Die Architektur des Knotens. Julia Jessen

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Название Die Architektur des Knotens
Автор произведения Julia Jessen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956142468



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gehen und sie hochheben, denke ich, ihm den Maikäfer zeigen. Guck, was ich getan habe. Es ist nicht gut. Aber manchmal machen wir so was, damit wir nicht … damit wir … ich sollte mit einem Vierjährigen so nicht reden. Ist schon recht.

      John kommt. Er entschuldigt sich bei Mika. Ich lächle ihn an und er verdreht die Augen.

      »Aber er hat einen Frosch umgebracht, Mama, er ist trotzdem ein Mörder.«

      »Ja, aber das ist nicht strafbar. Es ist nicht schön, aber es ist eben auch … es ist eben nur ein Frosch und kein Mensch. Vielleicht ist die Fantasie mit ihm durchgegangen … er ist erst vier, John.«

      »Jetzt ist mal gut damit, ja!« Jonas klingt genervt. »Ich finde, wir haben das jetzt lange genug ausdiskutiert. Niemand ist ein Mörder. Frösche tothauen ist trotzdem scheiße. Und jetzt lasst so was und spielt einfach irgendwas anderes. O.k.?«

      »Ja, o.k.«, sagt John.

      »O.k.«, sagt Mika.

      Klar. So kann man es natürlich auch machen …

      Andrea steht vor der Haustür und raucht. Ich bin ihr nachgegangen, weil ich auch rauchen will. Sie gibt mir eine. »Bin wegen der Kinder hier rausgegangen«, sagt sie.

      »Danke. Das musst du doch aber nicht.«

      Ich rauche fast nie, aber wenn, dann will ich immer fünf nacheinander rauchen, auch nicht ganz normal. Sie gibt mir noch eine, als ich sie danach frage. Nicht ohne mir einen Seitenblick zuzuwerfen. »Freust du dich auf die Hochzeit?«, frage ich schnell.

      Sie nickt. »Ja klar.«

      Wir stehen beide ein bisschen still und abwartend nebeneinander in der Sonne.

      Ich schiebe kleine Steinchen mit meiner Schuhspitze hin und her.

      »Ich bin aber auch aufgeregt.« Sie tritt die Zigarette mit dem Fuß aus und nimmt sie dann hoch. »Das ist ja schon so ’ne Sache, wenn man sagt, das ist jetzt für immer, oder? Wenn man das so beschließt. Also, das Gefühl, das man dann kriegt, habe ich unterschätzt.« Sie lacht kurz leise. »Aber das ist ja gut. Ich finde es genau richtig so.«

      Klar.

      Wieder Leuchtschriftsätze, synchronisierte Gedanken in meinem Kopf. Es ist fürchterlich, ich kann nicht mehr reden. Das, was ich sagen möchte, versuchen möchte zu sagen, passt nicht in die Sätze, ist wie eine zu dicke, zu große Frau, für die es keine passenden Kleider gibt.

      »Das ist doch toll«, sage ich dann einfach und denke an den Galeristen.

      Und dann an die hysterische Eva auf dem Bild.

      Andrea setzt sich auf die Stufen, ich setze mich neben sie.

      »Wie war eigentlich eure Hochzeit?«

      »Schön«, sage ich. Sie war wirklich schön.

      »Ich war mit John schwanger und wir hatten gerade die neue Wohnung gemietet, da war noch nichts drin und Jonas hatte die Idee Bänke in die leeren Räume zu stellen und da zu heiraten.«

      »Das klingt toll.«

      »Ja, das war’s auch. Seltsamerweise hatte der leere Raum mit den Bänken was Kirchliches.«

      »Hat Jonas eigentlich was gegen die Kirche?«, fragt sie mich.

      »Nicht wirklich, oder doch, wahrscheinlich schon irgendwie. Wegen vorhin? Ich glaube … ach, es geht mehr um die Beliebigkeit, glaube ich, dass Menschen, die eigentlich nicht glauben, dann trotzdem solche Rituale mitmachen. Das findet er unreflektiert und widersprüchlich und ich glaube, das passt ihm nicht. Außerdem redet er auch einfach gern.«

      »Ich mach so was immer nur aus dem Gefühl«, sagt Andrea und zündet sich ihre zweite Zigarette an. Ich frage sie nach einer dritten. Das ist mir zwar ein bisschen peinlich, aber nicht so sehr, dass ich nicht fragen würde.

      »Ist wahrscheinlich auch richtig so. Das, was man fühlt, hält ja meistens sowieso keiner ernsthaften Diskussion stand. Man macht es eben einfach so, wie man es fühlt.«

      »Mmh.« Andrea nickt und bläst Rauch aus der Nase wie ein Drache.

      »Das ist es doch, worum es geht«, sagt sie.

      Ich frage sie nicht, was sie damit meint.

      Ich frage mich allerdings doch, worum es geht. Worum geht’s eigentlich? Ich denke darüber nach, während ich die dritte Zigarette zu Ende rauche.

      Die Luft ist warm und es ist die Art, wie Andreas Arm auf ihrem Bein liegt und die Zigarette hält und dabei schön aussieht und wie mir die Sonne ins Gesicht scheint und ich hinter mir, im Haus, im Garten dahinter, Menschen weiß, die ich liebe, die mich lieben, die Jungs mit ihren verschwitzten Haaren, die sich wahrscheinlich gerade wieder streiten und für die ich alles tun würde, immer wieder, dass Freunde hier sind und wir trinken und auf Gartentreppen sitzen und rauchen, dass wir wissen, zu wem wir gehören, wissen, was wir zu sagen haben, was wir zu denken haben, alles immer schon wissen … Das ist gut, ist etwas Kostbares, das weiß ich, und gleichzeitig ist es, als wäre unter all diesen Gewissheiten etwas in mir erloschen. Es brennt nicht mehr. Und genau da hat sich die Müdigkeit ausgebreitet. Meine Gefühle drehen sich wie Münzen, auf ihrem schmalen Rand, immer wieder um die eigene Achse. Kopf, Zahl, Kopf, Zahl, Vorderseite, Rückseite, rasend unbeweglich. Ich bin so erschöpft davon.

      2015 im Flur, 2016 auf der Gartentreppe, und meine Gedanken kann ich von hier aus durch mein ganzes Leben bis ins Jahr 2055 schicken, ohne dass sie auf nennenswerte Widerstände oder große Über raschungen treffen. Die Zeit ist einfach durch mich hindurchgerauscht und das wird sie auch weiterhin tun. Und das immer schneller. Bis sie eines Tages so schnell sein wird, dass es sich nicht mal mehr lohnt den Kalender abzunehmen. Der Fluss geht gerade durch und von hier kann ich die Fahrrinne sehen, in der wir weiterschippern werden, bis zum Ende vermutlich. Ich komme mit diesem Gedanken nirgendwo an. Außer dass ich mich undankbar fühle. Und alt.

      »Es geht immer um die Liebe«, sagt Andrea plötzlich. Als wäre sie mir noch die Erklärung von vorhin schuldig geblieben.

      Ich nicke und wir drücken die Zigaretten aus. Wahrscheinlich ist das so. Aber das sind immer so Sätze … mittlerweile bin ich bei Jonas und mir auf fünf verschiedene Stadien von Liebe gekommen. Wenn es für jedes davon ein eigenes Wort gäbe, denke ich, wäre es leichter, davon zu erzählen. Es dürfte existieren, denn dann gäbe es ja eine Bezeichnung dafür.

      Wäre das nicht irgendwie hilfreich?

      Wir wickeln die Kippen in Taschentücher und werfen sie in die Mülltonne.

      Als wir durch den Flur gehen, legt Andrea den Arm um mich und fragt, ob ich mir vorstellen könnte, ihre Trauzeugin zu werden, sie sagt das, während sie mich an sich zieht und sagt, sie hätte gerade darüber nachgedacht und ich wäre für sie so was wie ein Glücksbringer.

      Verstehe ich nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich die Richtige dafür bin. Aber klar.

      Na klar. »Ja«, sag ich.

      Im Garten ist ein Riesendurcheinander, als wir zurückkommen, und Mika heult schon wieder. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und heult mit weit aufgerissenem Mund wie ein verrückter Hund. Neuerdings steigert er sich immer so rein.

      »Was ist denn hier los?«

      »Ach, Mensch«, Inge sieht mich ganz verzweifelt an, »ich hab es Jonas doch gesagt mit dem Becher. Jetzt hat Mika den Weißwein getrunken.«

      »Viel?«, frage ich.

      »Ach Quatsch«, sagt Jonas, »nur so ein minibisschen, Herrgott, das tut doch nichts.«

      »Ja, aber du kannst auch einfach dein eigenes Glas benutzen, deine Mutter hat dir ja eins direkt vor die Nase gestellt.« Sein Blick. Meiner weicht aus.

      John fragt, ob Mika jetzt betrunken ist.

      »Nein, doch nicht von dem kleinen Schluck«, sage ich und nehme Mikas Gesicht in beide Hände. Er heult mir ins Gesicht. »Mika, Schatz, war das so schlimm?«

      »Nein,