Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes. Gerd Sodtke

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Название Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes
Автор произведения Gerd Sodtke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076544



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mir nur noch eines zu tun: Ich verständigte den Hausarzt, denn weitere Kontrollen der sinkenden, aber noch erhöhten Leberwerte waren erforderlich, während die Gelbsucht in ihren Sonnenblumenaugen gut rückläufig war.

      Ich bin mir im Nachhinein nicht so sicher, ob es mir als jungem Assistenzarzt damals gelungen war, dieser Patientin den Ernst ihrer Erkrankungen hinreichend zu erklären. An meinen Begründungen der langen Behandlungsdauer während der täglichen Visiten hatte es gewiss nicht gemangelt. Aber meine wohlgemeinten Worte hatten offenbar nicht das notwendige Gehör gefunden, denn bereits seit mehreren Tagen hatte die Patientin mit einer ungewöhnlichen Hartnäckigkeit, vielleicht auch mit einer Spur von Aufsässigkeit, auf eine vorzeitige Entlassung gedrängt. Ihr Drang hinaus aus dem Krankenhaus entgegen meinen Empfehlungen hatte eigentlich schon nach zwei Wochen begonnen, nachdem sie dauerhaft entfiebert war, ohne dass ich in Erfahrung bringen konnte, was genau sie dazu antrieb. Sie schien ganz von einer starken inneren Unruhe erfasst, die größer war als der Wert einer vollständigen Genesung.

      Malaria tropica wird durch die Weibchen der Anophelesmücke übertragen. Dreißig Prozent dieser Infektion enden unbehandelt und ohne medikamentöse Prophylaxe tödlich oder mit bleibenden Organschäden. Ich hatte seinerzeit das Glück, dass die Chinin-Therapie wirksam war. In späteren Jahren bildeten die Malaria-Erreger unterschiedliche Resistenzen aus, sodass selbst neuere Medikamente nicht immer wirksam sind. Ein weiterer Glücksfall bestand auch darin, dass die durch das Hepatitis-A-Virus geschädigte Leber die Malaria-Therapie mit den Chinin-Infusionen überhaupt überstanden hatte.

      Die Malaria-Diagnose war zu damaliger Zeit in Deutschland noch sehr selten, und ganz besonders in Verbindung mit der akuten Infektion durch das Hepatitis-A.Virus. In späteren Jahren sollte ich noch mehrere akute Malaria-Infektionen entdecken und erfolgreich behandeln. So konnte ich doch noch auf die Erfahrungen im ostafrikanischen Hochland während des Studiums zurückgreifen.

      Erst einige Wochen nach diesen Geschehnissen Anfang der 1980er-Jahre erschienen im Deutschen Ärzteblatt erste Berichte, in denen auf die mögliche Häufung von Malariaerkrankungen in Mitteleuropa, bedingt durch den zunehmenden Fernreisetourismus, hingewiesen wurde. Prinzipiell würde der Stich durch eine infizierte Anophelesmücke im Flugzeug während der Heimreise aus einem tropischen Land ausreichen.

      3 Der Gänselieselmarkt

      Die Stationsschwester berichtete, dass in einem der von mir betreuten Zimmer eine neue Patientin aufgenommen worden sei. Sie sei 16 Jahre alt und habe an Gewicht abgenommen. „Wie bitte? Ist dies nicht ein Fall für die Kinderklinik?“, gab ich sogleich zu bedenken, denn das Alter von 16 Jahren war gerade ein Grenzfall zwischen Kinderklinik und Innerer Medizin. Sie erwiderte aber auf meinen Einwand: „Die Eltern wünschen, dass sie hier bei uns untersucht wird!“

      Ich betrat also das Zimmer der jungen Patientin, in dem sie mit zwei älteren Patientinnen lag. Auf der Bettkante saß ein für sein Alter hochgewachsenes, durchaus hübsches Mädel, mit schulterlangen braunen Haaren, von sehr schlanker Statur, und schaute mich erwartungsvoll an. Sie war Schülerin, die Sommerferien hatten gerade erst begonnen, und mit dem Schulzeugnis war sie zufrieden. Alle meine weiteren Fragen beantwortete sie in einem freundlichen Plauderton. Erst als sie sich für die körperliche Untersuchung entkleidete, bemerkte ich, wie unterernährt sie war. An ihrem Brustkorb wölbten die Rippen die Haut vor. Durch geschickte Auswahl ihrer Kleidung hatte sie es verstanden, die Mangelernährung zu verbergen. Die Gewichtsabnahme war der einzige Grund für die Einweisung in unsere Klinik. Die körperliche Untersuchung ergab ansonsten von Kopf bis Fuß keinen krankhaften Befund.

      Die umfangreiche Blutuntersuchung war in Ordnung, mit Ausnahme einer leichten Blutarmut infolge eines Eisenmangels, einem verminderten Eiweißgehalt und einem erniedrigten Kaliumwert. Besonders der pathologische Eiweiß- und Kaliumwert waren sehr ungewöhnlich für ihr Alter. Natürlich überprüften wir auch andere mögliche Ursachen der Gewichtsabnahme, wie die Funktion der Schilddrüse und der Nebennieren, mit unauffälligen Ergebnissen. Auch einen Blutverlust aus dem Magen und dem Darm konnten wir ausschließen. Auf genaueres Befragen erklärte sie, sich regelmäßig zu ernähren, sie nehme lieber Süßspeisen als herzhafte Gerichte zu sich, aber auch Fleischgerichte. Durchfälle oder Erbrechen seien nicht aufgetreten. Haustiere seien nicht in der Wohnung, sodass ich meinen Gedanken an eine Wurmerkrankung, die auch zu einer Blutarmut führen kann, fallen lassen konnte.

      Ich war ziemlich ratlos. Gewöhnlich suchte ich mir wie ein Fährtensucher aus den Angaben zur Krankenvorgeschichte, den Blutuntersuchungen und der körperlichen Untersuchung einen prägnanten pathologischen Befund, an dem ich mich festbeißen konnte und der mich zur Diagnose führen würde. In dem Fall dieser jungen Dame hatte ich so gut wie gar nichts in der Hand.

      Also blieb zunächst nichts weiter zu tun, als die Symptome zu behandeln und abzuwarten. Ich erklärte ihr meinen Behandlungsplan mit täglichen Infusionen von Elektrolyten, Kohlenhydraten und Aminosäuren sowie einer Wunschkost und täglichen Gewichtskontrollen. Sie war einverstanden. Während der gesamten fünfwöchigen Behandlung war sie überhaupt immer mit allen Maßnahmen einverstanden, und dabei immer freundlich zugewandt. Wie einfach, so dachte ich jedenfalls.

      Die Gewichtskontrollen wurden von den Schwestern täglich durchgeführt, immer im gleichen Bekleidungszustand und auf derselben Waage, und die Ergebnisse genau in der Krankenkurve notiert. Nach wenigen Tagen der Infusionstherapie hatte meine Patientin ein Kilogramm zugenommen, ich war hocherfreut und wähnte mich auf dem richtigen Weg. Zwei Tage später kam der Rückschlag: Wir waren wieder beim Ausgangsgewicht angelangt. Die Rippen konnte man wie am ersten Tag zählen, ohne zu tasten, jede einzelne Rippe wölbte die Haut vor.

      Die erneute Blutentnahme zeigte eine Normalisierung der Elektrolyte und leider ein weiteres Absinken des Eiweißspiegels. Gar nicht gut! Was war hier eigentlich los, irgendetwas stimmte ganz und gar nicht, ich trat auf der Stelle. Ich erkundigte mich bei den Schwestern danach, wie gut das Mädel essen würde: „Sie isst gut, das Tablett ist immer leer.“ Dann fragte ich die Patientin, ob das Essen ausreichend sei: „Es ist gut, ich habe guten Appetit, kein Hungergefühl, ich werde gut satt!“ Gegen diese Feststellung sprach allerdings der zunehmend sinkende Eiweißgehalt im Blut als sehr zuverlässiges Zeichen einer unzureichenden Nahrungsaufnahme.

      Ich wunderte mich auch darüber, wie geduldig sie die Behandlung über sich ergehen ließ, nicht einmal drängte sie auf eine baldige Entlassung, und sie klagte auch nicht über Heimweh. Seltsam war dieses Verhalten schon, es waren doch schließlich Schulferien. Ich versuchte häufig und gerne, mich mittels Rollentausch in den Patienten hineinzuversetzen. Als 16-jähriger Jüngling hätte ich jedenfalls einen großen Bogen um jedes Krankenhaus gemacht, und ganz besonders in den Schulferien, in denen ich mich von zahlreichen Klassenarbeiten erholen wollte.

      Ihre Eltern kamen regelmäßig zwei- bis dreimal in der Woche zu Besuch, stets beide zusammen und häufig zur Zeit meiner Visite, sodass wir uns regelmäßig unterhalten konnten. Beide waren hochgewachsen, sehr gut gekleidet, gepflegt, höflich, freundlich, sorgenvoll. Sie machten auf mich einen absolut harmonischen Eindruck, irgendwelche Dissonanzen fielen mir nicht auf. Ich hatte natürlich viele Fragen an sie, ihre Antworten ergaben aber keine neuen Erkenntnisse, die zu einer Diagnose führen konnten. Im Nachhinein vermute ich, dass sie mir trotz meiner gezielten Fragen wesentliche Informationen oder Probleme aus ihrem Familienleben vorenthalten haben. Die acht Jahre jüngere Schwester meiner Patientin habe ich übrigens nie persönlich kennengelernt.

      Eines Morgens eilte ich über den langen Stationsflur, ich war etwas in zeitlichem Verzug mit Blutentnahmen und Anlegen von Infusionen. Und die Blutproben mussten rechtzeitig in das Labor gebracht werden, damit die Ergebnisse am Nachmittag vorlagen. Von diesem Flur gingen links die Patientenzimmer ab, rechts lagen die Stationszimmer der Schwestern, Arztzimmer, Toiletten, ein großes Badezimmer, die Stationsküche und ein Geräteraum. Geradeaus endete der Gang an der Südseite der Klinik an einem großen Fenster mit Blick auf den Hubschrauberlandeplatz. Und auf dem Rahmen dieses sperrangelweit geöffneten Fensters lehnte meine Patientin weit hinausgebeugt und schaute angestrengt und ununterbrochen nach unten, ohne sich einmal umzudrehen. Dies war insofern merkwürdig, als dieses Fenster in aller Regel geschlossen war, und noch nie hatte dort ein Patient auf diese Weise hinausgeschaut. Ich verlangsamte instinktiv meine