Название | Der tote Rottweiler |
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Автор произведения | Heike Brandt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948675721 |
Als sie um die erste Ecke biegt, taucht plötzlich ein Fahrrad vor ihr auf. Vor Schreck bremst Julika so scharf, dass sie beinahe über den Lenker schießt, kann sich aber gerade rechtzeitig fangen. „Boah eh!“, stößt sie wütend hervor und stellt einen Fuß auf den Boden.
Die Fahrerin des anderen Rades, ein Mädchen in Julikas Alter, mit schwarzen, stoppelkurzen Haaren, hat auch scharf gebremst, springt lachend ab und sagt:
„Uups! Sorry! Das war knapp! Jetzt hätte ich dich beinahe umgefahren.“
Bevor Julika noch irgendwie darauf reagieren kann, ruft das Mädchen voller Freude:
„Hier ist es ja! Super.“
Sie schiebt ihr Rad auf den Bürgersteig, lehnt es an den recht wackeligen, verblichenen Jägerzaun des Eckgrundstücks und zeigt auf ein helles Schild zwischen wild wuchernden Büschen: Mahnmal gegen Krieg und Faschismus.
Die Fröhlichkeit des Mädchens und die Neugier auf dieses ungewöhnliche Schild lassen Julikas Wut im Nu verpuffen. Auch sie schiebt ihr Rad auf den Bürgersteig und stellt sich neben das Mädchen.
Links neben dem Schild stehen zwei große, fast ins Gestrüpp eingewachsene Steinbrocken mit reichlich verwitterten Holztafeln daran. Die Inschriften sind aber noch gut zu lesen:
Zur Erinnerung an die fremden Zwangsarbeiter im Krieg 1939-45.
Während des Zweiten Weltkrieges mussten weit über 5000 ausländische Männer und Frauen Zwangsarbeit in der hiesigen Rüstungsindustrie leisten. Über 300 kamen dabei ums Leben. Eines der zahlreichen Lager mit über 2000 Zwangsarbeitern wurde „Russenlager“ genannt. Es befand sich etwa 250 m von hier entfernt.
POLEN RUSSEN FRANZOSEN HOLLÄNDER BELGIER TSCHECHOSLOWAKEN UND ANDERE.
„Hast du das gewusst?“, fragt das Mädchen Julika und guckt sie dabei so eigenartig an, dass Julika nervös wird.
Was soll das? Was will die von ihr?
„Nein“, antwortet sie abwehrend. „Das wusste ich nicht. Ich sehe das zum ersten Mal.“
Dann fällt ihr Blick auf den Namen der Firma, für die diese Menschen arbeiten mussten. Es ist das Werk. Da sind ihre Eltern angestellt, genau wie ihr Opa und ihr Uropa früher. Weiß das Mädchen das?, überlegt Julika. Guckt sie mich deswegen so schräg an?
„Ich glaub, ich kenn dich“, sagt das Mädchen zögernd. „Du bist doch Julika, oder?“
„Äh, ja“, sagt Julika zögerlich. „Wieso? Und wer bist du?“
„Amal. Meine Mutter putzt bei euch.“
„Oh.“
Die Tochter von Sanya. Dass Sanya Kinder hat, weiß Julika, sie hat sie sicher auch schon mal gesehen, aber erkannt hätte sie Amal nicht. Obwohl ihr jetzt auffällt, wie ähnlich sie ihrer Mutter sieht – ihr Gesicht ist genauso rund und freundlich wie Sanyas, und sie hat das gleiche lustige Grübchen. Nur sind Amals Haare kohlschwarz und ganz kurz.
„Und – was machst du hier? Wohnt ihr hier?“, fragt Julika und stellt dabei fest, dass sie keine Ahnung hat, wo Sanya wohnt. Sie war noch nie bei ihr zu Hause.
„Nein, nein“, erwidert Amal. „Wir wohnen in den Hochhäusern auf der anderen Seite vom Fluss. Ich bin hier, weil wir ein Projekt für die Schule machen. Da geht’s um Waffen – Frieden schaffen ohne Waffen. Und ich habe gedacht, ich fang mal mit der Rüstungsindustrie hier bei uns an, wo so viele aus der Stadt arbeiten. Deine Eltern doch auch“, sagt Amal.
„Ja“, antwortet Julika verwundert.
Worauf will die hinaus?, überlegt sie.
„Genau.“
Amal blickt nachdenklich auf den Stein.
„Fünftausend Zwangsarbeiter, dreihundert Tote. Krass, oder?“
Julika nickt.
„Und ich soll auch da …“, sagt Amal und atmet durch. „Also … deine Mutter, die hat mir einen Ausbildungsplatz im Werk besorgt, fürs nächste Jahr, als Industriekauffrau. Und das ist total wichtig, weil, also …“
Sie bricht ab und zieht die Augenbrauen hoch.
„Und wo ist das Problem?“, fragt Julika.
„Na ja. Erst fand ich das ja auch super, weil, mein Vater …“
Sie zögert wieder und setzt noch mal neu an:
„Egal, ich will Geld verdienen, wenn ich mit der Schule fertig bin, und ich will einen guten Beruf haben. Und ich glaub schon, dass mir Industriekauffrau Spaß macht. Aber jetzt … Ich meine, im Werk produzieren die ja nicht irgendwas. Sondern Waffen.“
„Ja klar“, sagt Julika. „Seit zweihundert Jahren. Und richtig gute. Die ganze Welt kauft bei uns ein.“
Kaum haben die Worte ihren Mund verlassen, denkt Julika: Warum sage ich das? Ich klinge genau wie Papa.
Amal nickt energisch.
„Genau. Und mit den Waffen wird Krieg gemacht. Will ich das? Also ich meine, will ich da mitmachen? Und das tue ich doch, wenn ich da arbeite, oder?“
„Musst du wissen“, murmelt Julika.
Das geht ihr jetzt alles viel zu schnell. Zudem ist ihr völlig unklar, wie jemand mit siebzehn Industriekauffrau werden wollen kann. Das klingt in ihren Ohren sowas von öde, egal, in was für einem Betrieb. Nicht ihre Welt.
„Sicher“, sagt Amal. „Bloß – ich weiß es eben nicht.“
Julika guckt auf die Uhr. Halb vier. Spätestens um vier wird sie bei Opa erwartet.
„Von dem Denkmal hier hat mir eine alte Frau aus unserem Haus erzählt“, erklärt Amal, ohne auf Julika zu achten. „Das haben Privatleute gemacht, gleich nach dem Krieg, auf ihrem Grundstück, weil die Stadt es woanders nicht erlaubt hat. Die Stadt wollte überhaupt kein Denkmal, auf keinen Fall, nirgends, hat die Frau gesagt. Niemand wollte sich an die Verbrechen der Nazis erinnern oder womöglich daran erinnert werden. Ist ja allen immer gut gegangen mit dem Werk, hat sie gesagt.“
Amal zieht ihr Handy aus der Tasche und fotografiert.
„Außer denen, die mit den Waffen umgebracht wurden, denke ich mal. Und den Zwangsarbeitern, natürlich“, fügt sie hinzu, nachdem sie das Foto gemacht hat.
„Wo soll das Lager denn gewesen sein?“, fragt Julika.
Ihr will das alles gar nicht so recht in den Kopf. Ringsum sieht sie nur Einfamilienhäuser mit schmucken Gärten, über die jetzt dunkle Schatten grauer Wolkenbänke ziehen.
„Da hinten“, sagt Amal und zeigt auf eine Wiese am Ende der Straße. „Da ist noch ein Mahnmal, das hat die Stadt machen lassen, vor ein paar Jahren, hat die Frau gesagt. Auf einmal! Über siebzig Jahre später!“
Amal nimmt ihr Rad, schwingt sich drauf und meint:
„Ich guck mir das an. Kommst du mit?“
„Okay. Ich mach nur noch schnell ein Foto.“
Als sie sich der Wiese nähern, sehen sie in deren Mitte ein gepflastertes, aus mehreren runden Steinblöcken umfasstes Rund mit einer gewaltigen, aufrechtstehenden Platte in der Mitte. Von weitem sieht es aus wie ein riesiges Buch.
Und das soll es auch sein. Vorne drauf steht Buch der Erinnerung, Zwangsarbeit von 1939-1945. Die Seiten bestehen aus mehreren beweglichen grausilbernen Metall-Tafeln, auf die jede Menge Informationen eingraviert sind.
Beide Mädchen stellen sich davor und lesen stumm. Von 1940 bis 1945 waren mindestens zwölftausend Menschen aus ihren von der deutschen Wehrmacht besetzten Heimatländern hierher verschleppt worden. Ohne diese Zwangsarbeiter wäre die Produktion im Werk und in den