Der tote Rottweiler. Heike Brandt

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Название Der tote Rottweiler
Автор произведения Heike Brandt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948675721



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erzählen, war sie erst sehr enttäuscht. Wenn Sanya das für Geld macht, dachte Julika, hat sie sie vielleicht gar nicht wirklich lieb, sondern nur bezahlt lieb. Doch den Zahn hat ihr Sanya schnell gezogen.

      „Ich muss arbeiten, ich brauche das Geld zum Leben, ich habe auch zwei Kinder. Aber bin ich doch Mensch, nicht Maschine“, hat sie gesagt und Julika in den Arm genommen. Das hat Julika verstanden.

      Julika hört, wie Sanya die Treppe heraufkommt, in Christians Zimmer verschwindet und leise mit ihm redet, hört das Wort Wadenwickel, Sanyas unfehlbare Fiebersenk-Methode, hört sie ins Bad gehen, die Tücher nass machen.

      Wenig später steckt Sanya kurz den Kopf in Julikas Zimmer und sagt:

      „Steh auf, ich mach uns Frühstück!“

      Das wirkt sofort. Julika wälzt sich aus dem Bett, duscht, zieht sich an und läuft die Treppe runter in die Küche, wo der kleine Tisch schon für zwei gedeckt ist und Sanya Kaffee kocht, den starken, süßen, krümeligen Sanya-Kaffee.

      „Guten Morgen, meine Schöne“ sagt Sanya und begrüßt Julika mit einem Küsschen links, einem Küsschen rechts. „Wie geht’s dir? Was ist mit Bello?“

      „Der ist immer noch weg.“

      Julika setzt sich an den Tisch und erzählt Sanya, dass sie mehrmals im Wald und beim Schützenhaus nach ihrem Hund gesucht hat, dass sie beim Tierarzt nachgefragt hat, dass sie Zettel mit einem Foto von Bello an die Bäume gepinnt hat, dass sie sein Foto im Internet gepostet und alle gebeten hat, es weiter zu teilen, dass sie andauernd grübelt und nach einer Erklärung sucht. Und dass ihr Bello so sehr fehlt – und nicht nur, weil sie jetzt nachts die Alarmanlage anmachen müssen.

      „Weißt du, als Bello da war, hab ich mich gar nicht mehr so viel um ihn gekümmert“, sagt sie. „Er war ja da! Aber jetzt … Ich versteh das nicht!“

      „Vielleicht hat jemand Bello geklaut?“, meint Sanya und schenkt den Kaffee in die kleinen Tassen.

      „Meinst du?“, überlegt Julika.

      Zwei Toastbrote springen aus dem Toaster, sie legt eins auf ihren, eins auf Sanyas Teller.

      „Klar, ein reinrassiger Rottweiler ist schon was wert. Aber wer will Bello fangen? Der geht doch nicht einfach mit jedem mit.“

      Julika schüttelt den Kopf.

      „Kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich kann ja mal checken, ob irgendwo ein Rottweiler in seinem Alter angeboten wird. Wenn, dann läuft sowas doch übers Netz, oder?“

      Sanya hebt die Schultern, zieht die Augenbrauen hoch und rückt ihren Pferdeschwanz zurecht.

      „Keine Ahnung.“

      Sie trinkt ihren Kaffee und schmiert Marmelade auf ihren Toast. Als sie fertiggegessen und den Kaffee ausgetrunken hat, holt sie vier Orangen aus dem Kühlschrank und die Saftpresse vom Regal. Orangensaft ist für sie ein Lebenselixier, den wird sie für Christian machen, denkt Julika und fragt:

      „Wie geht’s Christian?“

      „Nicht gut“, sagt Sanya. „Will nicht essen. Ich bring ihm gleich Saft, trinken muss er.“

      Nachdenklich fügt sie hinzu:

      „Der hat was, der Junge.“

      „Na klar, Grippe oder sowas!“, meint Julika.

      „Vielleicht. Vielleicht aber auch anderes. Der Junge ist mehr empfindlich, als ihr denkt.“

      „Meinst du, wegen Bello?“

      Das kann sich Julika nun gar nicht vorstellen, dass Christian krank wird, weil Bello verschwunden ist. Dem fehlt der Hund garantiert nicht.

      „Ach, was“, sagt sie. „Der hat sich einfach irgendwo angesteckt. Der hatte ja schon am Sonnabend Kopfschmerzen, da war Bello noch gar nicht weg.“

      Sanya nickt, sagt aber nichts, sondern drückt Julika einen Umschlag in die Hand.

      „Lag auf dem Tisch. Von deiner Mama.“

      Auf dem Umschlag steht:

      Julika, bitte fahr nach der Schule bei Uromi vorbei und bring Darina das Geld in dem Umschlag. Ich schaff das heute nicht.

      „Okay, mach ich“, sagt Julika.

      „Bleib ein bisschen bei ihnen“, sagt Sanya. „Sie sind so viel alleine.“

      Julikas Uromi lebt immer noch dort, wo auch Julika früher gewohnt hat, in Kastanienhof, der Werkssiedlung auf dem Hügel. Das kleine Haus der Urgroßeltern gehört zu der Familiengeschichte, die Julika inzwischen in- und auswendig kann. Wer nicht weiß, wo er herkommt, weiß auch nicht, wo er hinsoll, pflegt ihr Opa zu sagen, der in diesem kleinen Werkshaus aufgewachsen ist.

      Die Saga beginnt mit dem Schwiegervater ihrer Uromi, dem alten Ritter, der sich im Werk vom Lehrling zu einem leitenden Ingenieur hochgearbeitet hat und maßgeblich an der Entwicklung neuer Produkte beteiligt war. Er war der erste Bewohner des kleinen Hauses der Siedlung Kastanienhof, die in den dreißiger Jahren für Angestellte und Arbeiter des Werks errichtet wurde. Der alte Ritter überließ das Haus seinem Sohn Hermann, Julikas Uropa, der auch im Werk schaffte, und seiner jungen Ehefrau, der lebenslustigen Offizierstochter Renate – Julikas Uromi. Die beiden bekamen noch im Krieg ihren Sohn Gunter, Julikas Opa, der wie sein Vater und sein Großvater sein Berufsleben im Werk begann und beendete. Und jetzt ist es seine Tochter Astrid, Julikas Mutter, die diese Familientradition fortsetzt, auch sie arbeitet in leitender Position im Werk, genau wie ihr Mann. Das Werk, Familie Ritter bzw. jetzt Schaaf und das kleine Städtchen sind seit Generationen eine unverbrüchliche Einheit. Zu der Julika dazugehört, ob sie will oder nicht.

      Julika ist gespannt, ob Uromi sie heute erkennt. Die alte Frau hat gute Zeiten und schlechte Zeiten. Mal ist sie vergnügt und gut gelaunt, mal mürrisch und überhaupt nicht ansprechbar. Ihr Gedächtnis ist ein Sieb, sagt sie selber, wenn sie einen hellen Moment hat. Und wenn sie gar nichts mehr weiß, presst sie die Lippen zusammen und schweigt laut.

      Alleine versorgen kann sie sich nicht mehr. Deswegen wurde Darina engagiert, über eine slowakische Firma, preisgünstig. Darina wohnt bei Uroma und kümmert sich Tag und Nacht um sie, gibt ihr ihre Medikamente und ausreichend zu trinken, wäscht und windelt sie, kauft ein, richtet ihr die Mahlzeiten, kocht, putzt. Drei Mal in der Woche hat Darina vier Stunden frei, in der Zeit muss jemand von der Familie bei Uromi sein. Julika ist froh, dass sie das nicht zu machen braucht. Auf Windeln wechseln ist sie nicht scharf, auch wenn sie Uromi ganz gerne mag.

      Uropa Hermann ist schon einige Jahre tot, Julika kann sich kaum noch an ihn erinnern. Eine Begegnung aber wird sie nie vergessen, und sobald sie daran denkt, spürt sie wieder den Zorn von damals: Der große Mann mit dem kahlen Kopf und der riesigen Nase hatte sich zu ihr heruntergebeugt und sie gefragt, wie alt sie denn schon sei. „Sieben“, hat sie ihm stolz geantwortet und wollte ihm gerade zeigen, dass sie ihren ersten Eckzahn verloren hat, da erwiderte er: „Was denn – Jahre oder Kartoffeln?“, und zwar so streng, dass Julika sofort antwortete: „Jahre“, obwohl sie sich hinterher am liebsten auf die Zunge gebissen hätte. Was für eine blöde Frage!

      Ein oder zwei Jahre danach ist Uropa bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Eigentlich hätte er längst nicht mehr fahren dürfen, alle in der Familie wussten, dass er nur noch schlecht sah und hörte, dass er Schwierigkeiten hatte, Abstände einzuschätzen, aber niemand hatte sich getraut, ihm zu sagen, er solle seinen Führerschein und damit auch seinen geliebten, exzellent gepflegten Daimler Oldtimer abgeben.

      So geschah es dann, dass er in einer Rechtskurve zu weit nach links geriet und frontal gegen einen entgegenkommenden Laster krachte. Dessen Fahrerin kam mit dem Schrecken und leichten Schäden am Wagen davon, doch Uropa war tot, und Uroma, die neben ihm gesessen hatte, wurde schwer verletzt. Die Brüche sind zwar zusammengewachsen, die Wunden verheilt, aber so lebenslustig wie vorher wurde sie nie wieder. Also ist eigentlich Uropa dafür verantwortlich, dass es Uroma so schlecht geht, denkt Julika. Oder? Oder die Leute, die wussten, dass er nicht mehr fahren konnte, und nichts gesagt haben? Schwierig. Denn eigentlich ist doch