Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes. Gerd Sodtke

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Название Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes
Автор произведения Gerd Sodtke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076544



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und eigenverantwortlich die stationären Patienten, die Neuaufnahmen und die Notfälle zu versorgen hatte. Diese Dienste waren nun nicht so fürchterlich, wie es sich anhört, aber doch sehr kräftezehrend. Wenn man Glück hatte, verbrachte man ein relativ ruhiges verlängertes Wochenende in der Klinik und hatte ausreichend Schlaf zwischendurch. Es gab jedoch auch Wochenenden, an denen es mehr oder weniger bei Schlafversuchen blieb, die durch das Funkgerät oder Telefon ein abruptes Ende fanden. Ein solches Wochenende mit Schlafversuchen sollte mir bevorstehen.

      Das Bereitschaftszimmer befand sich in einem Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Klinik. Wer hier eine Wohlfühloase für tüchtige diensttuende Ärzte erwartet hatte, wurde bitter enttäuscht. Ein Stuhl, ein kleiner Tisch, ein sauber bezogenes Bett mit durchgelegener Schaumstoffmatratze, ein Kleiderschrank mit einigen Wolldecken, saubere, aber hässliche Vorhänge mit verblassenden Farben, die depressiv vor dem einzigen Fenster hingen, ein nichtssagendes, immerhin gerade hängendes Bild an der Wand über dem Bett, der Raum insgesamt an Schmucklosigkeit nicht zu überbieten. Dort auf der Fensterbank in einer Ecke ruhte ein altes verbeultes Radio mit höchstens drei zu empfangenden Sendern und abgeknickter Antenne. Dusche und Toilette befanden sich draußen auf dem Flur. Waren diese Mammutdienste an Wochenenden nicht schon Strafe genug, so wurden sie durch die Trostlosigkeit dieses Bereitschaftszimmers noch übertroffen. Aber ich wollte nicht klagen, schließlich ging es meinen Arztkollegen um keinen Deut besser. Und irgendwann, nach zahllosen Nachtdiensten, ignorierte man einfach dieses langweilige Zimmer. Es war nicht so, dass ich mich wegen der Dienstzeiten oder der Begleitumstände etwa in Gestalt dieses Bereitschaftszimmers gegen die Dienste wehrte. Sie gehörten eben zum Beruf eines jeden Krankenhausarztes, und nach zahlreichen solcher Dienste gewöhnte man sich daran. Nach vier oder fünf Wochen stand der nächste Wochenenddienst an, und man konnte sich rechtzeitig darauf einstellen.

      Diese Dienste wurden natürlich erleichtert durch nette Kontakte und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Kollegen anderer Fachabteilungen, die das gleiche Los gezogen hatten, zum Beispiel Mitarbeitern der Chirurgie oder Neurologie, und selbstverständlich den Schwestern auf den internistischen Stationen. Hier eine Aufmunterung, dort ein freundliches Wort, wir saßen schließlich alle im gleichen Boot.

      Selten kam es leider vor, dass man einen Arztkollegen hatte, der sich die Bezeichnung „Kollege“ noch nicht so recht verdient hatte. Solche Mitarbeiter zeigten Tendenzen, ihre Arbeit dahingehend zu optimieren, dass sie eigene Aufgaben an ihre Kollegen delegierten. Sie verfolgten eher eigene Interessen, als sich dem Teamgeist unterzuordnen. Bisweilen versuchten sie auch, sich unter einem Vorwand vor einem Nachtdienst zu drücken.

      Solch ein Mitarbeiter trat an einem Freitag meines Wochenenddienstes um 14:00 Uhr auf mich zu und sagte: „Hör mal, ich muss heute zwei Stündchen eher weg. Unten in der Ambulanz sitzt ein junger Bursche mit Luftnot, ich glaube, der hat nichts. Könntest du den bitte übernehmen?“ Ich willigte ein, zumal ich mir den Rücken freigehalten und die Routinearbeiten auf meiner Station bereits erledigt hatte.

      Ich machte mich also auf den Weg in die Ambulanz im Erdgeschoss. Dort saß auf einer Trage ein großer, kräftiger junger Mann, etwa 23 Jahre alt, mit strohblonden Haaren und wohlgenährt. Mein erster Eindruck, bevor ich ihm zur Begrüßung die Hand reichte und mich vorstellte, sagte mir bereits, dass das Urteil meines Kollegen, „Ich glaube, der hat nichts“, keinesfalls zutraf. Er hatte nämlich sichtbare Luftnot, seine Atmung war relativ beschleunigt, und seine Lippen und Fingernägel waren leicht bläulich verfärbt als Hinweis auf einen deutlichen Sauerstoffmangel. Er berichtete, dass er die Luftnot schon seit einigen Tagen hätte und dass sie von Tag zu Tag schlimmer geworden wäre. Er hätte dabei anhaltenden Hustenreiz ohne Auswurf, jedoch ohne Fieber, und könnte nachts wegen der Atemnot kaum mehr ruhig durchschlafen. Alle meine Fragen nach früheren Lungenkrankheiten, oder nach Kontakt mit Giftstoffen, oder nach Allergien, verneinte er. Nach meinen ersten Eindrücken und nach den Angaben des Patienten bezweifelte ich ernsthaft, dass sich mein Kollege ihn überhaupt angesehen hatte. Eine Minute hatte gereicht, um sein Urteil zu widerlegen.

      Ich zog mein Stethoskop aus der Kitteltasche und hörte seinen Brustkorb von allen Seiten ab. „Bitte mit offenem Mund tief ein- und ausatmen!“ Ich hörte hier und da ein leises Knistern, das mich nicht weiterbrachte, keinesfalls aber dieses Rasseln wie bei einer Lungenentzündung oder ein Pfeifen wie bei einem Asthmaanfall, keine brodelnden Klänge wie bei einer Wasseransammlung in der Lunge. Ich hörte auch, dass alle Lungenanteile belüftet waren, und dennoch bot er diese untrüglichen Zeichen des Sauerstoffmangels! Vielleicht handelte es sich um eine Lungenembolie, so dachte ich, bei der eine Lungenarterie durch ein Blutgerinnsel verstopft ist, die würde man mit dem Stethoskop nicht hören können. Allerdings gehörte dazu in der Regel eine Beinvenenthrombose, und die hatte er nicht, wie mir ein Blick auf seine Beine zeigte. Merkwürdig, sehr ungewöhnlich! Ich hatte keinen Hinweis auf die Ursache seiner Luftnot gefunden. „Wir müssen eine Röntgenaufnahme von der Lunge anfertigen, vielleicht wissen wir dann mehr“, erklärte ich ihm.

      Unser Chefarzt war Internist und Radiologe und hielt jeden Morgen die Röntgenbesprechung ab. Daher konnte ich Röntgenbilder der Lunge bereits recht gut beurteilen. Die Lungenaufnahme wurde durchgeführt, und ich wartete ungeduldig vor der Entwicklungsmaschine in der Röntgenabteilung. Ich musste sofort die Ursache dieser seltsamen Luftnot in Erfahrung bringen. Endlich kam die Röntgenaufnahme heraus, ich zog sie langsam aus der Entwicklungsmaschine und hängte sie an den beleuchteten Schaukasten für Röntgenbilder.

      Die Röntgenassistentin stand neben mir, sie wollte eigentlich nur die richtige Belichtung der Aufnahme überprüfen, und hielt sich sofort erschrocken die Hand vor den Mund. Ein kurzer Blick genügte, ich musste tief Luft holen und mich erst einmal auf den Hocker vor dem Schaukasten setzen. Es war ein entsetzlicher Befund, mit dem keiner von uns beiden gerechnet hatte. Gesundes Lungengewebe wird im Röntgenbild durch den Luftgehalt schwarz dargestellt. Nun stelle man sich einen Tag im Spätwinter vor, die Temperaturen liegen bereits knapp über dem Gefrierpunkt, es herrscht dichtes Schneetreiben, welches besonders eindrucksvoll im Licht eines Autoscheinwerfers zu sehen ist. Genauso sah das Röntgenbild des jungen Patienten aus, wir sprachen bei solch einem Bild leider recht treffend von einer „Schneegestöberlunge“. Beide Lungenflügel waren von oben bis unten übersät mit solchem Schneegestöber, nur hatten diese weißen Flecken im Vergleich zu Schneeflocken eine mehr rundliche Form und waren nicht so wattig-bauschig, sondern schärfer begrenzt. Wir standen vor einem sehr schlimmen Befund: Es handelte sich um ausgedehnte Lungenmetastasen! Die Metastasen (bösartige Tumorabsiedlungen) unterschiedlicher Größe standen dicht an dicht, hatten keinen Lungenanteil verschont und sich bis in die kleinsten Winkel der Lunge ausgebreitet. Solch einen massiven Befall der Lunge mit Metastasen hatte ich bis zu diesem Tag noch nie gesehen. Es handelte sich zweifellos um das weit fortgeschrittene Endstadium eines bösartigen Tumors.

      Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, von welchem bösartigen Tumor diese ausgedehnte Streuung der Metastasen ausgehen konnte. Es musste sich um einen hochgradig aggressiven Tumor handeln, der für die Bildung der Metastasen die Lunge bevorzugte. Und möglicherweise waren die Metastasen genau so aggressiv und schnell gewachsen wie der Primärtumor selbst. Andernfalls hätte der junge Patient schon seit sehr viel längerer Zeit über Atembeschwerden klagen müssen.

      Ich holte die körperliche Untersuchung nach, zuvor in der Ambulanz hatte ich meine Untersuchung zunächst auf den Brustkorb beschränkt. Ich fand keinen Ursprung der Lungenmetastasen. Es gab keine vergrößerten Lymphknoten, und Hals, Rachen und Bauchraum waren bei der Inspektion und dem Abtasten in Ordnung. Die Möglichkeit der Ultraschalldiagnostik gab es damals noch nicht. Selbst die Ergebnisse seiner Blutuntersuchung ergaben keinen Hinweis auf den Ursprung der Krebserkrankung. Angesichts seiner erheblichen Luftnot, die den Patienten mehr als genug belastete, teilte ich ihm den Röntgenbefund nicht mit und sprach nur von einer beginnenden Lungenentzündung.

      Ich konnte nur das vordringliche Symptom, nämlich die Luftnot, behandeln und versuchen, ihm so etwas Erleichterung zu verschaffen. Er sollte Bettruhe einhalten, der Oberkörper wurde so hoch wie möglich gelagert, damit sich die Lunge bei der Atmung besser entfalten konnte, und es wurde Sauerstoff über eine Nasensonde verabreicht. Des Weiteren verordnete ich prophylaktisch ein Antibiotikum, denn die Minderbelüftung der Lunge durch die Metastasen könnte bald zu einer Ansiedlung von Bakterien führen, sowie Kortison und