Die Architektur des Knotens. Julia Jessen

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Название Die Architektur des Knotens
Автор произведения Julia Jessen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956142468



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decken den Tisch gemeinsam, die Jungs kriegen eine Menge guter Tipps und Ermahnungen von ihren Großeltern.

      Inge zeigt ihnen, wie man das Besteck richtig hinlegt, und schickt sie dann rein, um die bunten Plastikbecher zu holen. Ich stehe viel rum, hauptsächlich im Weg.

      »Es ist wichtig, dass die Jungs die Benimmregeln lernen«, sagt Inge zu mir im Vorbeigehen.

      Ja. Ist mir auch klar. Ich nicke und sage nichts dazu. Was soll ich dazu sagen? Ich habe einen Käfer getötet.

      Ich weiß, dass sie mich nicht kritisieren wollte. Die Jungs liegen ihr am Herzen. Inge würde alles für die Jungs tun, das weiß ich, sie fühlt sich verantwortlich. Jochen und Inge sind immer mit ganzem Herzen bei den Kindern, immer etwas erschöpft, wenn wir lange bei ihnen waren, und wahrscheinlich auch erleichtert, wenn wir endlich wieder gehen … Großeltern sind vielleicht so … wahrscheinlich war es doch eine Kritik …

      Die weiße schwere Schüssel steht in der Tischmitte, der Käfer liegt darunter. Tot. Mit Sicherheit tot. Niemand hat die Schüssel bis jetzt angehoben. Es ist etwas, worauf ich warte. Dass jemand die Schüssel anhebt. Meine Tat entdeckt. Fast wünsche ich es mir.

      Ich betrachte die vielen Hände. Die Bewegungen, die sie machen, wandern durch meinen leeren Blick. Johns Hand, wie sie die Becher schiebt, einen blauen und ein grünen, an seinen Platz, da ist Jonas’ Hand, die das Telefon auf den Tisch legt, Inges Hände mit Tellern, dann Gläsern und immer noch mehr Schüsseln. Ich beobachte, wie all diese Hände Bewegungen ausführen, sanfte, bestimmte, fordernde oder ungeduldige, so als hätten sie ihre eigene Sprache, sie erzählen, unbemerkt von ihren Besitzern. Ich beobachte Inges gleichbleibendes Lächeln, während ihre Hände die Lage der Messer, die Mika mal rechts, mal links neben die Teller geschoben hat, mit eifriger Beharrlichkeit korrigieren.

      Mikas kleine Hand greift über den Tisch, Johns Hand hat Apfelsaft in die Becher gegossen, Mikas Hand greift nach dem grünen. John greift nach Mikas Hand und hält sie fest: »Grün ist meiner!«

      Mika reißt den Arm weg und der Becher kippt, Apfelsaft läuft über das weiße Tischtuch.

      Jochens Hand haut auf den Tisch, Inges legt sich darüber und ich sehe den Druck, mit dem sie seine Hand nach unten drückt.

      »Och nee, Jungs!« Inges Gesicht zuckt unruhig. Erst da ruckt mein Kopf nach oben.

      »Lass Inge«, sage ich. Bin auch schon aufgestanden. Inge aber auch.

      »Ich hol einen Lappen. Lass. Lass, Inge, ich mach das schon.«

      Die Küche steht voller Schüsseln, Salate, Dips, ich zähle mindestens drei verschiedene Nachspeisen. Dann entdecke ich die Uhr. Inge hat sich die Landhausuhr gekauft und ich erinnere mich, dass ich die tatsächlich auch in der Hand hatte. Als Ersatz für meine, die ich hässlich finde. Auf der hier ist der schwarze Hahn, den ich im Laden auch kurz gut fand, obwohl ich die Idee dieser Uhr, so zu tun, als hätte unser Leben irgendwas mit Land und Hühnern zu tun, überhaupt eine Uhr, die auf Antik macht, während sie gerade aus Taiwan eingeschifft wurde, ablehne. Das ist auch nichts anderes, als Botox in Falten zu spritzen, nur andersrum eben.

      Ich habe einen lächerlich wütenden Gedanken, einfach nur weil ich vor ein paar Tagen eine Uhr in der Hand hatte, die einer Frau wie Inge offensichtlich auch gefällt. Ich mag Inge … ich will aber nicht die gleichen Uhren mögen wie sie. Ich werde irgendwann diese ordnenden Hände bekommen, denke ich, Hände, die alles immer wieder dorthin schieben, wo es hingehören soll. Hab ich ja jetzt schon. Mit leerem Blick starre ich noch immer auf die Uhr, während ich den toten Käfer vor mir sehe, sein dunkles Brummen höre. Wie eine Warnung klingt das.

      Es klingelt an der Tür und ich bin froh darüber.

      Frank steht vor mir und grinst mich an. Er trägt eine dünne, rote Outdoorjacke und wie immer einen Rucksack.

      »Du musst aufhören, diese Rucksäcke zu tragen«, sage ich und lächle ihn an, weil ich mich wirklich freue, ihn zu sehen.

      Frank sagt, den Teufel werde er tun, und nimmt mich fest in den Arm. Es ist schön, dass Frank die Leute immer richtig in den Arm nimmt, man fühlt sich gemeint und kurz lass ich mich reinfallen, in seinen Körpergeruch und in die Wärme dahinter.

      Hinten am Auto sehe ich Andrea, kopfüber ins Auto gebückt, ihr schwarzer Rock ist hochgerutscht, ich kann ihr fast zwischen die Beine sehen. Sie taucht mit fünf Baguettebroten aus dem Auto auf. Was denkt sie denn, wie viele Leute kommen? Warum bringen alle immer so viel mit? So viel Essen. Wozu brauchen wir so viel Essen?

      »In meinem Rucksack ist heute Champagner«, Frank grinst mich an, »denn … was ist heute für ein Tag … na?«

      »Wenn ich nach dem Kalender meiner Schwiegereltern gehe, irgendwas mit 2015«, sage ich.

      »Nein! Das ist ganz falsch! Heute ist der große Tag des vierjährigen Praxisjubiläums und das werden wir feiern!«

      »Geh mal rein jetzt, bitte«, Andrea schiebt ihn mit den Broten durch die Tür und Andrea und ich drücken kurz unsere Körper aneinander und küssen uns auf die Wange, wie man das eben so macht.

      »Wir haben auch Champagner mit«, sage ich. Ich schicke die beiden raus in den Garten und hole dann die Flaschen aus dem Kühlschrank. Als ich wieder auf die Terrasse komme, fragt Inge mich nach dem Lappen und steht dann auf, um ihn selbst zu holen.

      Die Sonne ist fast schon heiß geworden. Meine Strickjacke habe ich zur Seite gelegt. Es ist schön, im T-Shirt hier zu sitzen und warme Haut zu haben. Ich lehne mich zurück und beobachte die Jungs. Inge hat Champagnergläser mitgebracht und Jochen schenkt ein.

      »Auf vier fantastische, erfolgreiche Jahre und unsere geile Freundschaft und, nicht zu vergessen, auf unsere fantastischen Patienten! Auf uns, Jonas! Die zwei besten Physiotherapeuten der Stadt!«

      Frank sagt das tatsächlich mit hörbarer Rührung in der Stimme, nachdem er mit der Gabel fast sein Glas kaputt gehauen hat.

      »Vier fantastische Jahre und geile Freundschaft, jawoll … fantastische Patienten … davon weiß ich nichts«, sagt Jonas und lacht.

      Andrea küsst Frank und wie im Reflex küsse ich Jonas.

      Dann sage ich schnell: Skål!

      Wir trinken. Die Praxis läuft gut. In den Büchern, die Jochen mir vorhin im Flur in die Hand gedrückt hat, geht es um die Tiere des Waldes. Steht auch ’ne Menge über Eichhörnchen drin.

      Das ist doch praktisch für mich. Ich habe mich dafür bedankt. Eigentlich ist alles gut.

      Und das »Eigentlich« ist so dunkel wie der zerquetschte Käfer unter der Schüssel.

      Die Schüssel steht immer noch an ihrem Platz. Hoffentlich hebt niemand sie hoch. Ein Gefühl, als hätte ich was zu verbergen, beschleicht mich … ich wollte einfach nur, dass das Kratzen, das dunkle Brummen, dass das Geplapper in meinem Kopf aufhört. Ich trinke mein Glas aus und Inge fragt, wann wir morgen nach Dänemark losfahren.

      »Ich muss noch packen«, sage ich.

      John krabbelt in letzter Zeit häufiger auf meinen Schoß. Das ist eher ungewöhnlich für ihn, er ist ja auch fast neun, aber ich mag es. Ich habe mir abgewöhnt, ihn zu fest an mich zu drücken und ihm durch die Haare zu streicheln, denn dann verschwindet er sofort wieder. Am besten geht es, wenn ich ganz selbstverständlich tue, so als würde ich gar nicht bemerken, dass er da ist. Dann bleibt er etwas.

      »Ich denke, wir fahren morgen ganz früh los«, sage ich, als ich Inges fragenden Blick bemerke. Hatte ich das eben nicht schon gesagt?

      »So schade, dass wir nicht mitkommen können.« Andrea verzieht den Mund. »Ich wäre lieber in Kopenhagen, als auf der goldenen Hochzeit von Franks Eltern rumzuhängen.«

      »Musst du mit leben«, sagt Frank. »Aber Jonas, du musst Sven und Mille von mir grüßen, ich ruf ihn auch noch mal an, sag ihm das.« Jonas nickt.

      Jonas fragt mich, ob wir eigentlich über die Brücke oder mit der Fähre fahre wollen. Mika ruft sofort: »Fähre!