Potsdamer Abgründe. Carla Maria Heinze

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Название Potsdamer Abgründe
Автор произведения Carla Maria Heinze
Жанр Языкознание
Серия Enne von Lilienthal
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960416838



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anrufen? Noch dazu wegen einer Lappalie«, setzte er höhnisch nach. »Alte Gebäude geben Geräusche von sich, die Sie in Ihrer jugendlichen Unkenntnis nicht zuordnen können. In dem engen Akten-Lastenaufzug einen Menschen zu vermuten, da kann ich ja nur lachen.« Um Bestätigung heischend blickte er den Wachmann an.

      »Völlig richtig. Und laut Paragraf hundertfünfundvierzig im Strafgesetzbuch steht außerdem der Missbrauch des Notrufs unter Strafe«, schob der gereizt hinterher.

      Als Verena zu einer heftigen Gegenrede ansetzen wollte, hörte sie die Feuerwehrsirene. Sie durchbrach die morgendliche Stille und näherte sich rasch.

      Verena spurtete zum Eingangstor und öffnete es. Abgeschlagen hinter ihr der Pförtner, der wild mit den Armen gestikulierte.

      Der Mann der Security hatte sein Handy hervorgeholt und telefonierte sichtlich schlecht gelaunt. Wahrscheinlich informierte er die Zentrale seines Arbeitgebers über den Vorfall.

      Als das schwere Fahrzeug der Feuerwehr auf das Gelände fuhr, wurde der grelle Signalton abgestellt, aber die blauen Warnlampen über dem Führerhaus blinkten hektisch weiter.

      »Das wird Folgen für Sie haben, darauf können Sie sich verlassen«, keuchte der Pförtner aufgebracht, als er zu Verena aufschloss. Er wollte sie zur Seite drängen, doch sie stand wie festgenagelt vor dem Einsatzleiter, einem Endvierziger mit Aknenarben auf den Wangen. Kurz und präzise berichtete sie, weshalb sie die 112 gewählt hatte.

      Der Einsatzleiter hörte ihr aufmerksam zu und folgte ihr dann schnellen Schrittes zum Magazingebäude. Verdutzt blieb der Pförtner zurück.

      Verena rannte vor dem Feuerwehrmann die Treppenstufen hinauf und hielt vor dem Lastenaufzug an. »Hier«, sagte sie und deutete auf die Klappe des Aufzugs.

      Der Einsatzleiter beugte sich vor, untersuchte das Schloss und klopfte einmal dagegen. Kaum hörbar war aus dem Inneren ein Geräusch zu vernehmen, das sich wie leises Klopfen anhörte.

      »Öffnen«, befahl er den zwei Einsatzkräften, einem Älteren mit dunklen Bartstoppeln im fahlen Gesicht und einem jungen blonden Kerl mit weichem Kinn, die ihnen mit Werkzeugtaschen gefolgt waren.

      »Sie warten bitte draußen«, wies er Verena an.

      Während sie wegging, vernahm sie den anschwellenden kreischenden Ton einer Bohrmaschine.

      Vor der Eingangstür wurde sie von dem Pförtner mit zornesrotem Gesicht empfangen. »Sie!«, knurrte er aggressiv.

      »Sofort den Notarzt verständigen«, hörten sie, als das Bohrgeräusch verklungen war, den Befehl des Einsatzleiters.

      Der Pförtner öffnete mehrmals wie ein Fisch auf dem Trockenen den Mund, drehte sich dann abrupt um und lief zum Hauptgebäude.

      Zwei Feuerwehrleute mit einer Trage eilten an Verena vorbei die Treppe hoch. Sie lehnte sich gegen die Wand. Ihr Herzschlag jagte wie nach einem Tausendmeterlauf.

      Ein junger Feuerwehrler trat zu ihr, nahm fürsorglich ihren Arm und führte sie zum Einsatzfahrzeug. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte er mitfühlend.

      Da erst merkte sie, dass sich ihre Knie in Gummi verwandelt hatten. Dankbar setzte sie sich auf den Fußtritt des Wagens, nahm einen Becher mit Wasser entgegen und trank hastig. Wenig später registrierte sie einen hochgewachsenen, drahtigen Mann, der mit einem Notarztköfferchen zum Magazingebäude lief. Sie fühlte sich schwach und elend.

      Der junge Feuerwehrmann reichte ihr ein Päckchen Traubenzucker. »Notreserve«, lächelte er.

      »Gut, dass Sie die Zivilcourage hatten, uns sofort zu informieren«, meinte später der Einsatzleiter, der sich einen Moment zu ihr gesellt hatte. »Die Polizei wird gleich eintreffen. Halten Sie sich zur Verfügung. Man wird Sie befragen«, fügte er noch hinzu und ging dann wieder zurück zu seinen Leuten.

      Inzwischen waren die meisten Mitarbeiter des Geheimen Staatsarchivs eingetroffen. Einige hatten sich bis zum rot-weißen Absperrband vorgewagt, das die Feuerwehrler gezogen hatten, und schauten neugierig zum Eingang des Magazingebäudes. Auch aus den rückwärtigen Fenstern des Hauptgebäudes sahen Leute zu ihr hinunter. Verena versuchte sich kleinzumachen. Am liebsten wäre sie in einem Mauseloch verschwunden. Jetzt erst wurde ihr bewusst, was die Sache für sie bedeuten könnte. Sie war nur eine Stipendiatin, nicht fest angestellt. Um ihre Dissertation beenden zu können, war sie auf die Unterstützung der Leitung des Geheimen Staatsarchivs angewiesen. Würde man ihr das Stipendium entziehen, dann gute Nacht, Marie. In dem Moment kam Frau Bär, die Direktionssekretärin, auf sie zu.

      »Mitkommen«, sagte die Bär. »Die Chefin möchte Sie sprechen.«

      Als Verena das große Büro betrat, saß Dr. Marlies Kuhn, die Direktorin, hinter ihrem Schreibtisch. Die Miene der sonst so freundlichen schmalen Frau mit den halblangen dunklen Haaren war ernst und undurchdringlich.

      »Man hat mir berichtet, dass Sie für den Einsatz dort«, sie wies mit der Hand zum Fenster, »verantwortlich sind. Ich bitte um eine Erklärung.«

      Verena schilderte ihr stockend, was sie am frühen Morgen entdeckt und weshalb sie sich entschlossen hatte, sofort die Feuerwehr zu benachrichtigen.

      »Dass Sie sich über bestehende Vorschriften hinweggesetzt und eigenmächtig gehandelt haben, ist Ihnen bewusst?«

      Verena nickte. »Aber ich wusste auch, dass sich in dem Aufzug ein Mensch befindet und ich ihm helfen muss«, setzte sie zu einer Entschuldigung an.

      Die Direktorin blickte sie prüfend an. »Sie wussten das?«, wiederholte sie Verenas Worte. »Wer im wissenschaftlichen Bereich arbeitet, sollte sich darüber im Klaren sein, wie wichtig eine korrekte Ausdrucksweise ist. Wissen konnten Sie das nicht.« Die Kuhn faltete die Hände. »Aber dazu später. Was mich jetzt interessiert: Wieso hatten Sie Zugang zu den Magazinsälen, obwohl Herr Dr. Wendt noch nicht anwesend war?«

      Diese Frage hatte Verena befürchtet. Hatte sich bereits den Kopf zerbrochen, wie sie ihren Mentor aus der Affäre heraushalten könnte. »Das war nicht in Ordnung«, versuchte sie, einen diplomatischen Anfang zu finden. »Aber gestern ist mir ein wichtiger Aspekt für meine Arbeit eingefallen. Den wollte ich heute Morgen sofort überprüfen.« Sie setzte ihr harmlosestes Lächeln auf. »Dr. Wendt hat mir dafür liebenswürdigerweise seinen Schlüssel geliehen.« Sie hoffte, dass ihr nicht die Röte ins Gesicht schoss. Die Unwahrheit zu sagen war nicht ihr Ding. Wenn sie hier raus war, musste sie Wendt schnellstens über ihre Notlüge informieren.

      Die Kuhn wirkte erstaunt, kommentierte ihre Aussage aber nicht weiter. »Ob Ihr Handeln Konsequenzen haben wird, kann ich erst nach Prüfung aller Fakten und den Aussagen der Beteiligten entscheiden«, erwiderte sie. »Sie wissen, dass Sie als Stipendiatin dem Archiv verpflichtet sind. Das umfasst nicht nur die Geheimhaltung, sondern auch den Schutz unserer Bestände. Ich werde Sie benachrichtigen lassen, wenn ich darüber befunden habe, wie es mit Ihnen weitergeht.« Die Direktorin griff nach einer Akte und fing an zu lesen. Verena war entlassen.

      Sie lief durch den dunkel getäfelten Flur Richtung Ausgang. Als sie hinaustrat, setzte sich das Einsatzfahrzeug der Feuerwehr gerade in Bewegung.

      »Wird er durchkommen?«, rief sie atemlos dem jungen Mann hinter dem Lenkrad zu, der das Fenster heruntergelassen hatte.

      »Neugierig sind Sie überhaupt nicht, was?«, grinste der. »Aber da fragen Sie den Falschen. Ich kann nur sagen, dass wir bis jetzt keine Ahnung haben, wie der Mann in den Aktenaufzug gekommen ist. Er war zusammengefaltet wie ein Päckchen. Kein schöner Anblick.« Mit dem Daumen deutete er nach hinten, wo inzwischen mehrere Polizeifahrzeuge standen. »Um alles Weitere kümmert sich jetzt die Kripo. Wir müssen los.« Er ließ die Scheibe surrend hochfahren und gab Gas.

      In Gedanken versunken lief Verena hinüber zu ihrem Fahrrad. Sie wollte sich schon auf den Sattel schwingen, da hörte sie jemanden sagen: »Sind Sie Frau Näther?« Sie drehte sich um. Hinter ihr stand ein uniformierter Polizist. Sie nickte.

      »Dann folgen Sie mir bitte«, befahl er in amtlichem Ton und griff nach ihrem Rad.

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