Das Erbe der Vogelmenschen. Federica de Cesco

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Название Das Erbe der Vogelmenschen
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958903173



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      In ihrem Leben hatte Katja eine einzige große Liebe gekannt: Hugo Cloud Singer Walker, einen Tenor, der in den USA in einem Reservat aufgewachsen war. Die Ehe endete 37 Jahre später mit Hugos Tod. »Jeder geht anders mit der Trauer um«, hatte Katja damals gesagt. »In schwierigen Lebenslagen war es stets die Musik, die mir geholfen hat. Als ich Hugo verlor, saß ich zwei Tage später vor dem Flügel. Die Musik gab mir Ruhe und Kraft. Sonst hätte ich mir im Wohnzimmer die Pulsadern aufgeschnitten und eine große Schweinerei hinterlassen.«

      Katja hatte mit Hugo kein zweites Kind gehabt. Jan trug den Namen seines flämischen Vaters. Er hatte Lena Mingroot geheiratet, eine Bibliothekarin, die an der Universität von Löwen arbeitete. »Flamen unter sich«, pflegte Katja zu sagen. Lena war klein, hübsch gewachsen, mit den anmutigen Gebärden und dem graziösen Gang einer Ballerina.

      Die Schwiegereltern? Die waren weit weg, lebten in der Demokratischen Republik Kongo, einer ehemaligen belgischen Kolonie, wo sie Bantu–Kindern aus prekären Verhältnissen das Einmaleins beibrachten. So weit, so gut. Und Leo kam zwei Jahre später zur Welt. Es war eine schwere Geburt. Lena liebte ihre kleine Tochter sehr, allerdings auf eine seltsame, scheue Art. Und als Leo 13 Jahre alt war, zog sich Lena zurück. Nicht völlig, nicht auf einmal, jedoch zielstrebig. Sie trug ihre Verantwortung, gewiss. Sie gab ihr Bestes, aber sie wollte in erster Linie sich selbst gegenüber aufrichtig sein. Sie wollte nicht depressiv werden.

      Ihre Ehe mit Jan? Beide konnten schlecht mit Konflikten umgehen. Jan schrieb ein Buch über die Spuren der Kelten in Mitteleuropa und kreiste nur noch um sich selbst. Mit Yoga und den Sprüchen des Dalai Lama hatte er nichts am Hut. Lena erklärte, dass sie zu ihren Eltern nach Afrika gehen wollte. Sie hatte sie schon so lange nicht mehr gesehen. Oh, nur für ein paar Monate. Vielleicht würde sie auch länger bleiben, wer weiß. Und Leo könnte ja beim Vater wohnen und sie in den Schulferien besuchen.

      Jan meinte, das sei keine schlechte Idee, und wollte wissen, was Leo davon hielt.

      Dabei fragte sich Leo, ob ihr Vater nicht merkte, dass Lena krank war. Krank an Geist und Seele? Ihre kindliche Vorstellungskraft ließ sie spüren, dass Lenas Gefühle ihr gegenüber zunehmend verwirrter und ungerechter wurden. Es bedrückte sie sehr, den Grund dafür nicht zu wissen. Sie war sich keiner Schuld bewusst. Sie wusste nur, dass Lena ihr Weggehen wie eine Befreiung empfand. Weg von dem Mann, weg von der Tochter! Sie wollte ihr vergangenes Leben entsorgen, wie einen vollen Müllsack hinter einer Mauer.

      Leo litt sehr unter der Trennung. Aber es war besser für Lena, dass sie ging. Leo war vernünftig genug, um das zu beurteilen. Sie legte der Mutter keine Steine in den Weg.

      Seitdem waren sieben Jahre vergangen. Und jetzt saß Leo bei ihrer Großmutter im Jugendstil-Wohnzimmer, balancierte ungeschickt eine wertvolle Porzellantasse und wartete voller Ungeduld auf das, was Katja ihr zu sagen hatte. Umso grösser war ihre Enttäuschung, als sie bemerkte, wie Katja plötzlich unsicher wurde. Solange sie sich erinnern konnte, hatte Leo noch nie erlebt, dass sich ihre Großmutter verhaspelte. Ihre Aussagen waren stets gelassen und perfekt formuliert. Jetzt suchte sie nach Worten, schüttelte den Kopf oder schnippte ungeduldig mit den Fingern. Dabei schaute sie Leo nicht an, sondern starrte an ihr vorbei auf irgendeinen Punkt hinter ihrer Schulter. Ihr Geist schien in verschiedenen Sedimenten zu tasten. Es war, als folgten ihre inneren Augen den von Schicht zu Schicht gleitenden Gedanken, während sich ihre Stimme, die von Natur aus rau klang, allmählich festigte. Nach und nach gewann sie ihre übliche Sicherheit zurück, ihre Augen suchten die Augen von Leo, und ihr Blick war offen und amüsiert wie zuvor. Als ob sie mit ihrer ganzen Haltung ausdrücken wollte: »So, gleich haben wir’s hinter uns. Aller Anfang ist schwer!«

      Und von da an sprach sie, ohne nochmals zu stocken, mit bildhaften und ausdrucksbetonten Worten. Leo unterbrach sie kein einziges Mal, nicht nur, weil sie sich an die Abmachung hielt, sondern weil sie so verdutzt war, dass ihr keine passende Bemerkung einfiel. Zeitweise kam sie in Versuchung, laut zu lachen, was unangebracht und taktlos gewesen wäre. Und gleichzeitig konnte sie sich der beklemmenden Faszination nicht entziehen, die Großmutters Worte bei ihr auslösten. Redete sie von Träumen, die eher in die Praxis eines Psychiaters gehörten, oder von Ereignissen, die sie aus dem Stegreif erfand? Eine halbe Stunde war vergangen, und Großmutter hörte nicht auf draufloszureden. Leo balancierte ihre Porzellantasse und saß fassungslos da. »Wie ein erstarrtes Kaninchen vor einer Klapperschlange«, würde sie später ihren Zustand beschreiben.

      Immerhin wusste Leo bereits, dass man sich in seinem eigenen Gedankenfluss verlieren konnte. Und einige beunruhigende Situationen hatte sie auch schon erlebt. Nach dem letzten Vorfall war sie bei einer Neurologin gelandet. Und Katja hatte seltsam reagiert, als sie ihr den Zwischenfall schilderte. Vordergründig desinteressiert. Als ob sie sagen wollte: Nun mach doch nicht so ein Theater daraus! Leo hatte sich ratlos gefühlt. War Großmutter womöglich schon reif für die Klapsmühle? Alles in allem hatte sie nicht diesen Anschein erweckt. Sie machte eigentlich einen sehr beherrschten, mitunter sogar gebieterischen Eindruck. Ihre Schilderungen waren sehr bildhaft und voller Gleichnisse, aber Katja sprach ja oft im Ton einer Märchenerzählerin. Im Übrigen war sie scharfzüngig, mit einem Hang zum pikanten Sarkasmus, der auch jetzt gelegentlich zum Vorschein kam. Nichts für empfindliche Gemüter. Dazu kam, dass sie in ihrer selbstherrlichen Art von ihrer Geschichte vollkommen überzeugt schien. Leo war bestürzt. Denn das, was Katja jetzt erzählte, war eine vollkommene Umwandlung jener Geschichte, die Kinder im Vorschulalter oder unter dem Weihnachtsbaum erzählt bekommen und die tiefe Empfindungen in ihnen weckt, Empfindungen, die zu dem gehörten, was man für gewöhnlich unter »Urvertrauen« verstand. Rationale Gedanken hatten da nichts zu suchen. Und nun schilderte Katja die gleiche Geschichte, aber aus einer ganz anderen Perspektive. Leo versuchte sich einzureden, dass Katja fabulierte, wie das bei alten Menschen bisweilen vorkommt, aber allmählich war sie dessen nicht mehr so sicher. Vielleicht war ihr Katja in Gedanken ganz nahe – viel näher, als Leo ahnen konnte.

      Nachdem Katja endlich fertig war, schickte sie Leo in die Küche, um ihr ein Glas Wasser zu holen. Leo kam zurück und reichte ihrer Großmutter wortlos das Glas. Katja trank das Wasser ohne Hast, behielt jeden Schluck ziemlich lange im Mund. Ihr matt gepudertes Gesicht war mit einem leichten Schweißfilm überzogen. Als Leo ihr das Glas aus der Hand nahm, brachte sie ein elegantes Taschentuch zum Vorschein, tupfte sich Stirn und Lippen ab und sagte ohne Umschweife:

      »So. Und jetzt denkst du, dass ich eine Meise habe.«

      »Eigentlich nicht. Aber …«

      »Glaubst du mir nicht?«

      Leo holte tief Luft.

      »Um die Wahrheit zu sagen, kein einziges Wort!«

      »Um die Wahrheit zu sagen«, wiederholte Katja mit einer Handbewegung, die ihren Ärger ausdrückte. »Fuck off! Wozu habe ich mir eigentlich den Mund fusselig geredet?«

      Worauf Bijou von ihren Knien sprang und würdevoll das Wohnzimmer verließ.

       2 DIE KATZE KENNT DIE GESCHICHTE

      Danach – nach dieser Sache – geschah eine Zeit lang gar nichts. Seitens ihrer Großmutter herrschte Funkstille. In dieser Zeit begann Leo nachzudenken. Ihre Großmutter war 83 Jahre alt, aber nach wie vor mit Gesundheit, Ausdauer und Willenskraft ausgestattet. Sie empfand eine tiefe Achtung für sich selbst und für ihre Kunst. Musik war stets der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Ja, und vielleicht träumte sie von Musik und wusste in ihren Träumen von Dingen, die weit zurück in Raum und Zeit lagen? Sie hatte Leo eine Geschichte erzählt, die es in sich hatte. In vieler Hinsicht allerdings ein völliger Quatsch. War es die Sache überhaupt wert, sich darüber den Kopf zu zerbrechen?

      Leo hatte eine besondere Eigenart: Sie vermittelte den Anschein, als höre sie dem, was gerade gesagt wurde, nicht genau zu. Ihr Gesicht hatte dabei einen Ausdruck, den man – je nachdem – als abwesend oder gelangweilt bezeichnen konnte. In Wirklichkeit war sie ganz Ohr, und ihr Verstand forschte unablässig nach dem Grund der Dinge. Was auch hinter Großmutters spleeniger Story stecken mochte, womöglich war am Ende doch etwas Wahres dran.

      Irgendwie musste sie ihre Unruhe loswerden. Sie konnte zumindest