Das Erbe der Vogelmenschen. Federica de Cesco

Читать онлайн.
Название Das Erbe der Vogelmenschen
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958903173



Скачать книгу

Vision. Der Zeichner ging von dem aus, was er sah, einem genau definierten Werk, und schuf daraus etwas Neues, ein Rätsel, ein Omen vielleicht. Seine Skizze war schlicht wie die eines Kindes, dabei jedoch merkwürdig dreidimensional. Leos Bauchmuskeln zogen sich zusammen. Sie glaubte, in die Tiefe zu sehen – in eine Tiefe, in der sich ein menschliches Antlitz verbarg. Seltsam! Instinktiv beugte sie sich vor, konnte es trotzdem nur unscharf wahrnehmen, weil sich an der Seite ihres linken Auges ein Kreis kleiner Blitze ausdehnte.

      Leo sah diesen Blitzkreis nicht zum ersten Mal. Unruhe überfiel sie. Nimm dich zusammen, verdammt! Nicht hier, nicht jetzt! Sie kämpfte gegen einen Zustand an, der ständig im unpassenden Moment zutage trat, als der junge Mann plötzlich den Kopf hob und sie anlächelte.

      »Da!« sagte er unbefangen und hielt ihr das Bild hin! »Gefällt es dir?«

      Schlagartig hatte er sie abgelenkt. Leo holte tief Luft, sog den Sauerstoff in ihre Lungen. Es war noch einmal gut gegangen. Der flimmernde Blitzkreis verschob sich, die Hälfte zog sich bereits hinter den äußeren Augenrand zurück.

      Sie sagte das Erste, was ihr einfiel.

      »Entschuldige, ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich hoffe, dass du es mir nicht übelnimmst.«

      »Keineswegs.« Jetzt lachte er. »Im Gegenteil, ich fühle mich großartig.«

      »Ach komm! Ich sage dir, was ich denke. Nämlich, dass ich die Skizze wunderschön finde.«

      »Skizzen sind eigentlich nur Mittel zum Zweck, damit ich mich erinnere. Ich male lieber mit Farben. Mit Temperafarben oder Acryl. Meine Bilder sind stilisiert, im Wesentlichen abstrakt. Manchmal sehen sie ganz gut aus. Aber ich versuche immer wieder etwas Neues.«

      »Was bedeutet Horus für dich?«

      »Der ägyptische Gott? Oh, der weckt in mir eine Fülle von Assoziationen. Ich würde ihn gerne malen, so wie ich ihn in meinem Kopf sehe. Das kriege ich aber noch nicht hin.«

      Leo lächelte ihn an.

      »Und wie siehst du ihn?«

      »Ich sehe ihn als Vogelmenschen.«

      In Leos Kopf ging etwas vor. Eine Verschiebung, eine rasche Abfolge von Gedanken. »Ist es nicht komisch«, dachte sie, »wie es einem manchmal so ergeht?« Sie hatte plötzlich das Gefühl, größer und stärker zu sein, Raum auszufüllen, Luft zu verdrängen mit den Bewegungen ihrer Arme. Dabei stand sie aufrecht, völlig still und unbeweglich bis auf die Augen. Und trotzdem hatte sie den Eindruck, dass sie flog, immer höher flog, an der Marmortreppe entlang, ohne die Füße vom Boden abzuheben.

      »Das ist etwas, womit ich mich abfinden muss.«

      Der junge Mann blickte sie abwartend an. Ein paar Sekunden vergingen. »Was soll ich jetzt sagen?« dachte Leo. »Er ist nur einen Schritt von der Wahrheit entfernt.«

      Mit einem Ruck fand Leo zu sich selbst zurück. Sie sah verwundert, ja fast ein wenig benommen drein.

      »Als Vogelmenschen?« Es hörte sich wie eine Frage an, obwohl es keine war. Er nickte ihr zu.

      »Wenn das Licht von der Seite kommt.«

      »Ach so«, murmelte sie geistesabwesend. »Ja, das kann sein.«

      Und dann lächelte sie. Ihr Lächeln war offen und warm wie zuvor.

      »Woher kommst du?« fragte sie.

      Sie sah wirklich interessiert aus, und er antwortete:

      »Meine Eltern kommen aus der Türkei. Sie leben aber schon seit dreißig Jahren hier. Mein Vater ist der türkische Konsul in Manchester. Ich heiße Kenan.«

      »Und ich Leonarda. Aber nenne mich Leo, sei so gut!«

      »Gefällt dir dein richtiger Name nicht?«

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Klingt mir zu sehr nach Oper.«

      »Hast du schon was gegessen?«, fragte Kenan.

      »Zwei Sandwiches. Gleich platzt mir der Magen.«

      »Wie wär’s mit einem Kaffee?«

      »Gerne.«

      Sie suchten den »Great Court« auf, holten sich Kaffee auf einem Tablett und setzten sie sich beide auf die Marmorstufen.

      »Eigentlich möchte ich auch malen können«, sagte Leo. »Aber ich bringe es nicht fertig. Manchmal verschiebt sich etwas in meinem Kopf. Ich kann nicht sagen, was es ist. Ich möchte das Bild festhalten, ehe es verschwindet. Es geht nicht. Man kann es eben nicht fotografieren. Aber malen, vielleicht.«

      »Malen ist gut«, sagte Kenan. »Aber ich mache auch gerne Musik.«

      »Spielst du in einem Orchester?«

      Er schüttelte lachend den Kopf.

      »Nein. In der Fußgängerzone. Ich spiele Panflöte.«

      »Syrinx?«

      »Ach, du kennst den griechischen Namen? Meine ist die mit den acht Pfeifen. Sie ist eigentlich ganz leicht zu spielen.«

      »Ja, ich weiß. Ich habe es mal im Schulunterricht gelernt. Wir hatten einen netten Lehrer, der uns die griechische Kulturgeschichte sehr anschaulich beigebracht hat.«

      »Kannst du Syrinx spielen?«

      »Na ja. El Condor pasa. Aber das ist ja nicht unbedingt griechisch.«

      »Oh, dann kannst du ja eigentlich alles spielen.«

      »Aber warum spielst du auf der Straße?«

      »Weil vor mir eine kleine Silberschale steht. Und manchmal fällt ein Geldstück hinein. Damit zahle ich dann mein Mittagessen.«

      »Macht das Spaß?«

      »Mir schon. Ich ziehe eine Jacke mit Fransen über und stecke mit ein paar Federn ins Haar.«

      »Adlerfedern?«

      Er prustete.

      »Ich denke eher Hühnerfedern. Ich habe sie hinter einem chinesischen Restaurant gefunden. In einer Mülltonne. Sie stanken nach Sojasauce, aber ich habe sie gewaschen, und jetzt sehen sie wieder ganz gut aus.«

      »Und warum machst du das?«

      »Ich besuche die Stade School of Fine Art in Bloomsbury. Die Schule hat ein sehr dynamisches Konzept. Wir haben viel kreative Freiheit. Experimentieren wird nicht nur zugelassen, sondern gefördert.«

      »Cool«, sagte Leo.

      Sie erzählte ihm ihrerseits, dass sie im vergangenen Jahr Abitur gemacht hatte und in Lausanne Archäologie studierte.

      »Das Gleiche wie früher mein Vater. Jetzt leitet er Ausgrabungen auf internationalem Niveau. Er verfasst Artikel in Fachzeitschriften und hat vier Bücher veröffentlicht. Er schreibt sehr gut, weißt du. Er mixt fundiertes Wissen mit amüsanten Anekdoten, sodass sich keiner bei der Lektüre seiner Bücher langweilt. Nicht einmal ich. Vorläufig arbeite ich an meiner These, aber die kommt nur langsam vorwärts.«

      »Worüber schreibst du?«

      »Über die Grundgestaltung der Chephren-Pyramide, das numerische Verhältnis zwischen Basis und Höhe, das sich nach der geometrischen Unterteilung des Sonnenjahrs richtete.«

      »Kompliziert?«

      »Sagen wir mal, kein Kinderspiel. Die Ägypter haben die Geometrie ja erfunden. Oder zumindest von einem noch älteren Volk übernommen. Ich habe Geometrie und Mathematik schon geliebt, als ich noch zur Schule ging. Darin war ich Klassenbeste. Aber in allen anderen Fächer hoffnungslos verblödet.«

      Kenan schüttelte den Kopf.

      »Sorry, über Geometrie kann ich mich nicht unterhalten. Hoffnungslos verblödet, wie du sagst.«

      »Und ich kann nur Strichmännchen malen. Sag, wohnst du bei deinen Eltern?«

      »Nur, wenn ich