Die Architektur des Knotens. Julia Jessen

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Название Die Architektur des Knotens
Автор произведения Julia Jessen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956142468



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die Küchenrolle, reiße unbeherrscht viel zu viel Papier ab und fange an, den Kaffee aufzuwischen, meine Fußsohlen abzutrocknen.

      Während ich wische und durchtränktes Papier in den Abfalleimer werfe, stelle ich mir vor, wie ich die Küche zertrümmere.

      Die Sehnsucht in mir ist ein wildes Tier, das, in einen Käfig gesperrt, an den Gitterstäben hochspringt und mich anbrüllt. Es macht mir Angst, dass sie so unbeherrschbar ist.

      Man kann einem wilden Tier keine Büsche in den Käfig pflanzen und sagen: Hey, wenn du die Augen halb zumachst, sieht’s aus wie ein Dschungel. Es bleibt ein Käfig.

      Ich schneide die Kartoffeln in Scheiben, und während Mika sich weiter bekleckert, versuche ich, mir einzureden, dass dieser Gedanke vorbeigehen wird, verblassen wird.

      Er wird schon aufhören. Hochs und Tiefs … denke ich. Ich ziehe Frischhaltefolie über beide Salatschüsseln und sehe zu, wie sie beschlägt.

      »Verdammt noch mal, jetzt ist aber echt Schluss!« Mika lässt den Kakao aus seinem Mund zurück in den Becher laufen. Nicht an Mika auslassen, denke ich.

      »Dann trink ich den gar nicht mehr«, sagt Mika und steht auf.

      »Auch gut«, brülle ich und erwische den Löffel, den er immer noch herumschwenkt, werfe ihn donnernd in die Spüle. Nicht an Mika auslassen.

      Die gesamte Einrichtung. Wie ich alles in Stücke schlage. Und das ist tatsächlich befreiend. Ich liebe meine Küche. Jedes Teil darin. Keines möchte ich hergeben. Außer vielleicht die hässliche Wanduhr. Aber sonst nichts. Bei jedem Stück würde ich wahrscheinlich sagen: Ach nee, das doch nicht … das erinnert mich an … ist so schön, weil … und so praktisch …

      Aber es einfach alles rauszuschmeißen, ohne nachzudenken, das hat etwas Befreiendes. Alles weg. Alles neu. Aber wer soll den Scheiß nachher aufräumen?

      Und dann bekomme ich plötzlich schon wieder keine Luft mehr, stehe vor meinen Salaten herum und erstarre. Das Einzige, was mir einfällt, ist, mit voller Wucht meinen Zeigefinger durch die Frischhaltefolie zu stechen. Wollte ein Loch reinreißen, aber die Folie gibt nach und drückt sich in die Kartoffeln, schmiert durch die Mayonnaise und klebt jetzt an meiner Hand.

      Ich schmeiße die Folie weg und ziehe eine neue drauf.

      Mika ist beleidigt zu John hochgegangen oder er weckt endlich seinen Vater. Ich habe jetzt auch den Tomatensalat fertig, packe die gelbe Transportkiste, zwei Flaschen Champagner, Wechselklamotten für die Jungs (weiß der Teufel, warum sie ständig überall nass werden) und das Buch, das Jochen mir geliehen hat. Jonas’ Vater leiht mir Bücher über die deutschen Wälder aus, ich weiß nicht warum er denkt, dass ich mich für Wälder interessiere, er findet auch, die Kinder sollten mehr raus in die Natur. Ich weiß nicht, welche er meint, meine Kinder oder meine Schüler. Ich habe ihn noch nie danach gefragt. Ich finde, meine Kinder sind genug draußen. Muss noch daran denken, was über Eichhörnchen rauszusuchen. Für den Unterricht. Müssen. Sollen. Und so weiter.

      Jonas ist aufgestanden, er ruft etwas auf der Treppe. Ich rufe zurück, dass ich nichts hören kann hier unten. Ich rufe es leise. Weil ich vor Wut zittre.

      Ich höre, wie er die Treppen runterpoltert.

      »Ich verstehe kein Wort da oben, wenn du so leise redest, Yv.«

      »Ich weiß«, sage ich. Er kommt und küsst mich. Er ist noch in Unterhose und nimmt sich einen Kaffee.

      Ich hätte ihn wecken können. Hab ich aber nicht. Er hätte auch einfach selbst aufstehen können. Dann hätte er mir ersparen können, darum bitten zu müssen. Hätte mir ersparen können, dass ich das Gefühl habe, selbst dran schuld zu sein. An allem. Er hätte auch die Salate machen können. Ist doch seine Mutter. Er hätte den Kaffee machen können, den er gerade trinkt, und wenn er das alles gemacht hätte, hätte ich Mika vielleicht auch nicht den Löffel aus der Hand gerissen und ihm erlaubt die Scheibe mit seinen Kakaofingern vollzuschmieren. Wer weiß. Vielleicht hätte ich. Vielleicht auch nicht. Meine Gedanken zerhacken sich gegenseitig in ihre Einzelteile, verzweifeln mich, werden unverhältnismäßig und unbeherrschbar. Er soll aufhören, mich zu küssen und anzulächeln. Wenn ich jetzt was sage, dann bin ich die mit der schlechten Laune, die, die aus dem Nichts heraus explodiert.

      »Was ist denn mit Mikas Hemd los?«, fragt er, ohne mich anzusehen. Ich schaffe es einfach nicht, darauf zu antworten.

       4

      WIR HABEN ES INS AUTO GESCHAFFT. Die Salatschüsseln stehen zwischen meinen Füßen, ich strecke den Rücken durch und erschrecke mich selbst, wie laut ich dabei stöhne. Der Verkehr ist eine Katastrophe. Richtung Hauptbahnhof blockiert ein Müllwagen unsere Fahrbahn und es staut sich.

      Neben dem Müllwagen steht ein Möbeltransporter, die Außenspiegel der beiden haben sich anscheinend verhakt und die Fahrer brüllen sich durch die Fensterscheiben an.

      Wohn dich glücklich, steht auf dem Transporter.

      Mika liest Johns Comics, John starrt aus dem Fenster. Ich fange an, Kartoffelscheiben unter der Frischhaltefolie rauszufummeln und mir in den Mund zu schieben. Ich mag Kartoffeln. Vor allem in Mayonnaise, überhaupt in Soßen. Kartoffeln erden mich, egal, in welcher Variante.

      Eine Horde Jugendlicher mit Rucksäcken zieht vor uns über den Zebra streifen. Wölfe, denke ich. Neandertaler und Wölfe. Und ich muss an die Stadt denken, die Stadt, die die Jungs vor einigen Monaten gebaut haben.

      Die Jugendlichen ziehen einen Bollerwagen hinter sich her, voll mit Bierdosen. Die Stimmung zwischen ihn perlt auf und ab, sie sehen aus, als würden sie den Boden gar nicht berühren. Noch vor einem Jahr hätte ich mich darüber lustig gemacht, über ihre unwissende Vorfreude, ihr Lachen, das immer zu laut ist, hätte ihre ausladenden Gesten Gehabe genannt und darin nur das lächerliche Bedürfnis erkannt, sich ständig selbst fühlen zu wollen.

      Jetzt kriecht eine Sehnsucht genau danach durch meinen Körper, die mir unangenehm ist.

      Ein dunkelhaariger Junge hat seinen Arm um eine Blonde gelegt, eine sehr Hübsche. Sein Arm schwebt auf ihren Schultern, als wüsste der Arm nicht so genau, ob es ihm erlaubt wäre, dort zu sein. Der Junge traut sich was. Ich erinnere mich daran, wie es sich in diesem Alter angefühlt hat, wenn man alles riskiert, mit nur einer Bewegung, sein ganzes Selbstverständnis. Sieg oder Niederlage. Vielleicht ist das immer noch so.

      Sie lässt ihn und sein Gesicht explodiert fast unter einem schmalen, scheuen Lächeln.

      Wie sehr ich ihn fühlen kann, hier im Wagen, durch die Scheibe starrend, mit Kartoffelsalat zwischen den Füßen.

      Wo fahren die hin? Ich würde gern wissen, was sie sich ausmalen … was sie denken, was passieren könnte … dort, wo sie hinfahren. Geister, die sich mitten in ihrem eigenen Urknall befinden, die alle ihre eigene Sonne sind.

      Ich seufze schon wieder und stecke weiterhin Kartoffeln in meinen Mund. Mein Leben fühlt sich an, als würde ich in einem fertigen Gemälde leben.

      Denke an die Playmobilfrau und strecke mit Schwung meine Arme gerade nach vorne.

      »Was ist jetzt los? Glaubst du, das hält dich davon ab, den Kartoffelsalat aufzuessen?«, fragt Jonas mit einem kurzen Seitenblick.

      Er bringt mich zum Lachen und ein bisschen dankbar lege ich meine Hand auf sein Bein und drücke kurz und fest zu.

      Die Truppe Neandertaler mit dem Bierbollerwagen verschwindet im Hauptbahnhof.

      Ich beneide sie, weil für sie alles offen ist, sie haben keine Ahnung, was als Nächstes passiert. Alles könnte passieren.

      Ich weiß genau was gleich passiert. Ich weiß ziemlich genau alles, was gleich passiert, und auch, wie es ablaufen wird.

      Wir sind im Speckgürtel der Stadt gelandet. Jonas’ Eltern haben mit Abstand noch das unauffälligste Gartentor. Eines, das nicht so aussieht, als wolle es die Köpfe ungebetener Gäste aufspießen. Manche Zäune hier haben sogar goldene Spitzen.

      Während