit Infusionen, die ein fiebersenkendes Medikament und ein Antibiotikum enthielten. Zu jener Zeit gab es noch keine Diagnostik mit Ultraschall, mit der man die Gallenerkrankung problemlos hätte nachweisen oder ausschließen können. So weit war die medizinische Entwicklung damals noch nicht. Nebenbei hatte die Patientin mir auch mitgeteilt, dass sie erst vor wenigen Tagen von einer Afrikareise heimgekehrt sei. Andererseits war schon lange bekannt, dass selbst junge Frauen Probleme mit Gallensteinen bekommen können.

      Vier Stunden später, es war bereits früher Abend geworden, erkundigte ich mich bei der Stationsschwester nach dem Befinden meiner jungen Patientin. Sie sagte: „Gut, sie schläft ganz ruhig.“ Das war ja sehr erfreulich, denn das Fieber war schließlich hoch genug gewesen, aber davon wollte ich mich selbst überzeugen. Als ich ihr Einzelzimmer betrat, regte sie sich nicht. Auch auf meine Frage nach ihrem Befinden rührte sie sich nicht, obwohl ich die Frage laut und vernehmlich gestellt hatte. Selbst als ich nach ihrem Handgelenk griff, um den Puls zu kontrollieren, bewegte sie sich nicht. Der Puls war erheblich beschleunigt und nur schwach tastbar. Sie war nicht mehr weckbar, sie reagierte auch kaum auf Schmerzreize, atmete aber relativ ruhig und regelmäßig, ihre Haut glühte. Die Kontrolle der Körpertemperatur ergab trotz des fiebersenkenden Medikaments einen Anstieg auf 40,8 Grad Celsius! Auch die Infusionskanüle schaute ich mir an, sie lag aber korrekt, sodass die Medikamente in ihre Vene gelangten. Ich tastete erneut ihren Bauch ab, wobei die Bauchdecke weich war und damit ohne Hinweis auf eine entzündliche Flüssigkeitsansammlung innerhalb der Bauchhöhle, etwa durch eine begleitende Bauchfellentzündung.

      Nun läuteten in meinem Inneren sämtliche Alarmglocken. Wie konnte das denn überhaupt möglich sein? Dieser Krankheitsverlauf, insbesondere die völlige Wirkungslosigkeit der vor mehreren Stunden verabreichten Medikamente, sprachen gegen meine Verdachtsdiagnose. Im Gegenteil hatte sich der Zustand der Patientin sogar erheblich verschlechtert. Statt der erwarteten Fiebersenkung durch das vor Stunden injizierte Medikament war sogar ein deutlicher Fieberanstieg eingetreten! Wie konnte es sein, dass ein seit langen Jahren eingeführtes und bewährtes Medikament seine erwünschte Wirkung in diesem Fall nicht entfaltete? Aber dies war nicht das einzige Problem, denn eine weitere Schwierigkeit bestand nun in der Höhe des Fiebers: Einen weiteren Anstieg der Körpertemperatur, den ich nunmehr sehr wohl befürchten musste, würde selbst der Organismus dieser jungen Frau kaum überleben. Ich erhöhte zunächst die Tropfgeschwindigkeit der Infusion, um den fieberbedingten Verlust von Flüssigkeit über die Haut auszugleichen.

      Darauf eilte ich rasch aus ihrem Zimmer, denn ich musste jetzt alle Möglichkeiten für das Versagen der bisherigen Therapie in Betracht ziehen. Zunächst suchte ich die Stationsschwester auf, um mich zu vergewissern, dass sie meine Anordnungen gewissenhaft umgesetzt hatte. Sie bestätigte aber, dass sie das fiebersenkende Medikament genau in der angeordneten Dosierung sofort verabreicht hätte. Also gut, damit war ein allerdings extrem seltener Fehler bei der Verabreichung von Medikamenten schon ausgeschlossen. Zur Fiebersenkung ordnete ich nun zusätzlich großflächige feuchte Hautwickel an. Daraufhin stellte ich meine bisherige Diagnose auf den Prüfstand, denn eine Gallenblasenentzündung mit diesem extremen Fieberverlauf gab es meines Wissens nicht, zumal ich keinen Hinweis auf eine begleitende Bauchfellentzündung gefunden hatte. Für mich mussten die einzelnen Mosaiksteine eines Krankheitsverlaufs immer zusammenpassen, und hier passte über­haupt nichts zusammen! Es half nichts, ich musste meine primäre Verdachtsdiagnose sofort revidie­ren, dies erforderte schon die medizinische Logik. Und manchmal