Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes. Gerd Sodtke

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Название Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes
Автор произведения Gerd Sodtke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076544



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sodass die Schwestern von unserer Speisetafel aus ihren Flur und insbesondere die Alarmleuchten über den Türen ihrer Patientenzimmer stets im Blick hatten. Es war immer eine gemütliche oder auch fröhliche Runde, und besonders eine willkommene Abwechslung in den langen, eintönigen Nachtdiensten, einmal abgesehen von den Gaumenfreuden. Wir sprachen über Patienten, die uns Sorgen bereiteten, über Kochrezepte, über die Anstrengungen der Nachtdienste, und natürlich durften angemessene Neckereien mit den Schwestern auch nicht fehlen. Jedenfalls meldete ich mich in dankbarer Erinnerung an diese mitternächtlichen Festmahle seitdem freiwillig, wenn wieder einmal eine Sitzwache benötigt wurde. Es sollten sehr viele Sitzwachen werden.

      Nach der nächtlichen Verköstigung kam die Zeit zwischen 2:00 Uhr und 4:00 Uhr morgens, die mir auch in späteren Jahren stets länger erschien als die übrigen Stunden einer Nachtschicht. Es schien beinahe so, als würde die Zeit stillstehen. Meinen Patienten hatte ich versorgt, es ging ihm gut, und ich ließ ihn schlafen, es gab momentan nichts zu tun. Ich war 20 Stunden auf den Beinen und spürte eine bleierne Müdigkeit, meine Augen drohten zuzufallen. In jener Nacht hegte ich immerhin noch die Hoffnung, dass ich mich irgendwann im Laufe der Jahre an diese ermüdend lange Nachtstunde gewöhnen würde. Im Augenblick schob ich diesen Anfall von Müdigkeit alleine auf das überaus reichhaltige Nachtmahl, das wir gemeinsam restlos verspeist hatten.

      Ich brauchte ganz dringend frische Luft und verließ für wenige Minuten meinen Patienten, öffnete weit das hohe Rundbogenfenster des Stationszimmers und lehnte mich auf die Fensterbank. Bald schon würde die erste Morgendämmerung einsetzen. Ich atmete sehr tief durch, die kühle Nachtluft wirkte sofort belebend. Nach kurzer Zeit begann bereits irgendwo eine Amsel ihr Morgenlied, nach einer Weile stimmte eine zweite Amsel ein, und immer mehr Singvögel begrüßten den neuen Tag mit ihrem Gesang. Sie saßen in dem Geäst der hohen alten Kastanien des Innenhofes, auf den Dächern des hohen Klinikgebäudes, bis hoch oben auf den Dachtürmchen. So entstand ein einzig­artiges Konzert aus Hunderten von Vogelkehlen, das ungemein laut an den hohen Wänden des alten Ziegelsteingemäuers im Innenhof widerhallte, ganz ähnlich der Akustik in einer hohen Kathedrale. Ich lauschte andächtig diesem wunderschönen Morgenkonzert, es war auch eine Erinnerung daran, dass es dort draußen noch ein anderes Leben gab, neben so mancher gesundheitlichen Tragödie innerhalb der Krankenhausmauern. Ich hatte nicht erwartet, dass sich so viele Singvögel in dem riesigen Klinikgelände ansiedeln könnten. Dieses Erwachen des neuen Tages mit dem klingenden Gesang der Vögel hatte für mich beinahe etwas von einer gewissen Krankenhaus-Romantik. Bei späteren nächtlichen Sitzwachen sollte diese kurze, belebende Ruhepause auf der Fensterbank mit dem frühen Vogelkonzert zu einem festen Ritual werden. Jedenfalls waren meine Lebensgeister mit der frischen Morgenluft und dem Gesang der Vögel wieder erwacht.

      Wenige Wochen später betrat ich an einem Nachmittag den Krankensaal, für den ich immer noch zuständig war. Alle Betten mit einer Ausnahme waren leer. Einige Patienten waren entlassen worden, andere nutzten wohl das sonnige Herbstwetter zu einem kurzen Spaziergang auf dem großen Klinikgelände. Nur der Drogendealer lag kraftlos und ausgezehrt in seinem Bett am Fenster. Er war nun bereits seit mehreren Wochen bei uns, in deren Verlauf sein anfänglicher, zum Teil respektloser Redefluss deutlich nachgelassen hatte. Bereits seit Tagen war er immer schweigsamer geworden, es schien bald so, als hätte er resigniert. Er war sicherlich stetig schlank gewesen, inzwischen aber sichtlich abgemagert. Wie krank er wirklich war, sollte ich nun erfahren. Bis zu diesem Nachmittag wusste ich nichts über Krebserkrankungen, ich hatte mich bislang nur auf meine pflegerischen Aufgaben beschränkt. Seine schulterlangen braunen Haare waren wie immer ungepflegt, jetzt aber schweißnass, seine Augen lagen tief in den Augenhöhlen, sein Gesicht war sehr blass und spitz, und seine Atmung war erschwert.

      Ich hatte über die Wochen nie einen Besucher an seinem Bett gesehen, vielleicht hatte er aber draußen auf dem Gelände jemanden getroffen, als er noch aufstehen konnte. Er duzte mich seit dem ersten Tag, während ich bei einem höflichen „Sie“ blieb. Entsprechend seinem Milieu bevorzugte er die Gossensprache, was zwar auffiel, mich aber nicht weiter störte. Er war hier Patient und benötig­te pflegerische und ärztliche Hilfe wie alle anderen Patienten auch.

      Nachdem wir einige Worte miteinander gewechselt hatten, richtete er sich in einer Gesprächspause mühsam und schweigend in seinem Bett auf und versuchte langsam, die Schublade seines Nachtschränkchens aufzuziehen. Sie klemmte aber ein wenig, ein Gegenstand blockierte die Schublade wohl von innen, sodass er ungeduldig an dem Griff rüttelte. Er hatte alleine nicht mehr die Kraft, um sie herauszuziehen. Ich musste ihm helfen, um sie schließlich öffnen zu können. Zunächst fingerte er eine ganze Weile suchend in der randvollen Schublade herum. Jede Bewegung fiel ihm in den letzten Tagen schwerer. Schließlich zog er zu meinem Entsetzen nach einem kurzen, vorsichtigen Blick an mir vorbei zur Zimmertüre langsam eine große Pistole hervor, mit nussbraunem Holzgriff und relativ langem Lauf, der silbern in der durch das Fenster einfallenden Nachmittagssonne glänzte. Es handelte sich offenbar um eine neue Waffe, denn sie wies keine Gebrauchsspuren auf. Er drehte sie mit Kennermiene und einem gewissen Stolz vor meinen Augen hin und her, damit ich sie von allen Seiten betrachten konnte. Woher er die Waffe hatte, wollte ich gar nicht wissen, oder ich kam nicht mehr dazu, mich nach ihrer Herkunft zu erkundigen. „Die ist echt“, erklärte er mir schwer atmend, „ist nicht geladen. Mir fehlt nur noch die Munition, dann gebe ich mir die Kugel!“ Bei diesen Worten tippte er mit dem ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger der anderen Hand an seine Schläfe.

      Ich war heillos entsetzt, da mich seine Offenbarung natürlich vollkommen unvorbereitet traf, und versuchte sofort hilflos, ihn zu beruhigen und von seinem Vorhaben abzubringen. Er aber fuhr unbeirrt fort: „Jeden Tag geht es mir schlechter, ich kann nicht mehr, und ich will auch nicht mehr. Ich habe am ganzen Körper Schmerzen, und kein Medikament hilft!“ Ich verständigte sofort den Stationspfleger, und der rief den zuständigen Oberarzt, einen ruhigen, immer besonnenen Mediziner.

      Am Abend jenes Tages trat ich sehr bedrückt meinen Heimweg an. Ich war nicht alleine schockiert, weil der Patient mir die Pistole gezeigt hatte. Ich fühlte mich natürlich auch nicht bedroht. Sehr wohl aber hatte ich befürchtet, dass er sich mit meinem Wissen etwas antun könnte. Seine Ankündigung hatte ich als Hilferuf verstanden. Aber warum hatte er nicht mit den Ärzten bei der täglichen Visite gesprochen, oder mit dem Stationspfleger? Er hatte mich als Krankenhilfspfleger, dem schwächsten Glied in der Kette des medizinischen Personals, wohl bewusst ausgewählt, vermutlich aus Angst. Und er hatte natürlich den leer stehenden Krankensaal genutzt, um ohne aufmerksame Zuhörer sprechen zu können. Besonders sein Bettnachbar, der Polizist, hätte sich bestimmt nicht nur neugierig für die Waffe interessiert. Der Dealer hatte mir seine ganze Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit aufgrund seiner wohl sehr weit fortgeschrittenen und ausweglosen Tumorerkrankung zu verstehen gegeben. Der Hodentumor war zwar operiert worden, hatte aber bereits zahlreiche Metastasen, also Tumorabsiedlungen, in andere Organe, wahrscheinlich auch in die Lunge, gestreut. Zu dieser Zeit Anfang der 1970er-Jahre gab es noch keine halbwegs wirksame Chemotherapie gegen Hodenkrebs. Mit wenigen einfachen Worten hatte der Patient mir bedeutet, dass er keinen Lebenswillen mehr hatte. Er hatte lange genug gegen seine Krebserkrankung gekämpft. Frühzeitig lernte ich die Grenzen meines späteren Berufes kennen.

      Auf Anordnung des Oberarztes wurde er in ein Einzelzimmer verlegt und erhielt Morphium-Infusionen. Wohl aufgrund seiner Drogenkarriere benötigte er eine hohe Morphiumdosis. Ich besuchte ihn weiterhin täglich zu meinem Dienstbeginn, obwohl er mich kaum mehr erkannte. Aber vielleicht spürte er doch, dass jemand nach ihm schaute. Er war umnebelt vom Morphiumrausch und offenbar ohne Schmerzen, er lag ganz ruhig. In seinem Dämmerzustand öffnete er nur noch träge und zögerlich die Augen und murmelte einige unverständliche Worte, wenn ich ihn morgens besuchte. Nur wenige Tage später war sein Bett bei meinem Dienstbeginn leer.

      An diesem Morgen herrschte entgegen den gewohnten, überwiegend zwanglosen Gesprächen am Frühstückstisch der Pfleger auf der Station eine gedrückte Stimmung, wir aßen zunächst alle schweigend. Jeder von uns war in Gedanken bei dem traurigen Schicksal des Drogendealers. Nur langsam kam ein Gespräch in Gang. Es verhielt sich nicht so, dass wir nach dem Tod eines Patienten kommentarlos zur Tagesordnung übergehen konnten. Alle empfanden seinen Tod angesichts seiner schweren Krebserkrankung als Erlösung, nur sein jugendliches Alter stimmte uns traurig. Er wurde noch nicht einmal 30 Jahre alt.

      Ich