Название | Die Architektur des Knotens |
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Автор произведения | Julia Jessen |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956142468 |
Mein Vater und ich reden wenig. Wir haben nie viel geredet. Seit meine Mutter nicht mehr lebt, noch weniger. Er ist verwirrt. Manchmal ist er ganz klar und dann plötzlich fantasiert er, redet die seltsamsten Dinge, er erkennt mich, aber er erzählt mir Geschichten über mich, die nicht stimmen. Ich glaube jedenfalls, dass sie nicht stimmen.
Wenn seine Erinnerungen durcheinandergeraten, spricht er zu mir wie zu einer Fremden.
Ich versuche, das vertraute Gesicht meines Vaters in seinen von der Krankheit starren Gesichtszügen ausfindig zu machen, weil ich nicht mehr weiß, worauf ich reagieren soll. Auch wenn er sich mir immer auf seine Art entzogen hat, versteckt hinter diesem unbestimmten, freundlichen Lächeln, das nie sein Gegenüber zu meinen schien, aber das kannte ich, darauf waren meine Geschichten, mein Tonfall, jede meiner Bewegungen eingestellt, wenn wir aufeinandertrafen. Ich konnte mit ihm immerhin über das Wetter reden, die Kinder oder wir redeten über das Essen.
Seit ich diesen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen habe, weiß ich nichts mehr zu sagen. Er ist ein Unbekannter geworden. Ich sehe ihn an und verstumme. Warum habe ich ihn nicht erkannt? Wie konnte es sein, dass sich ein fremdes Gesicht in die vertrauten Gesichts züge meines Vaters eingeschlichen hatte? Wo war das fremde hergekommen? War es der Krankheit geschuldet? Etwas Dazugekommenes? Oder etwas Altes? Ihm schon lange Vertrautes? War es vielleicht schon immer da gewesen? Verborgen unter seinem anderen Gesicht, das mit uns gelebt hatte? War es der Ausdruck eines heimlichen Fremden in ihm gewesen, der aufgetaucht war, der seine Chance gewittert hatte, einen Blick nach draußen zu werfen, in die Welt, in diesem Moment der Schwäche, als meinem Vater sein unbestimmt lächelndes Gesicht entglitten war? Ich wünschte, ich hätte den Mut, ihn danach zu fragen. Zu fragen: Wer war der Mann, den ich da gesehen habe?
Ich bin sicher, er würde mir nicht antworten. Ich bin auch gar nicht sicher, ob ich die Antwort hören möchte.
Seit diesem Tag weiche ich unseren Treffen noch mehr aus, als ich es eh schon getan habe.
Direkt vor dem ersten Laden, den ich ansteuere, hat eine Galerie eröffnet. Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Ich bleibe vor dem großen Fenster stehen. Der Raum scheint L-förmig zu sein, verläuft schmal nach hinten und dann, nicht mehr einsehbar von hier, nach rechts um die Ecke. An der rechten Seite des schmalen Vorderraumes steht ein wellenförmig geschwungener Tresen. Weißlackiert und irgendwie unpassend. Es scheint niemand da zu sein.
Mein Blick streift über ein Bild im hinteren Teil der Galerie und bleibt daran hängen. Mir direkt gegenüber, an der hinteren Wand des Raumes, hängt das Bild einer Frau.
Sie steht in einem Garten, glaube ich, zwischen Bäumen und Sträuchern, und einem Haufen Müll, oder was ist das? Auf die Distanz und durch die Spiegelung in der Fensterscheibe ist das schwer zu erkennen.
Sie steht neben einem Baum, ihr linker Arm ist ausgestreckt und ich sehe ihre Augen.
Ich denke, ich sehe ihre Augen, mein Blick wird sofort von ihnen angezogen, aber eigentlich sehe ich sie nicht richtig. Spüre sie mehr, als dass ich sie sehe. Stehe hinter der Fensterscheibe und starre ihr ins Gesicht. Als wäre sie eine Erscheinung.
Mein Oberkörper spiegelt sich in der Fensterscheibe und für einen Moment starre ich durch meine eigenen Umrisse hindurch auf die Frau im Hintergrund und plötzlich scheint es mir, als würde ihr Körper heranzoomen, als würden sich unsere Körper übereinanderlegen und verschmelzen, ich spüre eine fremde Spannung in meiner Brust, eine leichte Verschiebung der Körperhälften in ein Vor und ein Zurück. Es ist, als würden wir verharren, in dieser gegenseitigen Anziehung. Das leichte Heben in ihrer Brust, unser Abwarten, ich spüre es mehr, als dass ich es sehen kann. Ich kenne dieses Gefühl, den gehaltenen Atem, das Abwarten, wenn man »dazwischen« ist, in diesem leeren Raum zwischen dem Gedanken »etwas zu tun« und dem Moment, in dem man es »tatsächlich tut«. Die Spannung der Verzögerung, die sich zwischen Gedanke und Bewegung ausbreitet und den ganzen Körper ergreift. Ich erkenne es auf dem Bild. Wie in einer Spiegelung.
Etwas an ihrer Körperhaltung lässt mich denken, dass sie ihre Hand nicht nach etwas ausstreckt, was sie sieht.
Das Gesicht meines Vaters schiebt sich vor das Bild. Seine Augen. Die gleiche seltsame Leere, denke ich plötzlich. Ich muss das Bild aus der Nähe sehen.
Als ich die Galerie betrete, finde ich es erstaunlich kühl. Es riecht nach einem starken Aftershave/Eau de Toilette … was auch immer. Ein guter Geruch. Klar und frisch.
Ein Geruch, bei dem ich unwillkürlich ans Duschen denken muss, an feuchte Haut, die man abtrocknet und eincremt, in dieser versunkenen Intimität, die man nur hat, wenn man unbeobachtet und allein mit seinem Körper ist.
Mir gefällt das. Es tröstet mich. Frisch geduschte Menschen sind umgeben von dieser Wolke aus warmer Luft, die ihnen noch aus der Haut strömt. Wenn sie mit diesen Wolken an mir vorbeiziehen, fühle ich mich ihnen seltsam nahe, den Fremden. In diesen Momenten schweigen auch kurz die Gedanken in meinem Kopf.
Niemand steht hinter dem Tresen, in der rechten Wand ist eine Tür, jemand wird wohl da sein, denke ich. Ich möchte nur schnell etwas überprüfen, möchte mit niemandem sprechen, hoffe, dass derjenige, der hinter der Tür ist, nicht herauskommt.
Hastig gehe ich auf das Bild zu, kurz davor bremse ich ab und mache einen letzten, seltsam langsamen Schritt nach vorn. Es hat etwas ungewollt Ehrfürchtiges, wie ich hier stehe.
Als sich die Tür der Galerie hinter mir schließt, wird es schlagartig still.
Ich sehe den Verkehr und die Menschen, die draußen vorbeiströmen, als ich mich kurz umdrehe. Still wie in einer Kirche.
Das Bild hängt etwas höher, sodass ich den Kopf heben, zu der Frau hochblicken muss.
»Eva hysterisch« steht auf dem Schild neben dem Bild. Aha.
Die Augen der Frau sind weit geöffnet, ich starre hinein und es fühlt sich schamlos an, wie ich in ihren Blick hineinfalle. So starrt man niemanden an.
Ihr Blick ist leer. Das, was sie sieht, befindet sich offensichtlich nicht in der Welt.
Sie ist nicht anwesend. Sie würde mich nicht sehen, selbst wenn sie echt wäre.
Ihr Körper ist entspannt. Sie steht und schaut. Ich kann nicht erkennen, was daran hysterisch sein soll.
Ihr linker Arm ist nach vorn ausgestreckt, aber ihre Hand greift nach nichts … eher so, als würde sie gezogen werden, als hätte ihre Hand sich selbstständig gemacht, losgelöst vom Körper.
Ihr rechter Arm dagegen hängt seitlich herab, völlig untätig. Ihr Körper ist weich und verweilt noch, ist noch nicht im Aufbruch. Nur ihre Hand … von etwas angezogen, zieht die linke Körperseite leicht nach vorn. Deshalb die Verschiebung in ihrem Körper.
Sie trägt ein Kleid. Vielleicht hatte es mal eine Farbe, aber das ist nicht wirklich zu sagen, es ist vielleicht nicht mal grau. Eher schmutzig. Sie trägt keine Schuhe und helles, blondes, kurzes Haar. Reste von Lippenstift sehe ich, glaube ich, der Mund sieht verwischt aus. Während ich sie betrachte, tastet sich mein Körper in ihre Körperhaltung hinein und wieder kann ich fast spüren, wie ruhig und flach ihr Atem wohl gehen muss. Etwas scheint sie fortzuziehen. Was ist das dort hinten?
Mein Blick schwenkt ruckartig in den Hintergrund des Bildes. Ich bin wieder bei mir. Unsanft aufgetaucht. So als hätte ich eben kurz geschlafen.
Der Garten ist groß und verwildert. Die meisten der Farben, die hier benutzt worden sind, haben etwas leicht Schmutziges, grau und braun, beige, alles sieht vertrocknet und welk aus, nur das Grün leuchtet an manchen Stellen. Es sind viele verschiedene Grüntöne, helle und dunkle. Das Haus dahinter wirkt klein und zugewachsen.
Viele Büsche, Bäume, Sträucher und verwelkte Pflanzen. Dazwischen stehen aber auch ein Tisch und ein Bett, ich sehe auch umgekippte Stühle, Kisten und Kästen, einen Herd und einen Garderobenständer mit Mänteln. Der ganze Garten ist voll damit. Die Möbel sind nur mit Strichen gezeichnet, wie ein erster Entwurf, nur die Konturen, zarte graue Linien, sie verschwinden fast im Dickicht der Sträucher und Büsche.
Die