Der tote Rottweiler. Heike Brandt

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Название Der tote Rottweiler
Автор произведения Heike Brandt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948675721



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wir?“

      Manuel nickt, Amal nickt. Natalie stülpt sich die Kopfhörer über, Bobi stellt sich hinter die Kamera und fragt, wer anfangen will. In dem Moment stellt der Nachbar seinen Rasenmäher an. Alles auf Stopp. Aber noch ehe sie sich richtig ärgern können, ist es schon wieder vorbei. Natalie meint trocken:

      „Die sind echt wie Wunderkerzen: Anstecken, abbrennen, fertig“, und setzt ihre Kopfhörer wieder auf.

      Aber es ist noch nicht vorbei, der Nachbar auf der anderen Seite muss erst von Natalie begrüßt werden und danach dringend drei Hölzer schreddern, so dass sie wieder warten. Genau wie die Kinder am Zaun, die neugierig zur Kamera rübergucken und denken, das Fernsehen wäre da. Zum Glück sind die Kinder weit genug weg und werden gehen, wenn’s langweilig wird. Und das wird es sicher bald, denn vom Zaun aus können sie nichts hören, auch nicht, als der Schredderer endlich fertig ist.

      Manuel will anfangen, damit er es schnell hinter sich hat. Er drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus, setzt sich breitbeinig auf den Stuhl und fährt sich mit beiden Händen durch die halblangen, rötlichbraunen Haare. Er benetzt die Lippen mit der Zunge, beißt sich auf die Unterlippe, kneift seine blitzblauen Augen zu und reißt sie auf, sagt aber nichts, bringt keinen Ton heraus.

      „Hallo?“, sagt Natalie und schwenkt das Mikro vor ihm hin und her. „Kann losgehen!“

      Amal hebt die Hand, Natalie schwenkt das Mikro zu ihr, und Amal sagt:

      „Manuel, du kannst das! Erzähl doch erst mal was von dir, so wollten wir doch anfangen.“

      Erwartungsvolles Schweigen.

      Endlich macht Manuel den Mund auf, bringt aber nur ein wütendes: „Scheiße, nein, kann ich nicht“, heraus und springt auf.

      „Mach du erst mal, Amal.“

      „Gut.“

      Amal nimmt seinen Platz ein, ruckelt sich zurecht, bis sie bequem sitzt, und legt die Hände auf dem Schoß zusammen. Bobi betrachtet sie im Display seiner Kamera und bemerkt verblüfft, dass ihm noch nie aufgefallen ist, wie rund alles an ihr ist, der Kopf, das Gesicht, das Grübchen in der linken Wange, der Leberfleck unter dem linken Auge, die Nase, das Kinn, die Fingerkuppen. Nur ihre Haare, die sind borstig und kurz. Eigenartiger Gegensatz. Ihre Haut ist ockerfarben, die Haare sind blauschwarz, die Augen rabenschwarz, die dunklen Wimpern ewig lang und seidig. Die Augenbrauen sehen aus wie mit Kohle gezeichnet. Bobi sorgt dafür, dass ihr Grübchen gut ins Bild kommt, wenn es sich zeigt. Denn das gefällt ihm so gut, dass er sich glatt reinfallen lassen könnte.

      „Also“, fängt Amal an, ihre Stimme ist leise aber fest. „Ich heiße Amal, bin sechzehn Jahre alt und gehe in die zehnte Klasse. Ich will Industriekauffrau werden, weil … keine Ahnung, wahrscheinlich, weil ich schon einen Ausbildungsplatz hab. Genau. Und, das ist total cool, weil ich … dann kann ich Geld verdienen …, weil, egal. Bloß … also ich …“

      Sie zögert, hält inne, streicht sich mit der Hand über den Kopf, will weiterreden, unterbricht sich aber selbst mit einem energischen:

      „Egal.“

      Bevor jemand nachfragen kann, spricht sie schnell weiter:

      „Genau. Also der Beruf, den ich will, der muss was mit Zahlen zu tun haben. Zahlen mag ich. Zahlen sind so klar, so eindeutig, da kann man nix dran drehen. Mit Zahlen kann man viel ausdrücken, und manchmal geht das schneller als mit Worten. Zahlen sind überall und für alle gleich. Zehn ist zehn ist zehn. Klar, zehn kann viel sein oder auch wenig, je nachdem, wofür die Zehn steht. Das muss man natürlich definieren. Bilder und Wörter kann man immer so oder so sehen, Zahlen nicht. Zahlen sind verlässlich. Ich glaube, verlässlich sein ist für mich was ganz Wichtiges.“

      Sie lächelt verlegen. Sie sieht dabei aber nicht unsicher aus, findet Bobi, sondern tatsächlich: verlässlich.

      „Na ja. Und das mit dem Projekt, also ich … ich bin wegen Krieg hier. Meine Eltern kommen aus Jugoslawien, also so hieß das früher, das gibt‘s ja nicht mehr. Meine Mama ist Bosniakerin, mein Papa Serbe, die Familie von meiner Mama muslimisch, die von meinem Papa serbisch-orthodox. War aber meinen Eltern egal, denn die sind nicht religiös, beide nicht, die waren nie in der Moschee oder in der Kirche, mein Papa ist nicht mal getauft. Aber dann kam der Krieg und Jugoslawien ging kaputt, oder Jugoslawien ging kaputt und der Krieg kam, keine Ahnung, jedenfalls war’s auf einmal wichtig, wer Serbe war oder Bosniake oder Kroate oder Muslim oder orthodox oder katholisch oder was weiß ich.“

      Sie schiebt die Hände unter die Beine und guckt auf den Boden, so dass ihr Gesicht nicht mehr zu sehen ist. Bobi will gerade mit den Fingern schnipsen, da blickt sie schon wieder hoch und redet weiter. Jetzt sehr ernst. Ihre dunklen Augen schimmern. Ihre Stimme wird leiser, Natalie verstellt was an ihrem Aufnahmegerät.

      „Alles wurde anders. Viel weiß ich nicht, weil … meine Eltern reden nicht darüber. Papa wollte nicht Soldat sein, wollte nicht auf seine Verwandten und Freunde schießen, bloß weil die auf einmal Feinde sein sollten. Er ist erst untergetaucht und dann abgehauen, nach Deutschland, zu Verwandten. Hat Asyl gekriegt, war aber schwer. Mama war schwanger mit meinem Bruder und ist später nachgekommen, mit dem Baby, das muss schlimm gewesen sein, aber auch sie redet nicht. Wenn ich sie frage, lacht sie und nimmt mich in die Arme und sagt: ‚Das ist vorbei, Kind, wir leben, und wir leben gut, und wir haben noch dich dazubekommen, mein Herzblatt, was wollen wir mehr?‘ Aber ich weiß, dass hinter ihrem Lachen eine Trauer wohnt. Ihr Papa ist getötet worden, damals, und ihr Bruder auch. Viele sind erschossen worden, ganz viele. Zum Glück lebt ihre Mama noch, und wir können sie in den Ferien besuchen, im Dorf. Jetzt ist ja kein Krieg mehr.“

      Sie atmet einmal tief durch. Niemand sagt etwas. Das müssen sie erst mal verdauen. In der Schule hat Amal noch nie darüber gesprochen. Bobi stellt fest, dass er eigentlich sehr wenig von den anderen weiß. Dabei hocken sie jeden Tag viele Stunden im selben Raum, seit Jahren schon. Merkwürdig.

      Natalie hebt die Hand, hält sich das Mikro vors Gesicht und fragt:

      „Erzählt deine Oma dir was?“

      „Ja, aber nur von früher, von vor dem Krieg. Vom Krieg selber nicht. Sie sagt, das will ich gar nicht hören. Und sie will es vergessen.“

      „Ist vielleicht besser“, murmelt Manuel und steckt sich eine neue Zigarette an.

      „Ich weiß nicht“, meint Amal. „Wenn alle immer schweigen, ändert sich doch nix. Dann fängt alles immer wieder von vorne an.“

      Sie zieht die Stirn kraus.

      „Jedenfalls will ich deswegen bei dem Projekt mitmachen. Wenn die Waffen nicht gewesen wären, wäre das vielleicht alles nicht passiert, oder? Das will ich rauskriegen. So, das reicht – wer will jetzt?“

      Sie steht vom Stuhl auf, nimmt sich einen Apfel vom Tisch und schnuppert daran, bevor sie reinbeißt. Das Apfelgrün passt gut zu ihrem Gesicht, stellt Bobi fest.

      „Schön“, sagt Natalie und drehte an ihren Knöpfen. „Manuel? Du jetzt? Oder du, Bobi?“

      „Okay, ich probier’s“, sagt Manuel.

      Er pflanzt sich auf den Stuhl, legt den Kopf zur Seite, wirft die Haare aus dem Gesicht, räuspert sich dreimal, lässt alle Finger einzeln knacken, schlägt ein Bein übers andere, lässt sich im Stuhl so tief runterrutschen, dass sein Gesicht aus dem Display zu verschwinden droht. Aber dann kriegt er sich ein, stellt die Füße nebeneinander, richtet sich auf, guckt in die Kamera und legt los:

      „Ich heiße Manuel, bin sechzehn Jahre alt, gehe in die zehnte Klasse Realschule. Schule find ich blöd, aber ohne Abitur kann man nix werden, das hab ich jetzt kapiert, und deswegen will ich‘s aufs Gymnasium schaffen.“

      Er kneift die Augen zusammen.

      „Auch wenn alle ‚Streber‘ sagen. Is mir egal. Ich will Tierarzt werden. Erstens, weil ich das mag, so mit Tieren was machen. Ich finde das total geil, wenn ich es schaffe, einem Riesenköter einen Dorn aus der Pfote zu pulen, und der frisst mich nicht auf.“

      Er