Название | Der tote Rottweiler |
---|---|
Автор произведения | Heike Brandt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948675721 |
Xabier schleppt immer neue Gläser heran. Aber das macht Bobi nichts. Gläserspülen hat für ihn etwas sehr Beruhigendes. Seine Handbewegungen laufen automatisch, er spült immer zwei Gläser auf einmal. Lippenstift und Fettspuren entdeckt er sicher. Bei ihm geht kein schmutziges Glas raus. Auch das Abarbeiten von Xabiers Zetteln, Getränke fertigmachen und aufs Tablett stellen, funktioniert längst reibungslos. Bobi hat ein eigenes System entwickelt, ohne überflüssige Bewegungen oder doppelte Wege. Er ist fast schon so schnell wie Xabier.
Die Gruppe draußen auf der Terrasse wird lauter. Je mehr Alkohol die Leute trinken, desto lebendiger werden sie. Längst sind auch die anderen Tische besetzt. Xabier rennt hin und her, schleppt Wein und Bier und Essen und Kaffee. Trotzdem bleibt er mal hier und mal da stehen und redet mit den Leuten. Bis jemand was bestellen oder bezahlen will oder die Küche klingelt und er nach hinten laufen muss.
Ein paar Stunden Hektik, dann wird es ruhiger. Nach und nach brechen die Gäste auf. Vom Liederreigen sind noch zwei Leute dageblieben, eine Frau in Xabiers Alter und ein Mann, der jünger ist als sie. Sie sitzen sich still gegenüber und nippen immer mal wieder versonnen am Wein. Sie wissen nicht, dass Bobi vom Tresen aus unter ihren Tisch gucken kann. Und da geht es wesentlich lebhafter zu. Ihre Beine sprechen miteinander, sehr, sehr angeregt. Jetzt eine Kamera, denkt Bobi.
Die beiden trinken aus, zahlen und stehen auf. Küsschen links, Küsschen rechts, mit Abstand. Sie geht in die eine, er in die andere Richtung.
„Kennst du die?“, fragt Bobi Xabier.
„Der Typ“, sagt er, „ist öfter hier. Kommt aus München.“
„Und die Frau?“
„Gehört zum Chor, mehr weiß ich nicht.“
„Haben die beiden was?“
Xabier lacht.
„Seguro! Und sie ist bestimmt verheiratet.“
„Warum macht die sowas?“
„Was weiß ich! Da gibt’s tausend Gründe. Und der Typ sieht doch sympathisch aus – jung, fit, lebendig!“
„Krass verlogen, oder?“
„Klar. Könnte natürlich auch anders sein: Sie liebt zwei Männer, und beide finden das okay.“
„Echt mal?“
„Warum nicht? Wenn alle einverstanden sind? Hier, das sind die letzten Gläser.“
Bobi hat keine Ahnung, wie er das finden soll. In jedem Fall ist das, was er hier gesehen hat, eindeutig heimlich. Also sind nicht alle einverstanden.
„Wenn du den Mann von der kennen würdest, würdest du dem das sagen mit dem Lover?“, fragt er seinen Vater und stülpt das letzte Bierglas ins Spülbecken.
„Wenn er mein Freund wäre, würde ich mit der Frau sprechen. Dass die’s ihm sagt, glaube ich. Ihm das sagen? Nee, würde ich nicht.“
Ist das feige?, überlegt Bobi. Oder Freundschaft?
Die beiden putzen die Bar, stellen die Stühle hoch, rücken die Tische auf der Terrasse zusammen. Inzwischen sind auch Naira und Uwe mit der Küche fertig. Sie können abschließen.
Xabier und Bobi haben keinen weiten Heimweg, sie wohnen direkt über dem Restaurant.
Bobi würde Xabier gerne fragen, wie das mit ihm und Sofia und der Liebe ist. Aber da sind sie schon an der Wohnungstür. Er ist müde und Xabier auch. Und irgendwie kann sich Bobi überhaupt nicht vorstellen, dass Xabier heimlich eine Freundin haben könnte oder Sofia einen Freund. Im Leben nicht.
3
Julika schläft. Die Sonne scheint durchs offene Fenster in ihr Zimmer, doch Julikas Bett steht im Schatten, denn Julika schläft gerne und lange. Und abends bleibt sie ebenso gerne lange auf und liest, bis ihr die Augen zufallen.
Obwohl Julika heute erst zur dritten Stunde muss und das abends auch laut verkündet hat, wird sie schon um sieben von ihrer Mutter geweckt, erst vorsichtig, dann energisch, weil Julika sich nicht gleich rührt. Endlich macht sie die Augen auf, guckt auf den Wecker, schließt die Augen sofort wieder und brummt:
„Hab heut später.“
„Ich weiß“, antwortet ihre Mutter. „Aber Christian ist krank, er hat Fieber. Ich hab Sanya angerufen, die hat zum Glück Zeit und kommt gleich.“
„Super“, sagt Julika und dreht sich auf die andere Seite.
„Bitte, steh auf Julika. Wenn irgendwas ist mit Christian … Bitte! Ich muss jetzt los, bin schon spät dran.“
„Der stirbt schon nicht so schnell“, murmelt Julika, aber das hört ihre Mutter nicht mehr. Denn sie ist bereits auf der Treppe, auf dem Weg nach unten und aus dem Haus.
Julika macht keine Anstalten aufzustehen. Ihre Mutter hat die Zimmertür aufgelassen, die von Christian ist mit Sicherheit auch auf; also würde sie ihn hören, wenn er was braucht.
Julika bleibt mit geschlossenen Augen liegen und versucht, sich an den Traum zu erinnern, aus dem ihre Mutter sie gerissen hat. Aber nichts da, alles weg, keine Erinnerung, kein Bild, nur ein vages Gefühl von Verunsicherung. Irgendwie war alles wirr, wackelig, unentschieden, unklar. Aber was? Worum ging es? So sehr sie auch grübelt, die Traumbilder heraufzubeschwören sucht, es bleibt eine große Leere.
Träume faszinieren Julika. Am Wochenende, wenn sie kein Wecker weckt und sie nach dem Aufwachen liegen bleiben kann, kann sie sich meistens an das erinnern, was sie geträumt hat, kann noch einen Zipfel des Traumgeschehens festhalten und dem nachspüren, was in ihrem Kopf vorgegangen ist. Sie versucht immer, sich einen Reim drauf zu machen, was ihr allerdings nur selten gelingt. Oft sind die Bilder so abstrus, die Ereignisse so eigenartig, dass Julika nicht draufkommt, was sie bedeuten könnten, was der Traum ihr sagen will, wenn er das denn überhaupt will. Denn Julika ist sich gar nicht sicher, ob Träume etwas bedeuten oder ob sie nicht einfach nur der Mülleimer der Seele sind, in den alles reingepackt wird, was einem zu schaffen macht. Dann wäre das Aufwachen die Löschtaste? Aber die Erinnerung an schlimme Erlebnisse lässt sich ja nicht so einfach auslöschen, sonst gäbe es ja keine Alpträume.
Unten klappt die Haustür. Das heißt, Sanya ist gekommen, Sanya, die Perle, die gute Seele des Hauses, jedenfalls sagt Oma das immer. Seit Julika auf der Welt ist, putzt Sanya bei der Familie Schaaf. Früher hat sie Julika und später auch Christian gehütet, wenn die Mutter arbeiten ging und der Vater auf Dienstreise war. Und wenn die Eltern abends ausgingen, hat Sanya die Kinder ins Bett gebracht und ist dageblieben, bis die Eltern zurück waren.
Julika und Christian lieben Sanya heiß und innig. Wenn sie da ist, scheint die Sonne. Sanya kann fröhlich sein wie sonst niemand, mit ihr gibt es immer was zu lachen – selbst wenn eigentlich Schimpfe angesagt wäre. Wenn die Kinder ihre Zimmer nicht aufgeräumt haben, so dass Sanya nicht richtig putzen kann, sind ihre Ermahnungen so witzig, dass sich die beiden sofort an die Arbeit machen und Besserung schwören. Wenn Christian ganz betrübt eine Vier nach Hause bringt, fragt Sanya ihn mit ernster Miene, ob es denn nicht zur Fünf gereicht hätte, und schon erhellt sich Christians Gesicht. Als die Kinder kleiner waren, nahm Sanya sie auf den Schoß, auch heute noch nimmt sie sie ganz selbstverständlich in die Arme, wenn sie Kummer haben. Sie hört ihnen immer zu, wenn sie was zu erzählen haben, und hilft ihnen suchen, wenn sie was verloren haben. „Kinderseele ist wichtiger als sauberer Fußboden“, sagt sie augenzwinkernd, wenn ihre Zeit nur noch zum Fegen und nicht mehr zum Wischen reicht.