Название | Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes |
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Автор произведения | Gerd Sodtke |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991076544 |
Meine Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Während des Studiums wurden Tropenkrankheiten nur in wenigen Vorlesungen abgehandelt, da sie in Mitteleuropa damals sehr selten auftraten. Und die Begeisterung von uns Studenten für solche exotischen Krankheiten hielt sich daher eher in engen Grenzen, wir lebten ja schließlich nicht in den Tropen. Ich hatte aber auf eigene Initiative in den Semesterferien eine dreimonatige Famulatur, ähnlich einem Praktikum, im Landesinneren von Kenia absolviert. Damals spielte ich noch mit dem Gedanken, nach Abschluss des Studiums im Entwicklungsdienst zu arbeiten. Da die angeschriebenen dortigen Krankenhäuser nicht auf meine Bewerbungen geantwortet hatten, hatte ich mich kurzerhand in ein Flugzeug gesetzt, war nach Nairobi geflogen und dort mit meinem schweren Rucksack in das Gesundheitsministerium von Kenia marschiert. Dort verwies man mich an einen deutschen Arzt an einem kleinen Krankenhaus im ostafrikanischen Hochland, der noch gar nichts von seinem Glück wusste, mich aber gerne aufnahm.
Auf einmal waren die Bilder wieder so präsent, als wäre ich erst gestern noch dort gewesen: das kleine Ambulatorium innerhalb des nur halbfertig errichteten kleinen Krankenhauses und die lange Schlange der davor wartenden Einheimischen, die in ihre bunten Tücher gehüllt geduldig in der heißen Mittagssonne im Innenhof der Anlage ausharrten. Die Frauen, geschmückt mit breiten Halsketten aus bunten Perlen und Armringen, trugen ihre kleinen Kinder auf dem Rücken oder wiegten sie in ihren Armen. Einige der durch ihre Krankheit geschwächten Patienten lagen im Schatten der Gebäude auf dem staubigen Erdboden, andere saßen oder standen im Innenhof des Klinikgeländes. Viele waren so geschwächt, dass sie nicht einmal mehr die Kraft aufbrachten, zahlreiche Fliegen aus ihrem Gesicht zu verscheuchen. Einige gingen fort und kamen am nächsten Tag wieder. Ihre einfachen Rundhütten aus Geäst und Stroh waren nicht weit entfernt. Die meisten gehörten zu den Volksstämmen der Samburu und Turkana, nur wenige zu den stolzen, hochgewachsenen Massai und Boran, die ihre Siedlungsgebiete weiter im Westen Richtung Tansania oder im Osten Richtung Somalia hatten. Weiter im Norden des Landes endete der Einfluss der modernen Medizin, dort herrschten die Medizinmänner und behandelten nach alter Tradition mit Naturheilmitteln. Damals hätte ich mir gewünscht, dass die Schulmediziner und die Naturheiler im Bestreben um das Wohl der Kranken zusammengefunden hätten.
Der Leiter des Ambulatoriums war ein sehr guter kenianischer Sanitäter, von hünenhafter Gestalt, der sein Handwerk verstand und der an jedem Tag dort präsent war. Trotz der großen Anzahl der wartenden Patienten war er kaum aus der Ruhe zu bringen. Mit seiner kräftigen Gestalt überragte er das übrige Pflegepersonal um Kopfesgröße und füllte den gesamten Türrahmen des kleinen Ambulatoriums aus. Zu den seltenen Gelegenheiten aufkeimender Unruhe innerhalb der wartenden Menschenmenge im Innenhof pflegte er nur schweigend in den Türrahmen zu treten, die Arme drohend auf die Hüften zu stemmen und einmal mit grimmiger Miene über die Wartenden zu blicken, und schon herrschte wieder Ruhe. Er war dort eine anerkannte Autorität.
Dieser Hüne zeigte mir die Blutausstriche der Patienten unter dem Mikroskop. Durch einfaches Mikroskopieren kann man einen akuten Malariaanfall feststellen, und sehr viele Patienten waren dort an Malaria (Sumpffieber) erkrankt. Medikamente gegen Malaria gab es dort allerdings nicht, und trotz mehrfacher verzweifelter Anforderung in der 500 Kilometer entfernten Hauptstadt Nairobi wurden auch keine geliefert. Selbst unsere mehr als zwölfstündige Fahrt im Landrover über sandige und staubige Buckelpisten zu dem verantwortlichen District Commissioner in Nairobi blieb ohne Erfolg. Solche und ähnliche enttäuschende Erfahrungen bedeuteten übrigens das Ende meiner Pläne als Entwicklungshelfer. Aber zurück in die mehr als bedrohliche Gegenwart!
Jedenfalls musste jetzt sofort gehandelt werden, andernfalls würde diese junge Frau in ihrem aktuellen Zustand nicht überleben, dessen war ich mir inzwischen sehr sicher. Ich rief in unserem Labor an, wo eine erfahrene Laborantin Wochenenddienst hatte. Ich erkundigte mich bei ihr nach dem Blutausstrich der Patientin, wobei ja ein Blutstropfen auf einem Objektträger, einer kleinen, rechteckigen Glasscheibe, ausgestrichen und gefärbt wird und dann mikroskopisch untersucht werden kann. „Keine Auffälligkeiten, die weißen Blutkörperchen sind normal“, antwortete sie. „Und die roten Blutkörperchen?“, wollte ich weiter wissen. „Ebenfalls nichts Besonderes“, erklärte sie. Ich bat sie, das Präparat unter dem Mikroskop liegen zu lassen, und eilte in das Labor.
Dort beugte ich mich sofort über das Mikroskop und stellte das Okular auf meine Sehschärfe ein. Ich hatte seit Langem nicht mehr mikroskopiert und musste mich erst einsehen. Geduld, Geduld! Dieses Mikroskop würde ich erst wieder verlassen, wenn ich mir ganz sicher war. Es war mir gleichgültig, wie lange es auch immer dauern mochte. Die Hauptsache war doch, dass ich den Grund für den dramatischen Fieberverlauf fand. Meine Erfahrungen am Mikroskop, damals im Hochland von Kenia, lagen inzwischen mehrere Jahre zurück. Ich verschob langsam den Objektträger unter dem Mikroskop. Mich interessierten ausschließlich die roten Blutkörperchen.
Der Infektionsweg der Malaria-Erreger führt nach dem Mückenstich über den Blutkreislauf in die Leberzellen, wo sie heranreifen, die Leberzellen platzen, die Erreger gelangen im Blut in die roten Blutkörperchen, wo dann eine weitere Vermehrung stattfindet. Und genau diesen roten Blutkörperchen galt nun mein ganzes Interesse. Ich sah zunächst keinerlei Auffälligkeiten. Darauf stellte ich eine höhere Vergrößerungsstufe am Mikroskop ein, musterte den Ausstrich erneut langsam durch, ohne auf verdächtige Einschlüsse in den roten Blutkörperchen zu stoßen. Damit gab ich mich immer noch nicht zufrieden, stellte noch einmal die nächsthöhere Vergrößerung ein und durchsuchte den Blutausstrich abermals. Und nun endlich fand ich, wonach ich so lange gesucht hatte: das erste rote Blutkörperchen mit einem winzigen, durch die Färbung blauen Pünktchen im Inneren, das dem Malaria-Erreger entspricht. Ich stellte daraufhin noch einmal die nächsthöhere Vergrößerungsstufe ein. Und was ich nun erkennen musste, übertraf meine schlimmsten Befürchtungen bei Weitem: Je länger ich das Präparat durchmusterte, desto mehr befallene rote Blutkörperchen konnte ich auch entdecken. Nun erkannte ich sogar die typischen kleinen Ringformen, die an die blauen Pünktchen angrenzten. Ich konnte das gesamte massive Ausmaß des Erregerbefalls der roten Blutkörperchen kaum glauben und starrte weiter wie gebannt in das Mikroskop. Selbst damals in Kenia hatte ich einen Befund in dieser Ausprägung nur selten zu Gesicht bekommen. Es war ein sehr schlimmer Befund, es gab keinen Zweifel mehr, nahezu jedes zweite rote Blutkörperchen war von Malaria-Erregern befallen. Diesmal war ich endlich auf der richtigen Spur.
Unserer Laborantin konnte ich übrigens keinen Vorwurf machen, denn die Vergrößerung am Mikroskop, mit der man die Malaria-Erreger in den roten Blutkörperchen erkennen kann, liegt mindestens um drei Stufen höher als diejenige, mit der man für gewöhnlich einen solchen Blutausstrich beurteilt.
In meinem Arztzimmer griff ich zum Telefonhörer und ließ mich mit dem Chefarzt verbinden, der an diesem Wochenende Hintergrunddienst hatte: „Es geht um eine junge Patientin mit einer massiven Malaria-Infektion“, sagte ich. „Wie bitte?“, fragte er ungläubig und mit erhobener Stimme, so als hätte er sich verhört. Ich erklärte ihm, dass sie in einem sehr schlechten Zustand sei. „Haben Sie Chinin-Tabletten?“, fragte er. „Haben wir“, bestätigte ich ihm. „Dann fangen Sie sofort mit der Therapie an“, schlug er vor. Ich erwiderte: „Das ist leider nicht möglich, Herr Chefarzt, die Patientin ist durch das hohe Fieber nicht mehr ansprechbar und kann daher nicht schlucken.“ Darauf folgte in der Telefonleitung eine längere nachdenkliche Pause. Dann sagte er: „Besorgen Sie Chinin-Infusionen!“ – Ich fragte sofort: „Woher?“ – Er antwortete: „Das soll die Leiterin der Krankenhausapotheke übernehmen“.
Ich kannte sie bereits. Sie war eine äußerst kompetente, engagierte, kleine Person, immer kooperativ und ausnehmend freundlich. Ich erreichte sie glücklicherweise telefonisch und teilte ihr den dringenden Auftrag mit. Inzwischen war bereits lange die Nacht hereingebrochen. Daher hörte ich zunächst einmal die obligatorische Frage: „Hat das nicht Zeit bis morgen?“ Ich erklärte ihr sehr direkt, dass ernsthaft zu befürchten wäre, dass diese Patientin ohne eine sofortige Therapie den Sonnenaufgang nicht mehr erleben würde. Und diese meine Worte meinte ich genau so, wie ich sie gesagt hatte, sie entsprachen vollkommen meiner Einschätzung des Krankheitsstadiums der Patientin. „Ich tue, was ich kann!“ Und schon