Potsdamer Abgründe. Carla Maria Heinze

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Название Potsdamer Abgründe
Автор произведения Carla Maria Heinze
Жанр Языкознание
Серия Enne von Lilienthal
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960416838



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Mikey, willst du mir wieder brechen das Herz?« Sie sprach Deutsch mit starkem Akzent und hob theatralisch die Hände. »Gestorben bin ich seither, jeden Tag.«

      »Auf mich wirkst du ziemlich lebendig«, schmunzelte er. Und auf einmal wurde er sich der Situation bewusst. Er war nicht allein. Fühlte Susannes Blick im Rücken.

      »Du hast dich damals«, Katie runzelte die Stirn, »einfach verdrückt.« Sie machte einen Schmollmund. »Dich verdrücken, das kannst du. Das hat Collin auch immer gesagt.« Sie blickte ihn an. »Aber jetzt kommst du mir nicht mehr davon.« Als sie seinen entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkte, lächelte sie breit: »Don’t worry, Mikey, ich habe nicht vergessen, dass dir deine Unabhängigkeit über alles geht. Ich bin nicht deinetwegen in Potsdam. Oh no, my dear. Ich helfe Desmond.«

      »Also, ich unterbreche ja nur ungern die Wiedersehensfreude«, fuhr Susanne jetzt dazwischen, »aber wir hatten uns angekündigt, Frau McLaren.«

      »Katie McLaren und ich kennen uns seit meiner Londoner Zeit bei Scotland Yard«, erklärte Lilienthal den anderen überflüssigerweise und stellte Susanne und Kalumet vor.

      Die junge Frau musterte Susanne, bevor sie die Tür öffnete: »Well, come on in, lady and gentlemen.«

      Im Vorbeigehen stieß Rödelheim Lilienthal in die Seite. »Sie lassen aber auch nichts anbrennen, was?«

      Von der Diele mit schwarzen und weißen Fliesen im Schachbrettmuster gingen mehrere weiße Türen ab. Am Ende führte eine breite, dunkel glänzende Holztreppe hinauf ins obere Stockwerk.

      Katie McLaren hatte angeboten, für alle Kaffee zu kochen, und war in der Küche verschwunden.

      Susanne schaute nachdenklich zu Lilienthal, unterließ aber jede Bemerkung über sein stürmisches Wiedersehen mit der Engländerin.

      »Ich nehme mir jetzt mit Leo die oberen Räume vor«, sagte sie im dienstlich knappen Tonfall. »Du kannst dich ja hier unten umsehen«, meinte sie mit Blick zur Küche und winkte Kalumet, der ihr die Treppe hinauf folgte.

      Rödelheim sah ihr bewundernd hinterher, bevor er sich zu Lilienthals Erstaunen in Richtung Küche wandte. »Koffeinentzug«, raunte er ihm im Vorbeigehen zu.

      Wenig später hörte Lilienthal von dort dessen tiefes Lachen, unterbrochen von Katies heller Stimme.

      Das ist heute einfach nicht mein Tag, dachte er, öffnete eine Tür und fand sich in einem Wohnraum wieder. Salon, so hätte man früher dazu gesagt. Durch eine geöffnete Schiebetür mit Glasornamenten blickte er in ein Speisezimmer. Beide Räume strahlten mit Eichenparkett und bodentiefen Sprossenfenstern zeitlose Eleganz aus. Lilienthal trat an eines der Fenster. Vor ihm fiel eine Rasenfläche bis zum Wasser ab. Englischer Rasen vom Feinsten, dachte er. Gänseblümchen haben hier keine Chance. Spontan musste er an den Rasen im Garten seiner Mutter denken, den man wohlwollend als Wiese bezeichnen konnte, der in Wirklichkeit aber fast ausschließlich aus Wildkräutern bestand. Zumindest fühlen sich dort jede Menge Insekten wohl, dachte er, dann ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Mehrere ausladende Couches und Sessel, alle mit dem gleichen taubenblauen Samt bezogen. In einer Nische stand ein runder, beinahe bis zur Decke reichender weißer Kachelofen. Auf dem Boden lagen ein paar wenige Seidenteppiche. Die ganze Einrichtung wirkte auf ihn wie eine Ausstellung: schöner Wohnen.

      Er schob die Tür zum Speisezimmer noch etwas weiter auf. Ein Mahagonitisch nahm beinahe die ganze Länge des Raumes ein. Auf der spiegelblanken Tischplatte thronte eine überdimensionale Glasschale mit Früchten. Den Tisch umstanden zwölf Stühle, alle mit dem gleichen Stoff gepolstert wie die Sitzmöbel im Wohnraum. An der Wand über einer Anrichte hing ein großformatiges Bild in verwischten Grautönen. Neugierig trat Lilienthal näher.

      Eine Landschaft im Nebel. War das etwa …? Er beugte sich vor und suchte nach der Signatur. Trat dann verblüfft einen Schritt zurück. Ein Gerhard Richter. Eines der Bilder aus seiner frühen Periode. Dafür musste man heute wahrscheinlich einen zweistelligen Millionenbetrag hinblättern. Holm schien wahrlich gut bei Kasse zu sein. Allein das Bild hier wäre ein Motiv für einen Raubmord. Aber soweit er das überblickte, schien in dem Zimmer nichts zu fehlen. Das Bild hing nach wie vor an der Wand, und Holm war nicht hier, sondern im Geheimen Staatsarchiv beinahe ermordet worden.

      Nur der Ordnung halber öffnete Lilienthal die Türen der Anrichte: ein Wedgwood-Service, geschliffene Gläser. Alles so akkurat geordnet, als würde es nie gebraucht. An der einen Zimmerseite entdeckte er eine schmale Tür. Froh, dieser erdrückenden Pracht entrinnen zu können, ging er hin und öffnete sie.

      Deckenhohe Bücherregale, unterbrochen nur durch ein Fenster. In der Mitte ein wuchtiger viktorianischer Schreibtisch. Stapelweise Zeitschriften, daneben Stöße von Ausdrucken, die sich wegen ihrer Höhe schon bedenklich neigten. Lilienthal atmete auf. Hier wurde endlich gearbeitet, nicht repräsentiert. In diesem Raum fühlte er sich wohler. Büchertürme, wohin er blickte. Sie bedeckten beinahe den gesamten Fußboden. Er nahm sein Handy und machte aus verschiedenen Perspektiven Fotos. Umrundete geschickt die Bücherberge und arbeitete sich bis zum Schreibtisch vor. Ein Monstrum, aber genau richtig, wenn man viel Platz zum Arbeiten benötigte, mit je einer Tür rechts und links. Auf der Arbeitsplatte eine Keramikschale mit frisch angespitzten Bleistiften, daneben verschiedenfarbige Klebezettel und ein Päckchen mit Heftklammern. Schließlich ganz am Rand ein Stoß Papiere. Er blätterte sie durch. Handwerkerrechnungen. Eine Einladung eines Potsdamer Golfclubs zur Mitgliederversammlung und eine vom Yachtclub. Holm schien in beiden Mitglied zu sein. Eine Schneiderrechnung über zwei maßgefertigte Anzüge, für die zwei seiner Monatsbezüge draufgehen würden. Lilienthal schob die Papiere wieder zusammen. Nichts davon lieferte einen Hinweis auf Holms Anwesenheit im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz.

      Suchend glitt sein Blick über die Schreibtischplatte. Wo waren die Schlüssel für die Türen? Und wo war Holms Computer? Er konnte weder Laptop noch Tablet entdecken. Gab es das noch, dass jemand ohne Computer arbeitete? Doch wohl eher nicht. Mit der Hand fuhr er an der Unterseite der Platte entlang. Eine glatte Fläche, sonst nichts.

      Er musterte die Buchrücken. Juristische Fachbücher in deutscher und englischer Sprache. Daneben Standardwerke über das europäische Finanzsystem. Daneben wiederum deutsche Klassiker. Gesamtausgaben von Goethe, Hegel, Kant, Adorno, sogar Sloterdijk. Ein weiteres Regal nur mit englischer Literatur. Kipling, Wilde, Scott, Poe und eine abgegriffene Gesamtausgabe von Shakespeare. Aber auch antiquarische Ausgaben in festen Einbänden waren darunter. Soweit Lilienthal das auf den ersten Blick feststellen konnte, handelte es sich zumeist um Exemplare aus dem 19. Jahrhundert. Sie erinnerten ihn an die Bibliothek seiner Großeltern. Auf dem untersten Regalbrett entdeckte er einen alten Folianten mit beschädigtem Einband. Neugierig bückte er sich. Der Buchdeckel glänzte speckig. Er zog das Buch heraus. Es war in Schweinsleder gebunden. Die schon etwas blassen goldenen Lettern auf dem Einband verkündeten: »Seine Majestät Friedrich II. König von Preußen«.

      Lilienthal trug das schwere Buch zum Schreibtisch und öffnete es. Mit schwarzer Tinte stand dort in feinen Buchstaben auf der ersten Seite: »May you attain the strength, rise to wisdom and see the beauty.« – Mögest du die Stärke erlangen, zur Weisheit aufsteigen und die Schönheit sehen.

      Daneben entdeckte er zwei Buchstaben. Ein R und ein H.

      11

      Die Seiten waren brüchig und knisterten, als Lilienthal sie umblätterte. Auf einer entdeckte er am Rand ein Ausrufezeichen und noch eine Notiz, aber die Schrift war so verblasst, dass sie kaum lesbar war. Er ging zum Lichtschalter, betätigte ihn. Sofort erstrahlte der Raum in indirektem Licht, das aus vielen kleinen Strahlern an der Decke kam. Einer von ihnen befand sich direkt über dem Schreibtisch. Jetzt konnte Lilienthal die wenigen Worte entziffern.

      »An eternal seeker«, las er halblaut. Ein ewig Suchender? Wer hat das notiert?, überlegte er. Holm? Und wer ist damit gemeint? Er selbst? Aber warum sollte Holm ein ewig Suchender sein?

      »Hast du was gefunden?«

      Überrascht fuhr er herum. Susanne stand hinter ihm. Er klappte das Buch zu.

      »Nichts, was uns weiterhilft. Holm war sehr belesen, wie