Potsdamer Abgründe. Carla Maria Heinze

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Название Potsdamer Abgründe
Автор произведения Carla Maria Heinze
Жанр Языкознание
Серия Enne von Lilienthal
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960416838



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bei dem Krimi, den Sie uns hier geboten haben, ist das entschuldbar«, lächelte die Nolte. »Ihr Dokument liegt sicherlich schon bereit.«

      Leise durchquerte Verena den Benutzersaal und öffnete die Tür zur Aktenausgabe. Mit dem Archivmitarbeiter, Peer Schmied, verband sie eine kumpelhafte Freundschaft. Von ihm erfuhr sie den neuesten Tratsch aus dem Haus. Wer gerade mit wem liiert und wann und wo es wieder mal zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bereiche gekommen war. Schmied lästerte gern, und sie mochte seinen trockenen Humor. Der angenehme Nebeneffekt der Bekanntschaft war, dass er sie bevorzugt mit angeforderten Unterlagen versorgte. Zum Dank brachte sie ihm hin und wieder ein Glas von Ennes selbst gemachter Kirschmarmelade mit, verfeinert mit einem gehörigen Schuss Amaretto.

      »Bist ja nach der Aktion schon wieder da«, brummte er, als sie hereinkam. »Hast wohl Langeweile, was?« Er schob einen Karton in ein Regal, kam dann wieder an den Tresen und stützte die Arme darauf: »Du machst vielleicht Sachen. Jeder, der heute bei mir vorbeigesehen hat, hat sich gefragt, ob du den Mann gekannt hast.« Er langte unter den Tisch und reichte ihr einen schmalen Aktendeckel mit dem gewünschten Dokument. »Und, haste?«, grinste er.

      »Die haben sie wohl nicht mehr alle«, entgegnete Verena empört.

      »Na ja, die Leute reden halt viel, wenn der Tag lang ist«, entgegnete Schmied achselzuckend und schob ihr das Benutzerblatt über den Tisch.

      Schnell füllte Verena das Blatt aus, womit sie ihre Einsichtnahme bestätigte, und schob es ihm zurück.

      »Sag mal, hat Dr. Wendt heute was ausgeliehen?«, fragte sie.

      »Der leiht immer was aus, Frau Schlaumeier. Warum willst du das wissen?« Schmied strich über seinen Kaiser-Wilhelm-Schnauzbart. Während sein runder Schädel fast kahl war, spross über seiner Oberlippe reiche Haarpracht.

      »Ach, nur so«, erwiderte sie. Und dann zog sie einer Eingebung folgend das abgerissene Stück Papier aus ihrer Tasche und hielt es ihm hin. »Das habe ich drüben im Magazinsaal gefunden. Kannst du das lesen?«

      Ächzend ließ sich Schmied hinter der Ausgabe auf seinem Bürostuhl nieder. »Eine Sauklaue, da könnte auch eine Krähe über das Papier gehüpft sein«, murmelte er und musterte das Wenige, was auf dem Papierstück stand. »Die ersten sechs Buchstaben sind klar, oder?«

      »GStA PK für Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz«, nickte sie. »Aber was ist mit den nächsten beiden?«

      »Das könnte ein …« Er kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe, nahm ein Vergrößerungsglas aus einer Schublade und beugte sich erneut über das Papier.

      Verena versuchte, ebenfalls aufs Blatt zu schauen, aber Schmieds Kopf war im Weg.

      Er blickte zu ihr hoch. »Vielleicht ein F?«, brummte er.

      »Aha, und der nächste?«, insistierte Verena.

      »Hm.« Schmied fuhr sich über den fast kahlen Schädel, dann spitzte er die Lippen zu einem hingehauchten Pfiff.

      »Sag schon, was meinst du?«, fragte sie ungeduldig.

      »Ein M?«

      »Masonica?«, sagte sie ungläubig.

      »F für Freimaurer und M für die Masonica-Bestände.« Beide schauten auf das kleine Stück Pergament. »Kann sein oder auch nicht«, meinte Schmied vage.

      15

      Verena lief zum Magazingebäude zurück. Von ihrem angeforderten Dokument hatte sie zuvor schnell eine Kopie gemacht und diese ihren Unterlagen beigefügt. Jede Archivale war ein Einzelstück und unersetzbar und durfte nur im Benutzersaal eingesehen werden. In ihren Arbeitsunterlagen befanden sich ausschließlich Kopien.

      Aber ihre Gedanken waren nicht bei ihrer Dissertation. Wer hatte ein altes Pergament einfach so zerrissen? Und dann noch ein Stück davon liegen gelassen? Das passte doch hinten und vorne nicht. Und hatte das Gekritzel wirklich etwas mit den Masonica-Beständen zu tun? Den geheimen Freimaurer-Archivalien, die im Staatsarchiv aufbewahrt wurden? Leider hatte auch Schmied mit seinen Adleraugen die Zahlen hinter den Buchstaben nicht klar entziffern können, die jedoch nötig waren, um die Loge und den Ort zu bestimmen, auf die die Signatur verwies.

      Sie überlegte, Dr. Wendt das Papier am nächsten Tag zu zeigen. Das wäre das Naheliegendste. Wendt war das wandelnde Staatsarchiv. Wusste beinahe alles, jedenfalls kam es ihr so vor. Bestimmt kannte er sich auch mit den Masonica-Beständen aus. Soweit sie sich an seine Erzählungen erinnerte, hatte er schon in Merseburg im Staatsarchiv der DDR mit ihnen zu tun gehabt.

      Sie stieß die Tür zum Magazinsaal auf und ging an den Regalreihen entlang. Wendt forschte momentan über eine alte märkische Adelsfamilie, die ihren Nachlass dem GStA übereignet hatte. Dafür hatte er sie als Unterstützung angefordert. Dabei hatte sie seine Arbeitsweise kennengelernt. Wendt war noch ganz alte Schule. Präzises Arbeiten, strikte Ordnung, detaillierte Aufzeichnungen von allem, was mit dem Projekt zu tun hatte, diese Dinge waren ihm wichtig. Besonderen Wert legte er auf das schnelle, aber akkurate Erledigen der Aufgaben, die er ihr stellte, sodass sie manchmal kaum Zeit für ihre Dissertation fand. Wenn sie ihm jetzt mit diesem Zettelchen käme, würde er sie sicherlich für wenig zielorientiert halten. Abschweifungen mochte er nicht, das hatte sie schon mehr als einmal erlebt. Verena blieb stehen, überlegte. Sie musste wissen, was es mit der unleserlichen Signatur auf sich hatte. Sie schaute auf die Uhr und gestand sich großzügig eine halbe Stunde zu. Wofür war sie hier, wenn nicht, um hinter alte Geheimnisse zu kommen?, rechtfertigte sie sich vor sich selbst.

      Am Arbeitsplatz schob sie ihre Unterlagen zur Seite. Nahm das Papier und legte es auf einen Schreibblock. Fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Haptisches Arbeiten war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Der Beruf des Archivars hatte nicht nur mit abstrakten Texten zu tun, auch deren Trägermaterialien mussten berücksichtigt werden. Das Papier fühlte sich nicht glatt, sondern uneben und faserig an.

      Aus ihrer Umhängetasche nahm sie einen Bogen des Seidenpapiers, das sie häufig als Zwischenlage ihrer Unterlagen verwendete, legte es über den Schnipsel mit der Notiz und zog die Arbeitslampe näher heran, sodass der helle Schein jetzt direkt darauffiel. Schließlich nahm sie einen weichen Bleistift und schraffierte die Fläche mit der Signatur auf dem dünnen Papier. Wie erhofft zeichneten sich die Buchstaben und Ziffern schwach darauf ab.

      Sie schob das gefundene Pergamentstück zur Seite, legte das Seidenpapier auf den weißen Schreibblock, griff nach dem Schirm der Leselampe und zog ihn noch etwas tiefer. Kniff die Augen zusammen und starrte die Schraffur an. Doch noch immer war nichts deutlich zu erkennen.

      Verena beugte sich zu ihrer Tasche und wühlte darin herum, bis sie ihr Vergrößerungsglas fand. Mit seiner Hilfe kristallisierten sich endlich die ersten beiden Zahlen heraus. Sie notierte auf ihrem Block neben dem Seidenpapier eine Fünf und eine Zwei. Die folgende schien eine Drei zu sein – oder ein B. Sie schrieb beides in Klammern hinter die ersten zwei Zahlen. Bei den nächsten Stellen war sie sich sicher: Einer Eins folgte eine Fünf.

      Kurz setzte sie sich auf, streckte sich und rieb sich über die Augenlider, bevor sie sich wieder über das Vergrößerungsglas beugte. Die nächste Zahl konnte eine Eins sein, sah jedoch anders aus als die Eins zuvor, sodass auch eine Sieben in Frage kam. Wieder setzte Verena beide Zahlen in Klammern. Die letzten beiden Ziffern waren zum Glück wieder deutlicher zu erkennen. Eine Eins und eine Zwei.

      »GStA PK«, schrieb sie in großen Buchstaben auf ein neues Blatt. Die Abkürzung für Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Dann »FM« für Freimaurer und »5.2«. Sie betrachtete die nächste in Klammern geschriebene Zahl und den Buchstaben. Natürlich, dachte sie, das ist keine Drei, sondern ein B. B für Berlin. Sie atmete auf. Die nächsten drei Ziffern sollten die Loge bezeichnen. Sie schrieb »151« und setzte die Alternative »157« in Klammern.

      Erschöpft, aber bestärkt durch ihren Erfolg lehnte sie sich zurück. Jetzt wollte sie noch herausfinden, welche Logen sich hinter den zwei Zahlen- und Buchstabenkombinationen verbargen. Doch nicht mehr hier an ihrem Arbeitsplatz. Zu Hause in ihrem Zimmer hätte sie mehr Ruhe