Der tote Rottweiler. Heike Brandt

Читать онлайн.
Название Der tote Rottweiler
Автор произведения Heike Brandt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948675721



Скачать книгу

auf die Lehne des Stuhles vor sich und blickt ratlos in die Runde.

      Der Vater hört auf zu schneiden, Christian senkt den Kopf und schaukelt nervös mit den Beinen, Julika zupft sich am rechten Ohrläppchen.

      Am schnellsten fasst sich Julikas Vater.

      „Wie kann denn das sein? Hast du ihn etwa von der Leine gelassen? Du weißt doch genau, dass du das nicht sollst.“

      Das klingt empört, aber auch ein bisschen sachlich, fast so, als wolle er einen Schlusspunkt setzen und damit das Unmögliche ungeschehen machen.

      „Geht’s noch? Bevor du weißt, was passiert ist, machst du mir schon Vorwürfe?“, schnaubt Julikas Mutter und macht eine wegwerfende Geste.

      „Aber was ist denn nun passiert, Mama? Wieso ist Bello weg?“, fragt Julika schnell, damit ihre Eltern nicht in den Streitmodus fallen, der immer mit solchen Sätzen beginnt, und es plötzlich nicht mehr um Bello, sondern um was ganz anderes geht.

      Christian hebt den Kopf, so dass ihm seine glatten blonden Haare schräg ins Gesicht fallen, und blickt gespannt auf seine Mutter.

      „Also“, sagt sie und holt tief Luft. „Wir waren schon aus dem Wald raus, waren am Parkplatz vorm Schützenhaus, da steigt Nadine aus ihrem Auto. Ich bleib also stehen, wir begrüßen uns und so, und Bello zieht und zerrt an seiner Leine. Keine Ahnung, was den geritten hat, jedenfalls hat er mich genervt und ich will ihn losmachen, da rast er schon los, die Leine im Schlepptau. Wir waren ja nicht mehr im Wald.“

      Bedeutungsvoller Blick zu Julikas Vater.

      „Und?“, sagt der und will Christian einen Entenschlegel auf den Teller legen. Christian aber schüttelt vehement den Kopf. Sein Vater stutzt einen Moment, legt den Schlegel dann sich selbst auf den Teller.

      „Nichts und. Das war’s. Nadine geht ins Vereinsheim, ich will los und pfeif nach Bello, mehrmals, aber wer nicht kommt, ist Bello. Ich guck mir die Augen aus dem Kopf, rufe, pfeife, geh über die Wiese, denke, vielleicht steckt der in einem Kaninchenloch und kommt nicht wieder raus. Aber nix da. Hinter der Wiese ist ja der Stacheldrahtzaun vom Vereinsgelände, da konnte er nicht weiter.“

      „Vielleicht ist er zurück in den Wald?“, fragt Julika. „Vielleicht hat er eine Spur verfolgt?“

      Ihre Mutter hebt die Arme, als wolle sie ihre Unschuld beschwören.

      „Ich weiß es nicht. Ich bin den Weg ein ganzes Stück zurückgelaufen, hab gepfiffen und gerufen, immer wieder. Bin ums Schützenhaus rum, hab alle Leute gefragt, die ich getroffen hab. Nichts, niente. Kein Bello. Ich versteh das nicht.“

      „Das kann doch nicht sein. Bello läuft nicht weg. Hat der noch nie gemacht“, sagt Julikas Vater kopfschüttelnd. „Aber du hättest ihn nicht laufen lassen sollen, das hab ich dir schon hundertmal gesagt. Wenn der ein Kaninchen in der Nase hat … Willst du Brust oder Keule?“

      Doch Julikas Mutter will erstmal duschen und läuft flink die Treppe hinauf.

      „Jetzt esst doch, Kinder. Der Bello kommt schon wieder. So ein großer Hund verschwindet nicht einfach spurlos“, sagt Julikas Vater aufmunternd und geht mit gutem Beispiel voran. Seinem Sohn hat er inzwischen Erbsen, Reis und Soße aufgetan. Christian stochert lustlos im Essen herum, schiebt aber ab und zu einen Happen in den Mund.

      „Immer noch Kopfschmerzen?“, fragt sein Vater mit sanfter Stimme und blickt ihn besorgt an.

      „Geht“, antwortet Christian ohne aufzublicken.

      „Wenn das öfter vorkommt, musst du zum Arzt. Du musst doch trainieren fürs Schützenfest, Ausfälle wie heute kannst du dir nicht oft leisten. Jedenfalls nicht, wenn du auf dem Treppchen stehen willst – und ich glaub, diesmal kann das klappen! Glaub mir!“

      Seine Stimme glänzt wie die Entenkruste.

      „Ja, klar“, murmelt Christian, nicht sehr überzeugend. Aber sein Vater dringt nicht weiter in ihn, sondern konzentriert sich auf den Entenschlegel auf seinem Teller.

      Julika holt sich Mango-Chutney aus dem Kühlschrank, für den Reis. Die Entensoße rührt sie nicht an.

      Julika war sieben, als die Familie in das neue Haus einzog und der Hund angeschafft wurde, ein reinrassiger Rottweilerwelpe, aus dem zweiten Wurf, Bomber. Julika sagte von Anfang an nur Bello zu ihm, und dabei blieb es. Denn der Rottweiler war nicht nur als Wachhund gedacht, sondern auch als Trost für Julika, die sich mit Leibeskräften gegen den Umzug gesperrt hatte. Sie wollte in ihrem alten vertrauten Haus in der Werksiedlung auf dem Hügel bleiben, wo auch die Urgroßeltern wohnten und alle Kinder, mit denen sie zusammen eingeschult worden war. Auf keinen Fall wollte sie dort weg, auf die andere Seite des Tales, auf eine neue Schule, wo sie niemanden kannte.

      Der kleine, tolpatschige Welpe, mit dem Julika dann im großen Garten herumtollen durfte, war zwar kein Ersatz für all das, was sie nicht mehr hatte, half ihr aber doch über den größten Schmerz hinweg. Das Beste war, dass sie den Hund nicht mit ihrem Bruder Christian teilen musste, denn dem Zweijährigen war dieses hüpfende Fellknäuel äußerst unheimlich. Julikas Vater war das unbegreiflich. Vor allem, wenn ein Hund gut dressiert war, wofür er natürlich sorgte.

      Der Hund lernte schnell, die gängigen Kommandos zu befolgen. Das klappte meistens auch bei Julika. Wenn sie „Aus!“ rief, rückte Bello den Ball raus, den er brav apportiert hatte. Aber den kleinen Christian nahm er nicht für voll. Wenn der ungeschickt nach seinem Spielzeug grabschte, brauchte Bello nur dumpf zu grollen, schon ließ Christian von ihm ab. Jedes Mal beschwor ihn sein Vater, erst „Aus!“ zu sagen und dann zuzugreifen. „Nicht der Hund hat einen Fehler gemacht, sondern du!“ Aber das begriff Christian damals nicht. Und später interessierte es ihn nicht mehr.

      Christian mag Katzen. Seit die Katze der Nachbarinnen Junge bekommen hat, geht er oft in deren Garage, die sie als Werkstatt eingerichtet haben, und spielt mit den Katzenbabys. Außerdem macht er da auch irgendwas mit Holz, jedenfalls hat Julika ihn einmal an der Werkbank arbeiten sehen, als das Garagentor offenstand.

      Gleich nach dem Essen will Julikas Vater nach Bello suchen. Julika fährt mit, keine Frage. Wenn es um Bello geht, ist sie mit ihrem Vater einer Meinung, immer. Ihr will genauso wenig wie ihm in den Kopf, dass der Hund einfach so verschwinden konnte; Bello ist keiner, der wegläuft. Irgendwas muss geschehen sein.

      Es ist noch hell draußen, ein lauer Sommerabend, mit dem Auto sind sie schnell beim Schützenhaus. Von dort aus fährt Julikas Vater in den Wald hinein, obwohl der Weg für Autos gesperrt ist. Er fährt langsam, mit offenen Fenstern, und alle paar Meter ruft oder pfeift er. Er guckt nach links, Julika nach rechts.

      Vergeblich.

      Nach zwei Kilometern geben sie auf und fahren zurück; es dämmert schon, im Wald sehen sie nichts mehr. Bleibt noch das Gelände um das Schützenhaus. Sie gehen den Stacheldrahtzaun ab, suchen nach Fellresten, suchen nach Kaninchenlöchern, in denen Bello gebuddelt haben mag, denn das liebt er, wenn man ihn lässt. Dabei spitzen sie die Ohren und lauschen nach Geräuschen, nach leisem Winseln oder Bellen.

      Aber sie finden ihn nicht.

      Als sie wieder im Auto sitzen, meint Julika:

      „Und wenn ihn nun der Förster erschossen hat? Oder ein Jäger?“

      Sie spürt, wie sich in ihrem Bauch ein Knäuel bildet. Bis eben hat sie noch gedacht, wir suchen, wir finden und gut. Aber wenn Bello nun tot ist?

      Für einige Augenblicke hängen Julika und ihr Vater schweigend ihren Gedanken nach, dann lässt der Vater den Motor an und sagt:

      „Weißt du was, wir fahren mal bei Justus vorbei. Vielleicht weiß der was.“

      Julika nickt. Sie könnten ja auch anrufen, aber im Auto zu sitzen und unterwegs zu sein fühlt sich besser an, als untätig auf irgendeine Information zu hoffen.

      Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, will eine Nachricht an ihre Klasse schicken, ist ja möglich, dass jemand Bello gesehen hat. Doch kaum hat sie das Gerät vor sich, legt ihr Vater seine Hand darauf und sagt:

      „Lass