Название | Der tote Rottweiler |
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Автор произведения | Heike Brandt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948675721 |
„Sag mal, weißt du eigentlich, was mit Christian ist?“, fragt ihr Vater, der Julikas Erstarren nicht wahrgenommen hat. „Er ist so still in letzter Zeit. Und er wollte keine Ente. Ist der jetzt etwa auch Vegetarier?“
Julika zuckt die Achseln.
„Mir hat er nichts gesagt.“
„Na ja, vielleicht brütet er was aus, er hatte ja Kopfschmerzen. Oder ist was in der Schule? Weißt du was?“
„Keine Ahnung. Frag ihn doch selber.“
Julika ist fünf Jahre älter als ihr Bruder, er ist versessen auf Computerspiele, sie nicht im Geringsten, er geht in den Schützenverein, sie auf keinen Fall. Es gibt nicht viele Gemeinsamkeiten. Wenn sie es sich genau überlegt, kennt sie ihren Bruder nicht besonders gut.
„Hab ich doch. Er weicht mir aus. Hat er eigentlich Freunde?“
Bin ich sein Vater oder du?, denkt Julika, antwortet aber:
„Weiß ich nicht. Auf dem Schulhof hängt er mit ein, zwei Nerds ab. Ich seh ihn nicht oft.“
„Und nachmittags?“
„Papa. Woher soll ich das denn wissen? Du gehst doch mit ihm in den Schützenverein. Und zu Hause zockt er, das weißt du doch. Hast ihm das neue Teil doch selber zum Geburtstag geschenkt. Wenn du öfter da wärst …“
Ihr Vater seufzt.
„Julika, das geht eben leider nicht. Ich kann mir das doch auch nicht aussuchen. Ich bin nun mal im Außendienst, das ist ein Superposten und ich verdiene gutes Geld damit. Dein Smartphone muss ja auch irgendwie bezahlt werden, oder?“
Darauf antwortet Julika nicht. Auf dieses Gespräch hat sie keine Lust. Was kann sie denn dafür, dass sie geboren wurde. Wer Kinder in die Welt setzt, muss auch für sie sorgen, oder?
„Oder, Julika?“, drängt ihr Vater.
Julika nickt, und ihr Vater hält das für Einverständnis.
„Mir gefällt mein Job.“
Er überlegt einen Moment und sagt dann mehr zu sich selbst als zu Julika:
„Wahrscheinlich muss ich den Jungen mehr rannehmen, damit er sich nicht so hängenlässt.“
Inzwischen haben sie den Friedhof und die Brücke über dem Fluss passiert, sind vorbei am gewaltigen, ehemaligen Kloster, dem Stadtmuseum und dem Industriegebiet zur Linken und dem Stadtzentrum zur Rechten, mit Kirche, Gymnasium, Kino, vielen mehrstöckigen Fachwerkhäusern und der Fußgängerzone mit diversen Geschäften. Die Straße windet sich wieder bergauf und wenige Minuten später hält der Wagen vor einem kleinen Holzhaus.
Onkel Justus, dessen Glatze immer glänzt, als hätte er sie frisch poliert, freut sich über den unverhofften Besuch, begrüßt erst seinen Jägerfreund Matthias überschwänglich mit Händedruck und Schulterklopfen und dann Julika mit dem Spruch:
„Meine Güte, was bist du groß geworden!“
Achselzuckend folgt Julika den beiden Männern auf die Terrasse hinter dem Haus, an deren Rückwand Jagdtrophäen hängen. Justus‘ Frau Beate serviert Bier, Limo und Knabberzeug und verzieht sich dann vor den Fernseher.
Justus hat Bello nicht gesehen, hat auch nicht gehört, dass jemand einen wildernden Hund erschossen hätte, möglich wäre es, sicher, aber das würde er erfahren – spätestens morgen, so lange müssten sie sich schon gedulden. Julika nimmt das erleichtert zur Kenntnis. Wenn Bello nicht sicher tot ist, lebt er.
Und schon ist das Thema Bello abgehakt. Das Gespräch der beiden Männer dreht sich nun um die Jagd. Im September sind alle Schonzeiten vorbei, und sie können wieder auf die Pirsch gehen.
Julika schaltet auf Durchzug, sie will nicht hören, wie sich die Männer darüber austauschen, wie man am schönsten, am aufregendsten, am effektivsten mordet. Für Julika ist das Mord, was die Jäger betreiben, denn es ist Mord, wenn jemand heimtückisch, aus Lust oder aus anderen niedrigen Beweggründen tötet, so haben sie es neulich in der Schule besprochen. Das bezog sich natürlich auf das Töten von Menschen.
Aber trotzdem: Jäger töten Wild, weil es ihnen Freude macht, weil sie sich an ihrer Macht über Leben und Tod berauschen, und sie tun es heimtückisch, denn sie verstecken sich feige auf Hochsitzen und locken ihre Opfer mit Futter oder Salzsteinen an. So sieht Julika das, auch wenn die Jäger etwas völlig anderes sagen und alle möglichen Argumente auffahren, um zu erklären, warum die Jagd etwas Edles, dem Menschen als Naturtrieb Innewohnendes und zudem eine Pflicht zur Schonung der Umwelt wäre, der sie nachkommen müssten.
Julika erinnert sich noch sehr gut daran, wie ihr Vater sie das erste Mal mit zur Jagd nahm, weil sie so sehr gedrängelt hatte, unbedingt mit wollte auf einen Ausflug mit Onkel Justus, und weil ihr lieber Papa seiner kleinen Prinzessin keinen Wunsch abschlagen konnte, obwohl seine Frau meinte, Julika sei dafür noch zu klein. Fand Julika natürlich überhaupt nicht, auch ihr Vater hatte nur abgewinkt und gesagt, wer weiß, vielleicht kriegen wir ja gar nichts vor die Flinte.
Der glitzernd grüne Wald so früh am Morgen war atemberaubend schön. So wie sein Bewohner, das Reh. Nur durfte das nicht einfach atemberaubend schön bleiben, das Reh musste erschossen werden.
Ihr Vater, Onkel Justus und Julika waren im Dunkeln aufgebrochen. Es dämmerte, als sie mucksmäuschenstill auf dem Hochsitz saßen, beide Männer mit dem Gewehr im Anschlag. Langsam wurde es ringsum hell und lebendig. Sie warteten. Und warteten. Julika wäre beinahe eingeschlafen.
Doch auf einmal stupste ihr Papa sie mit dem Ellbogen an und deutete nach rechts, zum Salzstein. Mit den ersten Sonnenstrahlen trat anmutig ein Reh auf die Lichtung, blickte sich mit seinen großen Augen um, sicherte aufmerksam und wollte gerade den Kopf zum Grasen neigen, da krachte es neben Julika, so dass sie meinte, ihr fliegt der Kopf ab, und im selben Augenblick brach das Reh zusammen, fiel zu Boden, zuckte noch einmal und blieb dann reglos liegen. Tot. Einfach so.
Julika war fassungslos, außer sich. Sie explodierte förmlich, schrie in die Waldesstille, trommelte wütend auf ihren Vater ein, obwohl nicht er geschossen hatte, sondern Onkel Justus. Sicher gab es Erklärungen wie „Wir haben dir doch gesagt, was geschehen wird“, beruhigende Worte wie „Kind, wir müssen doch den Wald schützen“, einen schnellen Heimweg und „Um das Reh kümmern wir uns später“, so wird es jedenfalls erzählt, aber Julika erinnert sich an nichts, was nach dem Knall, nach dem Umfallen, nach dem Zucken kam. Die Ohnmacht hingegen, der beißende Schmerz, der ihr in jede Faser ihres Körpers gekrochen war, der flammende Zorn auf die beiden Erwachsenen, die so etwas Entsetzliches tun konnten, diese Gefühle sind ihr alle noch so präsent, als wäre das erst gestern geschehen.
Seitdem will Julika mit Schießen nichts mehr zu tun haben. Deswegen weigert sie sich bis heute, in den Schützenverein zu gehen und Schießen zu lernen.
Justus ist kurz ins Haus gegangen und kommt mit einem Gewehr mit aufmontiertem Zielfernrohr zurück. Fast zärtlich legt er das Teil vor Julikas Vater auf den Tisch und sagt:
„Guck dir das mal an. Hab ich gerade gekauft. Edel, oder?“
Julikas Vater nimmt das Gewehr hoch, fährt mit der Hand über den braunen Holzschaft und betrachtet es von allen Seiten.
„Schon. Aber nicht von uns. Unsere sind besser.“
„Musst du ja sagen“, lacht Justus. „Stimmt aber nicht, guck mal, allein das Gewicht …“
Julika will das nicht hören. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, egal, ob ihrem Vater das jetzt passt oder nicht. Postet eine Suchanzeige für Bello und bei ihrer Klassengruppe. Findet eine Nachricht von Clara. Endlich. Ein Foto von ihr mit ein paar Leuten auf einer breiten Holztreppe, einer Art Terrasse, Clara in der Mitte, alle mit dem V-Zeichen. Chillen im Möckernpark. Wish you were here.
O Mann.
Julika seufzt. Das sieht so cool aus.
Sie