Das Erbe der Vogelmenschen. Federica de Cesco

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Название Das Erbe der Vogelmenschen
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958903173



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den Hintern versohlen. Mit dem Teppichklopfer. Auch wenn ich inzwischen einundzwanzig bin. Meine Mutter ist ein ziemlicher Hitzkopf und schimpft noch lauter. Das liegt wohl in ihrer Natur. Sie ist Jesidin.«

      »Und dementsprechend energiegeladen«, erwiderte Leo prompt.

      Er schien überrascht.

      »Weißt du etwas über die Jesiden?«

      »Nicht viel, leider. Nur eben, dass sie aufbrausend sind. Mein Vater befasst sich derzeit mit einem Fundort im Südosten der Türkei nahe der syrischen Grenze. Archäologisch recht spannend. Mein Vater und seine Kollegen wohnen in Zelten. Aber sobald sie stinken, beziehen sie ein Hotel in Urfa, der nächsten Stadt. Und nehmen ein Bad. Na ja, und kürzlich unterhielt sich Vater mit ein paar Leuten. Total freundlich und zivilisiert, bis Vater die Jesiden erwähnte. Und sofort ging es los. Eine Hasstirade nach der anderen. Und ein Vokabular wie im Mittelalter. Ungläubige, Abtrünnige, Gotteslästerer. Terroristen obendrein, von der gleichen Sorte wie die Kurden.«

      Kenan verzog unfroh die Lippen.

      »Tatsächlich sind Jesiden und Kurden miteinander verwandt. Beide stammen aus Mesopotamien. Und beide kämpfen gegen den türkischen Staat. Die Kurden fordern Unabhängigkeit. Ein hundertjähriger Stress. Und die Jesiden verteidigen ihr Leben. Sie gehen nie in die Moschee und respektieren auch nicht den Koran. Sie verehren Melek Taus, einen Engel, der durch einen heiligen blauen Pfau symbolisiert wird. Er wurde von der Sonnengottheit aus einem siebenfarbigen Regenbogen geformt. Und sie nennen sich ›das Volk des gefiederten Engels‹.«

      Leo fröstelte. Ein herrliches Gefühl. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Moment mal. Nicht jetzt. Viel zu früh.

      Sie wollte nicht leichtsinnig werden.

      »Das hört sich ja wie ein Märchen an«, sagte sie unbestimmt.

      »Da sind die Moslems anderer Meinung. Sie verwechseln den Engels-Pfau mit der Figur des Satans. In ihren Augen sind die Jesiden Teufelsanbeter.«

      »Krass!«

      »Ja, aber das beeindruckt sie nicht. Die Jesiden sind ein stolzes, selbstherrliches Volk. Und jahrhundertelang unbesiegbar. Sie haben sehr strenge Gesetze. Es ist ihre Art, sich zu schützen, ihr Leben ist ja ständig in Gefahr. Sie leben ganz für sich und dürfen nur innerhalb der Gemeinschaft heiraten. Auch meine Mutter ist äußerst selbstherrlich. Sonst hätte sie es nicht gewagt, mit einem Türken durchzubrennen, der noch dazu keinen Schnurrbart trug.«

      »Was hat das damit zu tun?«

      »Bei den Jesiden ist der Schnurrbart ein Zeichen von Männlichkeit und Mut. Aber heute gibt es eine Zäsur, ein abruptes Abschalten in ihrer Geschichte. Die Jesiden wissen ja nicht, ob sie morgen überhaupt noch da sein werden. Da hilft auch kein Schnurrbart mehr. Wer kann, flieht ins Ausland und bittet um Asyl.«

      »Würdest du auch mal einen Schnurrbart tragen?«, fragte Leo betont locker.

      Er antwortete im gleichen Ton.

      »Nein. Ein Schnurrbart kratzt. Und ich bin ein Angsthase.«

      Beide witzelten, während ihre Blicke einander auswichen. Sie waren sich der tragischen Wahrheit bewusst, dass nämlich die Jesiden im Mittleren Orient einem entsetzlichen Völkermord zum Opfer fielen.

      Leo holte beklommen Luft.

      »Und was geschah mit deiner Mutter?«

      »Sie hat ihre Familie nie wiedergesehen. Aber sie sagt, dass sie ihre Entscheidung nie bereut hat.«

      »Dein Vater muss eigentlich ein netter Mann sein.«

      Kenan seufzte.

      »Ja, das ist er. Und er versucht, Verständnis zu haben. Aber ich strapaziere seine Geduld.«

      »Und deswegen steht der Teppichklopfer hinter der Tür«, sagte Leo, um die Stimmung etwas zu heben.

      Er lachte. Er hatte sehr schöne weiße Zähne. Aber das Lachen kam nicht wirklich von Herzen.

      »Da hat wieder meine Mutter ihre Hand im Spiel.«

      Aus Rücksicht zog Leo es vor, von was anderem zu sprechen.

      »Mein Vater achtet alte Bräuche. Er sagt: ›Es gibt verschiedene Wege, um zu erfahren, wer wir sind. Archäologie ist nur einer davon.‹ Er sagt manchmal solche Dinge. Und dann traue ich meinen Ohren nicht. Die meiste Zeit ist er stumm wie ein Fisch.«

      »An der Grenze herrscht überall Krieg«, sagte Kenan. »Hat sich dein Vater niemals in Gefahr gebracht?«

      »Er hat nie darüber gesprochen. Vielleicht, weil er nicht will, dass ich mir Sorgen mache. Viele assoziieren Archäologen mit Indiana Jones und denken, dass sie vor nichts Angst haben. Das stimmt überhaupt nicht. Politik ist für sie das gefährlichste Hindernis. Sie wissen zum Glück, wie das in solchen Ländern läuft. Hier und da eine kleine Bestechung, und sie kommen mit heiler Haut davon. Es lohnt sich nicht, für ein paar alte Steine sein Leben aufs Spiel zu setzen.«

      »Verstehe!«

      Kenan hatte glattes schwarzes Haar, das ihm ins Gesicht fiel und das er mit einer Handbewegung zurückwarf. Er war hochgewachsen, fast so groß wie Leo, mit einem merkwürdigen Schlendergang wie ein junger Hund. Leo betrachtete ihn mit ihren sonderbaren Augen, die seitwärts zu blicken schienen. Wer war dieser junge Mann? Und was würde er in ihrem Alltag verändern? Leo entschied, dass es im Augenblick nicht darauf ankam.

       6 KALTER KAFFEE

      Leo trug das Haar offen und sah überaus reizend aus. Junge Leute fanden sie unglaublich lebendig, unglaublich attraktiv. Sie fühlten sich von ihr wie magisch angezogen. Wenn sie jedoch nach kurzer Bekanntschaft plötzlich einen Rückzieher machten, lag es zweifellos daran, dass Leo sie verstörte. Sie wirkte auf sie wie eine Frau von irgendeinem anderen Stern. Leo stand nie vor dem Spiegel, auch nicht, wenn sie gerade nach einer Liebesnacht aus dem Bett kam. Sie trug auch kein Make-up, betonte nur ihre Augen mit einem dunklen Stift, den sie mit dem Finger verwischte. Sie warf ihr frisch gewaschenes Haar nach vorn, dann nach hinten, griff mit beiden Händen hinein und schüttelte ihre Locken – fertig. Auf der anderen Seite vermittelte sie das Gefühl, dass man auf sie zählen konnte wie auf einen guten Kumpel. Man konnte sich total auf sie verlassen. Sie hatte den Instinkt, in stressigen Situationen das Ruder zu übernehmen, und ihre Entscheidungen waren immer die richtigen. Aber es gab keinen Schlüssel zu ihr. Sie allein war für ihr Handeln verantwortlich. Wenn sie sprach, war es, als ob sie von vornherein keine Antwort erwartete. Es schien, als hörte sie dem, was andere sagten, nicht genau zu. Ein Verhalten, das auf manche beleidigend wirken mochte, es jedoch in keiner Weise war. Tatsächlich hatte sie aufmerksam zugehört und alles im Kopf behalten, um danach ganz offen ihre Meinung zu sagen. Sie war ehrlich aus Prinzip. Auch belehrend, wenn es darauf ankam, was gelegentlich missfiel. Ungerechtigkeiten und krasse Gemeinheit lösten in ihr eiskalte Wut aus. In solchen Fällen waren ihre Reaktionen unberechenbar. Man legte sich besser nicht mit ihr an. Doch für gewöhnlich kam man gut mit ihr aus. Sie suchte keine Konfrontation, sondern zeigte Selbstdisziplin, Intelligenz und Gelassenheit in allem.

      Künstler sind früher reif. Aber Kenan konnte nur ahnen, was in Leo vorgehen mochte, kann aber nicht an ihr Denken heran. Trotzdem vertraute er ihr, obwohl er sie erst seit zwei Stunden kannte. Er hatte keine Ahnung, warum, und machte sich überhaupt keine Gedanken deswegen. Es war einfach so. Und er unterdrückte auch nicht den Impuls, ihr seine eigenen Gedanken preiszugeben. Er sprach nonchalant, es gab in ihm keine Ruhelosigkeit. In Gefühlsdingen war er nicht – wie so viele – ins Leere hineingehängt, sodass aus seinen Erklärungen kein schusseliges Gerede wurde. Er stand fest in seiner innerlichen Welt. Und Leo verspürte den starken Wunsch, ihm zuzuhören, sehnte sich nach der Leichtigkeit des Austauschs.

      »Und was malst du am liebsten? Frauen?«

      »Nein, Vögel.«

      »Ist das wegen Melek Taus?«

      »Ja, aber auch wegen Horus. Mir gefällt, dass die Menschen schon vor vielen