Potsdamer Abgründe. Carla Maria Heinze

Читать онлайн.
Название Potsdamer Abgründe
Автор произведения Carla Maria Heinze
Жанр Языкознание
Серия Enne von Lilienthal
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960416838



Скачать книгу

schöpfte mit den Händen Wasser und ließ es über ihre Waden laufen. Da bemerkte sie wieder etwas Helles und watete in dessen Richtung. Schrie plötzlich auf. Etwas hatte sich in ihre Fußsohle gebohrt. Auf einem Bein balancierend tastete sie den Fuß ab. Keine Verletzung. Wahrscheinlich nur ein spitzer Kiesel. Als sie den Fuß wieder aufsetzte, sah sie erneut etwas blitzen. Es kam aus dem Schilf. Das musste sie jetzt wissen.

      Ohne auf ihre hellen Hosen zu achten, watete Enne bis zu dem dichten Schilfgürtel. Schaute in das hier mehr bräunliche, modrig riechende Wasser. Ein kleiner Stichling schoss an ihren Füßen vorbei, während der Sonnenball purpurfarben am Horizont versank. Sie bog die miteinander verwachsenen Wasserpflanzen auseinander und hielt inne. Unter der Seeoberfläche schimmerten die Speichen eines Rades. Jemand hat hier seinen Sperrmüll entsorgt, dachte sie ärgerlich.

      »Du mit deiner notorischen Neugierde, dämlich bist du, aber so was von. Was hast du denn erwartet?«, knurrte sie und blickte auf ihre nassen, verdreckten Hosen. Dann wandte sie einem Impuls folgend doch noch mal ihren Kopf und sah genauer hin.

      Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Vor ihr lag ein Rollstuhl. Ein luxuriöses Gefährt mit einem mit dunkelrotem Leder bezogenen Sitz und Handgriffen aus massivem Holz. Wieso hat man den entsorgt? Der sieht doch aus wie neu, überlegte sie. Erst jetzt bemerkte sie das, was ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Unterhalb des Sitzes hatte sich in den Speichen eines Rades etwas verfangen. Eine goldschimmernde Kette.

      Sie griff ins Wasser und zog daran, aber sie hing fest. Enne fuhr mit den Fingern unter dem Sitz an den Kettengliedern entlang bis zum letzten, tastete und fand eine schmale Öffnung. Als sie den Rollstuhl zur Seite drückte, sah sie, dass das Polster gerissen war und die Kette aus einem Schlitz hing. Sie zerrte und riss dabei die Öffnung weiter auf, und mit der Kette glitt ein Anhänger mit einem dunkelroten Stein in ihre Hand. Beides wirkte altertümlich.

      Die Kette wog schwer und schien aus Gold zu sein. Neugierig betrachtete Enne den Verschluss: ein metallener Ring, durch den ein gebogener Pfeil gezogen war. Ein letzter Sonnenstrahl verfing sich in dem Geschmeide. Rotgolden schimmerte der Edelstein und offenbarte dabei etwas in seinem Inneren. Wie eine Verheißung, ging es ihr durch den Kopf, als sie das Schmuckstück in ihre Hosentasche stopfte.

      6

      Ihre Uhr zeigte wenige Minuten nach fünf. Schon als Kind hatte Verena Näther die Stunde der Morgendämmerung geliebt. In einer Familie von notorischen Langschläfern galt sie damit als schwarzes Schaf.

      »Dich hat man bei der Geburt vertauscht«, war der gleichbleibende Spruch ihres Vaters gewesen, wenn alle anderen erst aufwachten und sie schon stundenlang durch das Haus gegeistert war.

      Auch heute war sie leise und besonders früh aus dem Haus geschlichen. Weil sie im Archiv allein sein wollte. Endlich hatte sie die Akte entdeckt. Vor ein paar Tagen erst. Heute wollte sie sich die Unterlagen noch einmal ansehen, ohne dass ihr Mentor dabei sein würde.

      Ihre Eltern, beide aus wohlhabenden Familien stammend, hatten sich zeitlebens treiben lassen, Selbstfindung, so nannten sie es. Beide waren bei dem Tsunami 2004 in Khao Lak an der thailändischen Küste im Schlaf von den Wassermassen überrascht worden und ertrunken. Enne, ihre Patentante, hatten ihre Eltern in Bolivien auf einer ihrer vielen abenteuerlichen Reisen kennengelernt. Seit deren Tod kümmerte Enne sich um sie. Jedes Jahr hatte sie sie in den großen Ferien für einige Wochen zu sich geholt, in den kleinen beschaulichen Ort vor den Toren Potsdams. Jetzt wohnte sie vorübergehend bei ihr, bis sie eine bezahlbare Bleibe in Berlin gefunden hatte.

      Verena trat in die Pedale, fuhr zügig auf der noch menschenleeren Königin-Luise-Straße am U-Bahnhof Dahlem-Dorf vorbei und bog mit Schwung in die Archivstraße ein. Dort Endspurt auf dem mit kleinen Granitsteinen gepflasterten Bürgersteig. Vor der Eingangspforte bremste sie scharf, sprang leichtfüßig von ihrem Rad und warf einen Blick auf ihr Handy. Gleich sechs, frühester Arbeitsbeginn für die Mitarbeiter des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz. Sie schob das Rad in den Fahrradständer, wickelte schnell ihren honigblonden Pferdeschwanz zu einem Dutt und befestigte ihn mit einer Spange. Nahm ihre prall gefüllte Segeltuchtasche mit den Notizen und Kopien aus dem Drahtkorb auf dem Gepäckträger, warf sie sich über die Schulter und lief am Hauptgebäude des Geheimen Staatsarchivs vorbei zu dem dahinterliegenden Magazintrakt.

      Dort angekommen kramte sie in der Tasche nach dem Ausweis, den jeder Mitarbeiter des Hauses besaß. Mit ihm und einem Zugangscode gelangte sie in das Gebäude. Seit einem Jahr durfte sie im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz forschen. An diesem Ort ihre Dissertation zu beenden erfüllte sie immer noch mit Stolz. Unter den vielen Bewerbern, die die wissenschaftlichen Kriterien für ein Stipendium erfüllten, entschied letztendlich stets das Losverfahren, und im letzten Jahr hatte Fortuna ihr zugelächelt.

      Unter einer Schicht, bestehend aus ihrem Geldbeutel, Haarklammern, einem Päckchen Papiertaschentücher, einem Kamm und mehreren Kugelschreibern, entdeckte sie endlich die Hülle mit der Karte und zog sie heraus. »Verena Näther – Stipendiatin«, stand darauf. Sie gab den Zugangscode ein, hielt die Karte vor den Scanner, drückte die Tür auf, betrat den dunklen Eingangsbereich des Magazingebäudes und drehte den vorsintflutlichen Bakelitschalter für das Treppenhauslicht an. Fischte mit einem zufriedenen Grinsen einen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die Tür zum Kartenraum auf. Der Generalschlüssel, ihr ganz persönlicher Lottogewinn, der Sesam-öffne-dich für alle Räume des alten Gebäudes. Ein Privileg, von dem nur sie und Dr. Wendt wussten. Wendt, ihr Mentor, wachte nicht nur über ihre wissenschaftliche Arbeit, sondern kümmerte sich auch mit väterlicher Zuneigung um sie. Sie mochte den alten Mann. Der Schlüssel, den sie besaß, hatte davor einem Archivar gehört, der in den Ruhestand gegangen war. An seinem letzten Arbeitstag überließ er ihn Dr. Wendt, der ihn in der Verwaltung als zurückgegeben meldete. Und dann hatte er ihn behalten und ihr in die Hand gedrückt. Einfach so. Ein schlauer Fuchs, mein Doktorchen, dachte Verena.

      Sie eilte durch den Raum mit seinen langen metallenen Kästen, in denen alte Karten sorgfältig dokumentiert und verwahrt vor sich hin schlummerten, öffnete die Tür zum zweiten Aufgang und stieg leichtfüßig die ausgetretenen Steinstufen hoch. Auf der vorletzten blieb sie stehen. Lauschte. Etwas passte nicht zu den üblichen Geräuschen des Hauses. Ein Knirschen? Sie stellte die Tasche ab und ging wieder zurück. Beugte sich über das Geländer und spähte durch den Fahrstuhlschacht nach unten. Alles war still, nur das altertümliche Summen der Treppenhausbeleuchtung war zu hören.

      Helles Morgenlicht fiel durch die vergitterten Fensterscheiben und auf die staubgraue Tür des Lastenaufzugs. Das veraltete Gefährt für den Transport von Akten war schon seit Langem außer Betrieb. Nur Einbildung, dachte Verena. Sie war hier allein.

      Gerade als sie den Fuß erneut auf die erste Stufe setzte, hörte sie es wieder. Schnell wandte sie sich um. Starrte zu der Aufzugsanlage. Das Geräusch schien von dort zu kommen. Sie ging näher, betrachtete die Klappe. Zog vorsichtig an dem Riegel zum Öffnen. Wieder ertönte das Geräusch, ein Quietschen, das durch Mark und Bein ging. Als wenn etwas über Metall kratzte. Erschrocken fuhr sie zusammen.

      »Hallo?«, sagte sie zögernd. Dann lauter: »Ist da jemand?« Aber es blieb still. Vorsichtshalber rüttelte sie noch einmal an dem Riegel und bemerkte erst jetzt, dass die Vorrichtung weiter unten zusätzlich mit einem Hängeschloss gesichert war. Ohne den passenden Schlüssel würde sie dieses alte Monstrum nicht öffnen können. Sie schlug gegen die Klappe, und die Antwort kam kaum wahrnehmbar.

      »Hören Sie mich?«, rief sie. Wartete. Nichts. Sie hämmerte gegen das Holz, lauschte angespannt. Dann hörte sie es ganz deutlich. Jemand stöhnte. Sie beugte sich vor, rief: »Ich helfe Ihnen!«, zog ihr Smartphone hervor und wählte die 112.

      7

      »Was hätte ich denn sonst tun sollen?«, empörte sich Verena.

      Der Wachschutzmann stand, die Arme in die Seiten gestemmt, zusammen mit dem inzwischen eingetroffenen älteren Pförtner wie eine Wand vor ihr. Ärgerlich blickte er die junge Frau an. »Zuallererst hätten Sie den Dienstweg einhalten müssen«, erklärte er ihr herablassend.

      »Sie müssen mich informieren, wenn etwas Unvorhergesehenes