Название | Die Architektur des Knotens |
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Автор произведения | Julia Jessen |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956142468 |
»Einmal beschlossen ist immer beschlossen«, ruft der Mann, »die Bereitschaft, etwas Idiotisches zurückzunehmen, ist einfach nicht sehr hoch entwickelt.«
Sie spielen wieder Musik im Radio. Die letzten aufgeregten Worte aus dem Radio bleiben bei mir im Kinderzimmer, ihr Echo begleitet die selbstverständlichen Bewegungen meiner Hände.
Ich erinnere mich nicht mehr, wann es angefangen hat, dass meine Gedanken so laut geworden sind. Wann es angefangen hat mit dem Gefühl von Abstand zu allem, was um mich herum geschieht. Die lauten Gedanken in meinem Kopf markieren diesen Abstand, sie schieben sich unablässig zwischen mich und die Menschen, die Dinge, die Ereignisse. Sie halten mich fern, halten mich davon ab zu wissen, was ich fühle, und dann davon, etwas zu tun oder zu sagen, mit ihrem ständigen Hin und Her.
Ich weiß nicht mal mehr, ob es meine Gedanken sind, sie kommen plötzlich, zählen mahnend auf, was ich zu tun habe (Du musst noch einkaufen gehen! Wenn du jetzt in den Keller runtergehst, darfst du aber nicht vergessen, danach einkaufen zu gehen), geben mir vor, was ich sagen sollte (Sag, dass dir Blumen gefallen), wiederholen es (Hast du dich für die Blumen bedankt?), bis ich es ausspreche (Danke für die Blumen), weil mir nichts anderes mehr einfällt als das, als hätte ich Angst, es zu vergessen, nicht mehr richtig zu funktionieren, als wäre mir alles Selbstverständliche abhanden gekommen, auch meine Zurechnungsfähigkeit, sie wiederholen laut, was ich schon gesehen habe (Die Kinder müssen aber mal Haare waschen), kommentieren es (Aber dringend!), so als müssten sie mich irgendwie in der Welt da draußen halten (Am besten jetzt gleich, noch vor dem Abendbrot) und verhindern, dass ich in mir versinke, zur Ruhe komme, und wenn ich mich darauf einlasse, spalten sie es sinnlos auf, selbst das Alltäglichste (Soll ich es jetzt oder morgen tun? War um will ich es nicht heute tun? Bin ich faul oder gelassen? Wahrscheinlich faul. Wäre ich gelassen, würde ich mich das nicht fragen. Bin ich überfordert? Wahrscheinlich. Blödsinn. Mit Haarewaschen? Warum schaffen es andere, ihren Kindern regelmäßig die Haare zu waschen? Ich bin zu müde. Von was? Ich hab ja noch nicht mal den Kindern die Haare gewaschen …).
Jeder Gedanke zerbricht verzweifelt in zwei Möglichkeiten. Und diese beiden Möglichkeiten dann in vier weitere, bis ich gar nichts mehr weiß. Und manchmal fassen sie den Irrsinn unter einer Überschrift zusammen, so als wäre mein Leben nur ein Bericht, eine Geschichte über bereits Geschehenes. Und nicht mein Leben.
So treiben sie mich durch die Tage, reden auf mich ein, bis ich müde bin, und je lauter sie werden, desto weniger weiß ich, was zu tun und zu sagen ist.
Ich werde immer stiller. Die Sprache ist zu einer Mauer geworden, die ich nicht mehr zu überwinden weiß, und die Bedeutung der Worte ist mir auch verloren gegangen. Ihre festgelegten Bedeutungen sind unzureichend geworden, keines beherbergt Bilder, die davon erzählen können, die einfangen könnten, wie ich mich fühle. Ich bin ein heimlicher Mensch geworden. Einer, der sprachlos hinter einer Mauer haust.
Ich wünschte, Jonas hätte meine Hand genommen. Nicht gedrückt. Gehalten. Es fühlt sich an, als wäre ich neben das Leben gerutscht. Plötzlich sehe ich mich selbst, so als würde ich noch immer da im Türrahmen stehen, sehe mich hier halbnackt, in Unterhose und T-Shirt, auf Knien, zwischen kaputten Häusern und zerstörten Straßen sitzen, mit meinen idiotisch automatischen Händen Playmobilfrauen, Ninja Turtles und wilde Tiere sortieren. Ein Riese in einer zerstörten Spielzeugwelt.
Eine Frau auf Knien. Sortieren und ordnen.
Ich weiß plötzlich, dass ich mich an dieses Bild erinnern werde.
2
WIR HABEN SCHON MAI.
Heute fühle ich mich rosa. Sanft und hell, irgendwie durchlässig. Eine Farbe, mit der ich eigentlich gar nicht gut zurechtkomme, aber heute finde ich’s ganz gut. Verblasstes Rot. Passt doch. Ich bin müde.
Meine Klasse ist auf einem Ausflug im Tierpark und ich habe frei. Habe nicht wirklich verstanden, warum ich nicht dabei bin, kleines Durcheinander wegen der Referendarin, also bin ich nicht dabei und froh darüber. Über die freien Stunden.
Bin heute Morgen trotzdem nicht liegen geblieben. Ich bin aufgestanden und war hektisch, habe Johns Schulbrot gemacht, mit Jonas einen Kaffee getrunken und Mika in die Kita gebracht. Alles mit diesem rosa Gefühl, etwas gut machen zu wollen, es besser zu machen, das Gefühl, mich hinschmeißen zu wollen, loszuwerden. Jetzt sitze ich wieder am Küchentisch und habe nicht wirklich eine Idee, was ich mit dem Tag machen soll.
Ich werde mir ein Kleid kaufen, beschließe ich. Für Ellas Taufe. Am Wochenende fahren wir nach Dänemark. Sven und Mille haben uns zur Taufe ihrer Tochter eingeladen. Ja, das sollte ich tun. Ein Kleid kaufen. Etwas muss sich ändern. Mit einem Kleid kann man schon mal anfangen. Ich gehe einfach los, die Luft ist warm und die Straßen sind voll, die Abgase hinterlassen ein kratziges Gefühl im Hals. Ich laufe die Straße runter, vorbei an vollen Cafés, erstaunlich, wie viele Menschen vormittags in Cafés sitzen. Mehr als ihre Umrisse nehme ich nicht wahr, nur Ausschnitte, Hände, die nach Gläsern greifen, plappernde Münder, alles bleibt verschwommen. Mein Körper fühlt sich an wie ein Schatten, der vorbeigleitet.
Ein Krankenwagen fährt an mir vorbei. »Still und ohne Blaulicht«, der Gedanke ist laut in meinem Kopf und wiederholt sich, versucht, mich zu beruhigen, mich abzulenken. Schafft er aber nicht. Die Erinnerung an den Krankenwagen und an meinen Vater ist schon da. Er lauert ständig in meinem Hinterkopf. Mein Vater.
Ich rufe schnell im Pflegeheim an und sage Bescheid, dass ich nach Dänemark fahre, dass ich meinen Vater am Wochenende nicht besuchen werde, dass sie ihm das bitte ausrichten mögen. Ich hätte es ihm auch selbst sagen können. Aber ich lege auf.
Ich könnte ihn heute auch besuchen. Habe ja Zeit. Aber ich weiß, dass ich das nicht tun werde.
Das Kleid. In meiner Vorstellung ist es jetzt auch schon rosa. Das wäre mal was anderes. Die Straße runter sind zwei Läden, die etwas in der Richtung haben könnten, hoffe ich jedenfalls.
Ich gehe weiter die Straße entlang. Die Erinnerung an das Gesicht meines Vaters kommt mit. Ich kann es nicht vergessen, obwohl es schon einige Wochen her ist. Ich erinnere jede Einzelheit. Die offenen Türen des Krankenwagens und zwischen den weißen Laken ein blasses, fahles Gesicht, schmal, die Augen tief eingesunken, ich habe nur die Hälfte des Gesichts gesehen.
Der Körper des Mannes war bis zum Hals zugedeckt. Ich weiß nicht, woran ich es erkannt habe, aber ich denke, es war der Ausdruck in seinem Gesicht, das Entrücktsein in seinem Blick, der mit nichts mehr in Verbindung zu stehen schien, die gelöste Spannung in seinen Zügen. Sein Blick schien auf etwas gerichtet zu sein, etwas, das gleichzeitig außerhalb von ihm lag und dennoch von innen zu kommen schien. Es waren nur Bruchteile von Sekunden, länger habe ich ihn nicht gesehen und doch wusste ich, dass er der dem Tod näher war als dem Leben.
»Sie sollten kommen, es könnte gut sein, dass es mit Ihrem Vater zu Ende geht«, hatte der Pfleger am Telefon gesagt. »Eine Lungenentzündung in Kombination mit Parkinson, damit ist ja nicht zu spaßen.«
Mein Auto hatte ich quer über den Fahrradweg geparkt, mit Warnblinker, ich bin an dem Krankenwagen vorbei und am Empfang, bin hochgehastet in den zweiten Stock der Seniorenresidenz, den Gang entlang zum Zimmer meines Vaters.
Als ich die Tür öffnete, war das Zimmer meines Vaters leer. Die Nachttischlampe brannte, da lag sein Telefon und ein verschmiertes, schmutziges Wasserglas stand unter dem Licht der Lampe. Die Bettdecke lag eilig zurückgelassen auf dem Boden.
»Ihr Vater ist eben abgeholt worden, also der Krankenwagen, stand gerade noch draußen«, sagte der Pfleger in meinem Rücken. »Ich gebe Ihnen gern die Adresse vom Krankenhaus.«
Erst als ich wieder im Auto saß, mit Blick auf die leere Einfahrt, habe ich begriffen, dass es mein Vater war, den ich eben im Krankenwagen gesehen hatte. Dass ich in das Gesicht meines Vaters geschaut hatte, ohne es zu erkennen.
Das Gesicht, das