Название | Der tote Rottweiler |
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Автор произведения | Heike Brandt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948675721 |
„Das ist doch Wahnsinn, oder?“, sagt Amal. „Ich meine, die Leute, die mussten Waffen herstellen, damit deutsche Soldaten Leute in ihrer Heimat damit umbringen konnten! Wie krank ist das denn? Wie haben diese Menschen das bloß ausgehalten?“
Julika hat das Gefühl, in ihrem Kopf ist ein Sturm ausgebrochen. Ihr Blick bleibt an den Namen der Menschen hängen, die im Lager gestorben sind.
„Wasili Kurtschuwi“, liest sie laut. „Guck mal, der ist nur siebzehn geworden, so alt wie ich jetzt bin.“
Sie versucht sich vorzustellen, wie das wäre, wenn sie in ein fremdes Land verfrachtet werden würde und dort von morgens bis abends in einer Fabrik schuften und als Gefangene in einem Barackenlager leben müsste.
Niemals würde sie das durchhalten.
„Sogar Kinder sind im Lager geboren …“, sagt Amal, „… und gestorben: Anatoli, Wanda, Tamara, Fernando, Lydia …”
Sie zählt stumm weiter.
„Einundvierzig. Manche haben noch nicht mal einen Vornamen bekommen.“
„Mein Opa Gunter ist zu der Zeit geboren, im Krieg. Auch hier im Ort. Aber nicht im Lager. Und er lebt noch“, sagt Julika tonlos. „Ich geh gleich zu seinem Geburtstag.“
Amal betrachtet jetzt die Karte, auf der alle Lager eingezeichnet sind. Zwölf hat es im Ort gegeben, aber Spuren davon gibt es so gut wie keine mehr.
Als die beiden Mädchen alles durchgelesen und angeguckt haben, setzen sie sich auf zwei der Granitsteine und sagen eine Weile lang gar nichts.
Julika ist unbegreiflich, wieso sie bis jetzt nichts von den Zwangsarbeitern gewusst hat. Das hätten sie doch in Geschichte machen müssen. Was für ein ungeheuerliches Verbrechen! Einfach Menschen verschleppen und für sich schuften lassen. Wie Sklavenhalter. Julika ist die freundliche Wiese mit dem idyllischen Fluss dahinter auf einmal unheimlich. Als säßen sie auf einem Friedhof.
„Wo sind die Gestorbenen eigentlich begraben?“, sagt sie schließlich. „Davon steht nichts auf den Tafeln.“
„Stimmt. Und wie sah das hier aus früher? Baracken mit einem Zaun drum herum? Mit Wachen? Und Strammstehen?“, fragt Amal. „Waren die Häuser hier schon da?“
„Und was haben die Leute hier darüber gedacht? Das Lager war doch nicht zu übersehen“, meint Julika. „Und die aus den Lagern mussten ja irgendwie in die Fabriken kommen, also sind sie durch die Straßen gelaufen oder sind gefahren worden. Das müssen doch alle gesehen haben!“
„Bestimmt“, meint Amal. „Das müssen alle gewusst haben! Aber hätten sie was dagegen machen können?“
„Keine Ahnung“, meint Julika. „Vielleicht nicht, vielleicht hatten sie Angst, selber ins Lager zu kommen. Also ich glaub, das war nicht so unrealistisch. Aber …“
Julika fährt sich mit den Zähnen über die Lippen.
„Aber wer sagt denn, dass sie was dagegen machen wollten? Vielleicht fanden die es ja gut?“
„Meinst du?“, fragt Amal skeptisch. „Und haben erst nach dem Krieg gemerkt, was sie eigentlich gemacht haben?“
Julika zuckt die Achseln.
„Ja, kann doch sein“, meint Amal. „Und dann war denen das nach dem Krieg so total peinlich, dass sie nicht drüber reden konnten und alles ganz schnell vergessen wollten? Meine Eltern reden auch nicht über den Krieg.“
„Weil es ihnen peinlich ist?“
„Nee, das nicht, stimmt. Okay, dann haben sich die Leute hier vielleicht schuldig gefühlt? Waren sie ja auch irgendwie, oder?“
„Weiß ich nicht, doch, schon, keine Ahnung. Aber trotzdem, als es vorbei war mit den Nazis, nach dem Krieg – wie konnten die dann einfach so weiterleben, einfach alles wegschieben und vergessen und so tun, als wär nichts gewesen? Mein Uropa, der muss das doch alles mitgekriegt haben, der hat doch im Krieg in der Firma gearbeitet!“
Julika hat das Gefühl, eine Lawine rollt auf sie zu.
„Frag ihn doch!“, sagt Amal.
Sie zupft zwei Grashalme ab, legt sie zwischen die Finger und bläst Luft durch. Erst jagt sie einen schrillen Pfiff über die Wiese, dann variiert sie die Töne, so dass es beinahe melodisch klingt. Julika zieht auch zwei Halme aus dem Boden und lässt sich von Amal zeigen, wie’s geht. Ist gar nicht so schwer, ein paar Mal üben und Julika hat es raus.
Dann pfeift ihr Handy. Eine Nachricht von ihrem Vater.
„Wo bleibst du?“
„Ich muss los“, sagt sie zu Amal und fügt hinzu: „Meinen Uropa kann ich nicht mehr fragen. Der ist tot. Aber ich frag seinen Sohn, meinen Opa.“
Julika schnappt sich ihr Rad.
„Bist du auf Facebook?“, fragt Amal.
„Ja. Julika Schaaf. Schick mir `ne Freundschaftsanfrage!“
„Okay.“
Julika steigt auf, winkt Amal zu und fährt los.
Vor dem Haus von Julikas Opa und Oma, einem rechteckig geschnittenen, aus gelben Ziegeln gemauerten Flachbau in einem Meer von bunten Blumen und Büschen, steht der silberne SUV von Julikas Vater. Julika stellt ihr Rad vor die Garage und will gerade an der Haustür klingeln, da wird die Tür schon von ihrer Mutter aufgemacht.
„Na, endlich“, sagt sie ungeduldig und reicht Julika die Tüte mit den frischen Sachen. Sogar an das Deo hat sie gedacht.
Super, denkt Julika, dass bloß nichts schiefgeht, als sie sich in der geräumigen Gästetoilette neben dem Eingang umzieht und kurz darauf in Bluse und Rock perfekt angezogen herauskommt. Opa und Oma legen Wert auf angemessene Kleidung. Shorts und T-Shirt sind an einem Geburtstag auf keinen Fall angemessen.
Im Wohnzimmer stehen die Terrassentüren offen, aber alle sitzen drinnen an dem mit Löwenmäulchen aus dem Garten geschmückten Kaffeetisch, denn für den Nachmittag ist Regen angesagt, und der Himmel zieht sich auch schon zu.
Offensichtlich wurde auf Julika gewartet. Denn kaum steht sie in der Tür, kommt Bewegung in die Runde. Für einen Moment meint Julika, vor ihr spielte sich eine Filmszene ab, nachdem jemand „action“ gesagt hat. Oma erhebt sich und gießt Kaffee ein, ihre Tochter nimmt den Tortenheber, verteilt saftigen Pflaumenkuchen auf die Teller der Gäste und reicht die Schüssel mit der Schlagsahne herum. Der blasse Christian nuckelt an seiner Cola und tippt auf seinem Handy rum. Kuchengabeln klappern, Gesprächsfäden werden wieder aufgenommen.
„Julika!“, posaunt Opa Gunter mit seiner dröhnenden Stimme quer durch den Raum und reckt ihr voller Freude sein rundes, rötliches Gesicht entgegen.
Julika drückt ihm hastig einen Geburtstagskuss auf das kleine Stückchen freie Wange zwischen weißem Backenbart, Nase und Auge, lässt sich von ihrer Oma Barbara, die für diesen Moment ihre Kaffeekanne abstellt, an den rundlichen, weichen Körper ziehen, gibt den anderen Gästen brav reihum die Hand und lässt sich dann auf den freien Platz neben ihrem Bruder aufs Sofa fallen.
Alles wie immer, stellt sie fest. Wie an jedem Familiengeburtstag der Familien Ritter/Schaaf, jahraus, jahrein, gefühlte hundert Mal pro Jahr. Am Nachmittag Kaffeeklatsch, wie Oma zu dieser Veranstaltung sagt, Einladungen sind nicht nötig, alle wissen Bescheid. Und wie immer scheinen sich alle zu amüsieren.
Abgesehen von Julika.
Ihr will nicht aus dem Kopf, was sie eben gesehen und gelesen hat. Und das passt überhaupt nicht hierher, wo alle nur mit sich selbst und ihrem guten Leben beschäftigt sind. Am liebsten würde Julika aufstehen und gehen. Doch das wagt sie nicht, und außerdem hat sie Amal gesagt, sie würde ihren Opa fragen. Im Moment kann sie sich allerdings nicht vorstellen, wie das gehen soll. Also lässt sie sich von Oma ein dickes Stück von dem mampfigen, zimtigen