Potsdamer Abgründe. Carla Maria Heinze

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Название Potsdamer Abgründe
Автор произведения Carla Maria Heinze
Жанр Языкознание
Серия Enne von Lilienthal
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960416838



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dessen grüner Samt schon etwas abgenutzt war. »Was ist denn passiert, dass du dich so früh von deinen alten Papieren getrennt hast?«

      Aufseufzend ließ sich Verena in das weiche Polster sinken. Erst langsam, dann immer schneller sprudelte alles aus ihr heraus, was sie am Morgen erlebt hatte.

      Enne hörte ihr aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen.

      »Schade, dass das ein Berliner Fall ist«, murmelte sie, als Verena fertig war. »Bei der Ermittlung wäre ich gerne mit dabei.«

      »Lass das bloß nicht Maik hören«, entgegnete Verena und grinste schief.

      Enne schob den dicken Kater von ihrem Schoß, was der mit einem empörten Miauen quittierte, und stand auf. »Ich fahre jetzt zu Richard ins Krankenhaus. Magst du mitkommen?«

      Verena nickte. Als sie sich erhob, meldete sich ihr Smartphone. Sie zog es aus der Hosentasche und las die eingegangene Nachricht.

      »Dr. Wendt hat mir geschrieben!«, rief sie strahlend. »Er hat mit der Direktorin gesprochen und gebeten, dass ich schnellstmöglich meine Arbeit wieder aufnehmen darf, da er mich dringend bei seinem Forschungsprojekt benötigt. Ich bin nicht gefeuert!« Sie fiel Enne um den Hals.

      Was sie nicht erwähnte, war, dass Dr. Wendt auch die Sache mit dem Generalschlüssel geklärt hatte. Gleich nach dem Gespräch mit der Direktorin hatte sie ihn angerufen und über alles informiert. Wendt, dachte sie glücklich. Ich danke dir, du altes Schlitzohr.

      »Entschuldige, Enne, aber ich fahre gleich wieder zum Staatsarchiv. Richte Richard meine Besserungswünsche aus. Ich zieh mich nur kurz um, dann bin ich wieder weg!«, rief sie und eilte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.

      Nachdenklich schaute ihr Enne hinterher.

      14

      Marco Wendt nahm das brüchige Schriftstück, das von einer preußischen Behörde stammte. Verfasst in deutscher Sprache, die sich jedoch deutlich von der heute üblichen unterschied. Er hatte den Inhalt zusammengefasst und ihm einen aussagekräftigen Aktentitel gegeben, damit andere Benutzer sich schon anhand dessen eine Vorstellung von dem Inhalt machen konnten. Sorgfältig legte er es zurück in den Karton. Während er sich die weißen Baumwollhandschuhe von den kräftigen Händen zog, schaute er zum anderen Ende des Saales, wo gerade die Metalltür aufgestoßen wurde. Über die Regalreihen hinweg erblickte er Verena Näther, seine Stipendiatin. Gebückt lief sie auf ihn zu, eine Vorsichtsmaßnahme, da die Raumhöhe im alten Magazingebäude gerade mal eins achtzig betrug. Sie winkte ihm strahlend zu, wie er trotz der spärlichen Beleuchtung feststellen konnte. Er mochte die junge Frau, spiegelte sich gern in ihrem jugendlichen Aussehen. So konnte er für kurze Zeit vergessen, dass er selbst längst die Pensionsgrenze überschritten hatte. Auch das Arbeiten mit ihr machte ihm Freude, brachte Licht in seine dunklen Stunden. Ihm gefiel, wie die historischen Texte sie begeisterten. Sie war wie er infiziert mit dem Archiv-Gen, wie er es im Stillen nannte. Dieser Neugierde weiterzusuchen, wenn andere aufgaben. Verena Näther erinnerte ihn in vielem an seine Zeit im Zentralen Staatsarchiv der DDR in Potsdam, wo er vor vielen Jahren nach dem Studium angefangen hatte.

      »Danke, Herr Dr. Wendt, dass Sie sich für mich eingesetzt haben. Ich bin ja so froh, wieder hier sein zu dürfen«, begrüßte sie ihn überschwänglich.

      Er machte eine abwehrende Geste. »Nicht der Rede wert, junge Dame. Ich brauche Sie hier. Obwohl«, seine blassgrauen Augen hinter den rahmenlosen Brillengläsern schauten streng, »es nicht unserer Vereinbarung entspricht, dass Sie heute früh im Magazingebäude waren, ohne mich vorher darüber informiert zu haben. Bitte stimmen Sie das in Zukunft mit mir ab.«

      »Entschuldigung, Herr Dr. Wendt«, sagte sie verlegen und ließ ihre Umhängetasche auf den neben ihm stehenden Stuhl fallen. Verlegen strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Aber ich bin gestern auf etwas gestoßen, was ich mir heute früh noch einmal ansehen wollte, bevor der normale Tagesbetrieb losging. Außerdem«, schob sie nach, »habe ich damit doch den Mann im Aufzugsschacht gerettet, oder nicht?«

      Wendt ordnete seine Unterlagen. »Damit haben Sie natürlich recht.« Er zog den grauen Arbeitskittel aus und legte ihn sich sorgfältig über einen Arm. »Ich frage mich nur die ganze Zeit: Was wollte er hier? Hat er nach etwas gesucht? Aber wonach? Und wer hat ihm das angetan?«

      »Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Vielleicht war der Täter ja sogar noch hier, als ich den Mann fand.« Sie schlang die Arme um ihren Körper und schauderte. »Irgendwie kein gutes Gefühl.«

      »Und warum wollte der oder die Täterin den Mann umbringen?«, überlegte Wendt. »Ausgerechnet in unserem altehrwürdigen Archiv. Nicht mal davor machen Verbrecher heute mehr halt.« Er griff nach seiner schäbigen braunen Aktentasche und gab ihr die Hand. »Dann bis morgen zur vereinbarten Zeit, Frau Näther.«

      Als die Tür hinter Dr. Wendt ins Schloss fiel, kramte Verena bereits ihre Unterlagen hervor und legte sie zusammen mit ihren Baumwollhandschuhen und dem Brillenetui auf die Arbeitsplatte. Wendt hatte eine Frau, die Unterstützung bedurfte, deshalb musste er zu unregelmäßigen Zeiten nach Hause.

      Sie verspürte das altbekannte Kitzeln in ihrer Nase und nieste. Hastig zog sie ein Taschentuch aus der Hosentasche und riss dabei ihre neue Haarspange mit heraus. Das Teil, das sie erst vor wenigen Tagen auf dem Flohmarkt auf der Straße des 17. Juni gekauft hatte, glitt über den Boden wie ein Puck beim Eishockey.

      Verena bückte sich, schaute unter die Regale und entdeckte die Spange ein ganzes Stück entfernt von ihrem Arbeitsplatz. Sie kniete sich hin und versuchte, sie mit ausgestrecktem Arm zu erreichen, als ihre Hand etwas streifte. Schnell griff sie nach der Spange und steckte sie zurück in ihre Hosentasche. Mit ihr hatte sie ein zusammengeknülltes Stück Papier hervorgeholt, das sie achtlos in den Abfallkorb warf. Sie setzte sich an ihren Platz und war wenig später so vertieft in ihre Arbeit, dass sie alles andere um sich herum kaum noch wahrnahm.

      Nach einer ganzen Weile lehnte sie sich zurück und schob ihren Block von sich. Sie schaute zu der Papierkugel, die einsam und allein im Korb lag. Wieso hat jemand seine Notizen weggeworfen, anstatt sie ordentlich zu entsorgen, überlegte sie. Ungewöhnlich. Wer in einem Archiv arbeitete, ließ nichts auf dem Boden herumliegen. Sie beugte sich zum Abfallkorb hinunter, fischte das Papier wieder heraus, legte es auf die Arbeitsplatte und strich es glatt. Es war alt, offensichtlich ein abgerissenes Stück von einem historischen Dokument. Sie betrachtete die hastig hingeschriebenen Buchstaben und kaum leserlichen Zahlen. War das von Wendt? Nein, seine Schrift kannte sie inzwischen. Außerdem war Wendt korrekt bis in die Zehennägel. Nie würde er ein altes Dokument beschädigen. Ihre Neugierde war geweckt. Die ersten Buchstaben konnte sie entziffern. Aber die Zeichen dahinter? Sie beugte sich tiefer über das Papier. Sie schienen ausradiert worden zu sein. Obwohl sie das Papier unter die Leselampe schob und die Augen zusammenkniff, konnte sie nicht mehr erkennen.

      Sie setzte sich gerade auf und schaute auf die Uhr. Schon später als gedacht. Sie musste an ihrer Dissertation weiterschreiben, das Papier war doch nur eine willkommene Abwechslung, um sich davor zu drücken. Kurz entschlossen schob sie es in ihre Tasche.

      Nach einer Weile stellte sie fest, dass sie eine bestimmte Urkunde benötigte, um weiterzuarbeiten. Sie musste rüber ins Hauptgebäude und in den Findbüchern danach suchen. Ärgerlich, aber zum Glück war das meiste heutzutage digitalisiert. Allzu viel Zeit sollte sie durch die Recherche nicht verlieren. Sie schob ihre Unterlagen zusammen, nahm ihre Notizen und eilte hinaus.

      Im Benutzersaal in der ersten Etage herrschte wie immer konzentrierte Stille. An den Leseplätzen hockten die Besucher vor dicken Folianten. Einige hatten die Seiten mit kleinen Sandsäckchen beschwert, damit die wertvollen Bücher aufgeschlagen blieben.

      Geübt suchte Verena im Computer nach dem betreffenden Findbuch und dort nach der Nummer der Urkunde. Trug schnell die Signatur und ihren Namen in den Bestellschein ein und gab ihn der Benutzersaalaufsicht. Ricarda Nolte, eine ältere freundliche Frau mit Kurzhaarschnitt, die Verena inzwischen gut kannte, nahm ihn entgegen.

      »Haben Sie die Urkunde nicht bereits vor ein paar Tagen angefordert?«, fragte sie, nachdem sie einen Blick auf den Schein geworfen hatte.