Название | Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes |
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Автор произведения | Gerd Sodtke |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991076544 |
Im Mittelpunkt stand auch außerhalb regulärer Dienstzeiten immer der Patient mit seinen Sorgen und Nöten. Ich wollte nicht als Halbgott in Weiß auftreten, sondern den Patienten ein verlässlicher Partner und Ratgeber sein. Ungeachtet der Hierarchie im Krankenhaus war mir der menschliche Kontakt mit Patienten wichtig, es gab sowohl heitere, wie auch traurige Begegnungen.
Besonderen Wert habe ich darauf gelegt, medizinische Zusammenhänge in diesem Buch für den interessierten Leser verständlich darzustellen.
1 Begegnung mit einer Pistole
Am frühen Morgen eines schönen, sonnigen Herbsttages stieg ich erwartungsvoll aus der Straßenbahn. Von der Haltestelle aus waren es über die Straßenkreuzung hinweg nur wenige Schritte bis zu dem eher unscheinbaren Haupteingang der Universitätsklinik Düsseldorf. Der Pförtner wies mir den Weg zu der nicht weit entfernten Urologischen Klinik.
Als ich sie erreichte, verlangsamte ich unwillkürlich meine Schritte und schaute bewundernd und beinahe ehrfürchtig auf die hohe Gebäudefassade, die den Charme eines riesigen, alten Herrensitzes ausstrahlte. Bevor ich das Gebäude betrat, umrundete ich neugierig und interessiert den mächtigen, hufeisenförmigen Ziegelsteinbau, der sicherlich um die Jahrhundertwende errichtet worden war, mit einigen mächtigen Kastanienbäumen im Innenhof. Die Kastanien mochten bald so alt sein wie der riesige Gebäudekomplex. Die Einfassungen der hohen Rundbogenfenster mit breiten, hellgelben Sandsteinen boten einen schönen Kontrast zu der dunklen, rostroten Ziegelsteinfassade. Oben an den Ecken des Karrees überragte jeweils ein rundes, spitzes, kleines Türmchen die Dachfassade. Ich mochte dieses historische Gebäude von Anbeginn. In seinen heiligen Hallen war seit vielen Jahrzehnten Medizingeschichte geschrieben worden. Es sollte für viele Monate mein neuer Arbeitsplatz werden. Ich stieg also durch das hohe, weitläufige Treppenhaus mit verschnörkeltem schmiedeeisernem Geländer auf die Urologische Männerstation in der ersten Etage hinauf.
Ich hatte einen festen Entschluss gefasst, von dem mich niemand mehr abbringen konnte: Ich wollte Medizin studieren, obwohl ich rein gar nichts über Arbeitszeiten, Verdienstmöglichkeiten oder die berufliche Belastung eines Arztes wusste. Ich wollte Menschen helfen, die gesundheitlich in Not geraten waren. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit stand jedoch ein großes Problem: Es gab keinen freien Studienplatz, und ich sollte noch jahrelang warten müssen.
An diesem schönen Herbsttag begann ich also als Krankenhilfspfleger auf der Urologischen Männerstation dieses alten, ehrwürdigen Gebäudes. Die erfahrenen Stationspfleger empfingen mich freundlich und arbeiteten mich rasch ein. Sie waren ein eingespieltes Team und arbeiteten in dieser Besetzung schon seit Jahren zusammen. Seit meinem ersten Arbeitstag behandelten sie mich nicht wie einen unwissenden Hilfspfleger, sondern als einen der Ihren. Später würden sie mich anstelle meines Namens einfach „den Studenten“ nennen, wenn sie über mich sprachen, wenngleich ich diesen Status eben gerade noch nicht hatte.
Zur Eingewöhnung wurde ich zunächst in die Leerung und Reinigung der Urinflaschen und Bettpfannen eingewiesen, in die Desinfektion der Betten auf dem langen, überdachten Balkon mit Aussicht auf die alte, kleine Krankenhauskapelle, und in die Essensausgabe. Später folgten dann Blutdruck- und Pulsmessungen, Verbandswechsel, und schließlich das Anlegen von Harnblasenkathetern zunächst unter Aufsicht.
Das morgendliche Bettenmachen war ein besonderes Erlebnis. Auf der Station gab es überwiegend Zwei- und Dreibettzimmer, aber auch einen Krankensaal mit acht Betten, für den ich regelmäßig eingeteilt wurde. Man konnte die Aufgabe des Bettenmachens nun auf ganz unterschiedliche Weise bewältigen. Man hätte zum Dienstbeginn um 6:00 Uhr morgens der frühzeitigen Unterbrechung der eigenen Nachtruhe nachtrauern und relativ unausgeschlafen und wortkarg seine Arbeit beginnen können. Nicht so auf dieser Station! Die acht Betten in dem Krankensaal waren nicht durch Paravents voneinander getrennt. Die anderen Pfleger in dem Raum waren während des Beziehens der Betten sofort im Gespräch mit den Patienten, es entstand mitunter ein buntes Stimmengewirr teils über mehrere Betten und Köpfe hinweg. Ich konnte beobachten, wie dankbar die Patienten jedes freundliche Wort aufnahmen, hier ein kleiner Scherz, oder dort ein tröstendes Wort.
Trotz unterschiedlicher sozialer Herkunft oder Nationalität kamen die Patienten gut miteinander aus. Dort am Fenster lag ein wohl stadtbekannter Drogendealer, daneben im Bett ein Polizist. Hier der Kleinkriminelle mit bedauernswerten Umgangsformen, dort der Ordnungshüter, ein ausgesprochen freundlicher, höflicher Mensch. Diese beiden grundverschiedenen Menschen hatte man natürlich nicht bewusst nebeneinandergelegt. Vielleicht war zunächst kein anderes Bett frei gewesen, oder man kannte bei den beiden anfangs nicht die genaue Diagnose. Wie es die Ironie ihres bösen Schicksals wollte, litten sie leider an der gleichen Erkrankung: Sie hatten Hodenkrebs. Dennoch freuten sich die Patienten in diesem Krankensaal über jede Ansprache, und bald plauderte auch ich lebhaft mit ihnen.
Nach nur wenigen Wochen der Einarbeitung fragte mich der Stationspfleger, ob ich bereit wäre, am gleichen Abend bei einem Patienten eine nächtliche Sitzwache zu übernehmen, selbstverständlich im Anschluss an den normalen Tagesdienst. Ich zögerte zunächst mit einer Zusage, denn dieses Ansinnen kam doch sehr überraschend und früh in meiner Entwicklung.
Solche Sitzwachen, die später neben einem Block von sechswöchigen Tagesdiensten in den Semesterferien nicht unwesentlich zur Finanzierung meines Studiums beitragen sollten, wurden angeordnet, wenn sich der Zustand eines Patienten kritisch verschlechtert hatte oder er einer umfassenderen Pflege bedurfte. Häufig handelte es sich um frisch operierte Patienten, deren Zustand aber so stabil war, dass sie nicht einer Überwachung auf der Intensivstation bedurften. Überwiegend waren sie an Niere, Harnblase oder Prostata operiert worden. Neben der pflegerischen Versorgung hatte ich einen Beobachtungsbogen anzulegen, auf dem stündlich die Blutdruck- und Pulswerte einzutragen waren, Temperaturkontrollen in größeren Abständen sowie besondere Vorkommnisse. Darüber hinaus war auf Verbandswechsel, Infusionen und Eiswasserspülungen für die Harnblase zu achten. Die Nachtpfleger versorgten die übrige Station. Ich erklärte mich nach kurzer Bedenkzeit mit dieser ersten nächtlichen Sitzwache einverstanden, zumal ich mich bei Problemen und Fragen jederzeit an die übrigen Nachtpfleger wenden konnte, wie mir der Stationspfleger versicherte.
Also trat ich diese Sitzwache nach kurzer Ruhepause vom Tagesdienst am gleichen Abend an. Ich führte die Kreislaufkontrollen wie angeordnet durch und trug die Messwerte in den Beobachtungsbogen ein. Einmal mussten der Verband, der nach der Nierenoperation leicht durchgeblutet war, und das darunterliegende Stecklaken gewechselt werden. Medikamente gegen den Wundschmerz nach der frischen Operation wurden von den Nachtpflegern verabreicht. Darüber hinaus war mein Patient über die Nacht stabil und schlief ganz ruhig.
Kurz vor Mitternacht wurde ich von den Nachtpflegern zum Essen eingeladen, eine ebenso willkommene wie überraschende Abwechslung. Die Nacht war schließlich noch lang genug. Ich traute meinen Augen nicht, als ich durch die offene Tür des länglichen Stationszimmers blickte: Zwei Tische waren zu einer langen Tafel zusammengeschoben worden, bedeckt mit blütenweißen Stecklaken, auf denen mehrere dampfende Speiseschüsseln standen, die einen intensiven orientalisch-würzigen Duft verbreiteten. Mein Magen, der sich zuvor schon unzufrieden gemeldet hatte, tat einen Freudensprung. Die Speisetafel war vollständig gedeckt, für eine feierliche Festtafel fehlten eigentlich nur noch zwei prunkvoll verzierte, mehrarmige Kerzenleuchter! Der Urheber dieses Festmahls war ein Ägypter, der hier schon lange Jahre als Pfleger arbeitete.
So langsam dämmerte mir bei diesem Anblick auch, wie die Besetzung der Nachtdienste zustande kam: Ein Pfleger, vorzugsweise ein Meister der Kochkunst, wurde immer rechtzeitig für das leibliche Wohl freigestellt und verschwand stillschweigend in der Stationsküche, während die anderen Nachtpfleger seine Aufgaben auf der Station mit übernahmen. Und da es neben dem Ägypter auch noch einen Brasilianer und einen Franzosen in anderen Nachtschichten gab, durfte ich während meiner Sitzwachen die internationalen Kochkünste, durchaus in gelungener Restaurantqualität, kennenlernen.
Selbstverständlich wurden auch die Nachtschwestern der gegenüberliegenden Frauenstation zu dem mitternächtlichen Gaumenschmaus eingeladen. Von der langen Speisetafel aus hatten wir freie Sicht auf den langen Stationsflur unserer Männerstation, an dessen Ende eine Flügeltüre in das