Das Erbe der Vogelmenschen. Federica de Cesco

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Название Das Erbe der Vogelmenschen
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958903173



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war, denn die Mädchen waren ja fast alle im gleichen Alter. Dann bekam ich meine ersten Engagements als Solistin, und damit startete meine Karriere. Und jetzt lassen wir es dabei bewenden, ja? Ich will nicht mehr davon reden.«

      Leo nickte schweigend.

      »Und wie bringe ich das Ganze meinem Vater bei?«

      »Warte auf den richtigen Augenblick. Es wird nicht allzu schwierig sein. Ich habe ihm schon einiges erklärt. Von nun an mische ich mich nicht mehr ein. Das ist jetzt dein Problem.«

      »Aufrichtigen Dank!«

      »Gern geschehen. Sonst noch etwas?«

      Leo zögerte.

      »Wusste meine Mutter Bescheid?«

      »Ich habe nie versucht, mit Lena darüber zu reden.«

      »Warum nicht?«

      Katjas Miene versteinerte sich.

      »Das solltest du doch wissen. Weil sie Angst vor dir hatte. Deswegen.«

      Leo traf es wie ein Schlag in die Magengrube. Ein langes Schweigen folgte. Was Katja sagte, entsprach einer Wahrheit, die Leo stets unterdrückt hatte. Es hatte schon früher solche Momente gegeben. Momente, in denen sie sich am liebsten vor der Welt verkrochen hätte. Jetzt aber spürte sie das Wachsen ihrer inneren Kraft und konnte die Wahrheit akzeptieren.

      Schließlich brach sie das Schweigen mit den Worten:

      »Werde ich irgendwann wieder … normal sein?«

      »Normalität ist kein willkürlich definierbarer Zustand. Unser Gehirn ist eine komplexe Konstruktion. Normal sein, dazu bist du nicht gemacht. Überlasse das Normalsein den anderen, Leo.«

      »Kein Wahnsinn, also?«

      »Doch, aber einen heiligen. Dein Urgroßvater kämpfte für die Gerechtigkeit. Er wusste, welches Risiko er einging. Möglich, dass er exaltiert war, aber auf keinen Fall meschugge.«

      »Warum hast du mir das alles nicht schon früher gesagt? Du hast es ja auch bereits mit neun Jahren erfahren?«

      »Das verdankte ich den besonderen Umständen. Und auch du wirst zunehmend merken, dass du anders bist. Ohne gleich in die Metaphysik zu flüchten. Die bringt dir nämlich nur Scherereien.«

      »Ich weiß.«

      »Ja, zum Glück. Und dann verstehst du auch die daraus folgende Verantwortung. Das erleichtert dir die Sache erheblich. Nimm Abstand. Betrachte es als einen historischen Ableger. Und wenn du erst mal den Sachverhalt vor Augen hast, hör endlich auf, dir den Kopf zu zerbrechen. Ein Geheimnis muss einfältig sein. Sonst könnten wir es nicht bewahren. Nicht, dass wir immerzu Lust hätten, anderen Menschen zu helfen, sie verdienen es meist ja gar nicht, tut mir leid. Aber wir müssen der Gerechtigkeit dienen, egal wie, mitunter sogar gewaltsam und brutal, selbst wenn es die meisten Menschen schockieren könnte. Andernfalls würde nur das Primitivste in ihnen überleben, das nach wie vor einen Teil ihres Wesens ausmacht. Menschen sind niederträchtig und heimtückisch, und sie sind sehr clever darin, sich Verschwörungen auszudenken und Waffen zu entwickeln. Immer neue müssen es sein, und wirksamere. Atombombe? Schon passé! Der letzte Trend sind Viren, die wir auf der ganzen Welt verbreiten. Deshalb – und jenseits aller aalglatten Mahnungen und scheinheiligen Predigen – gibt es nur eins, das zählt: die Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist die Stimme der zivilisierten Welt. Bringt man sie zum Schweigen, ist alles verloren. Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Evolution mehr, keinen Fortschritt und keine Zukunft. Merk dir das. Noch Fragen?«

       4 EINE NEUE HEIMAT FÜR DIE SEELE

      »Woran denkst du?«, hätte man Leo fragen können, als sie acht Monate später am Eingang zum British Museum in der Schlange vor dem Kontrollposten wartete. Jeder Rucksack und jede Handtasche wurden geöffnet und akribisch durchsucht. Man kam nur langsam vorwärts, aber die Leute zeigten keine Ungeduld. Auch Leo nicht. Sie war ganz in ihren eigenen Gedanken versunken.

      Derweil saß ihr Vater unter der gewaltigen Kuppel der altehrwürdigen »British Library«, hatte eine Flasche Mineralwasser vor sich auf dem Tisch und brütete über Berichten aus der Vorkriegszeit über Höhlen-Fundplätze in der Türkei, die möglicherweise erlaubten, den Übergang von der Altsteinzeit zur Jungsteinzeit zu erforschen. Leo würde ihn erst am Abend wieder zu Gesicht bekommen.

      Sie verstand sich gut mit ihrem Vater. Seine Absonderlichkeiten waren ihr vertraut. Bevor Leo ein paar Worte mit ihm sprechen konnte, ging es fast immer darum, den richtigen Augenblick zu erwischen, damit er überhaupt zuhörte. Wenn man im unpassenden Moment das Wort an ihn richtete, knurrte er nur mechanisch »hm«, während er mit seinen Gedanken auf dem Mond weilte. Allerdings, wenn ihm der Sinn danach stand, konnte er anschaulich und spannend Reiseabenteuer schildern und über seine Recherchen sprechen. Die Zuhörer waren beeindruckt, weil ihn sein Beruf in Länder geführt hatte, die nicht unbedingt als harmlose Ferienziele bekannt waren. Je nach Laune konnte er sich sogar als amüsanter Causeur entpuppen, der eine ganze Tischrunde zum Lachen brachte. Man musste nur gut einschätzen, in welcher Stimmung er gerade war. Für Leo kein Problem. Sie las in ihm wie in einem offenen Buch.

      Die Sonne schien bereits hell an diesem Septembermorgen. Im »Great Court«, dem weiträumigen Atrium, blendete das Licht. Leo ging die geschwungene Marmortreppe empor, wanderte gemächlich von einem Raum zum anderen, blieb ab und zu stehen, um ein Objekt genauer zu betrachten.

      Im Museum war der Aberglaube wenig präsent, es sei denn als Thema für eine Spezial-Ausstellung. Aber der Mythos war überall, eine Konstante. Der Mythos war ein Akt des Lebens, ein Ausbruch der Kreativität. So wirklich und präzise wie ein ästhetischer Genuss, ein Zeichen und Siegel der Kultur.

      Und Leo erinnerte sich. Sie wohnten damals in Freiburg, wo ihr Vater Jan für zwei Jahre einen Lehrstuhl an der Albert-Ludwigs-Universität innehatte. Leo war damals zwölf Jahre alt. Es war im Gymnasium, im Geschichtsunterricht. Sie saß brav und aufmerksam an ihrem Platz, während Frau Försterling, die neue Lehrerin, von alten Religionen sprach. Sie erzählte von Marduk, dem Schutzherrn von Babylon, und seinem ständigen Begleiter, dem Schlangendrachen. Sie erzählte von der Göttin Inanna, der Himmelskönigin, die in Vogelgestalt die Menschen beschützte. Dann kam sie auf das alte Ägypten zu sprechen. Sie zeigte Bilder: die Pyramiden, die Büste der Nefertiti und die prachtvollen Grabkammern der Pharaonen. Und auch Mumien von Katzen, an denen man noch die kleinen Ohren erkennen konnte. Die Kinder fanden das lustig. »Im alten Ägypten wurden Katzen verehrt«, sagte die Lehrerin. »Sie waren der Göttin Bastet geweiht, weil sie Mäuse jagten und das Korn schützten.«

      Es gab auch Mumien von Vögeln, ja sogar von Skarabäen, präpariert für die Ewigkeit. »Der Skarabäus war ein Symbol der Sonne und wurde als Amulett getragen«, erklärte Frau Försterling. »Das hört sich seltsam an, aber die Ägypter waren sehr abergläubisch. Und da Moses in Ägypten erzogen wurde, stand auch er unter dem Einfluss der ägyptischen Kultur. Aber am Ende hat das Christentum den Aberglauben besiegt.«

      Freiburg ist eine katholische Stadt, und die Lehrerin war katholisch. Und sie kannte sich zweifellos in der Materie gut aus. In der nächsten Viertelstunde berief sie sich auf das Alte Testament, betonte den Unterschied zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern.

      Leo saß ruhig da und starrte vor sich hin. Nach einer Weile hob sie die Hand und meldete sich. Frau Försterling nickte ihr wohlwollend zu.

      »Ja, Leonarda?«

      »Wo ist der Unterschied?«, fragte Leo, die es nicht mochte, wenn man sie bei ihrem vollen Namen nannte. »Ich meine … wieso ist ein einziger Gott wahr und alle anderen falsch?«

      Frau Försterlings Problem war, dass sie sich zu Leo hingezogen fühlte. Leo war niemals unhöflich oder vorlaut. Aber das, was sie sagte, war stets unberechenbar.

      Frau Försterling verzog die Lippen zu einem Lächeln.

      »Leonarda, ich bin mit dir einverstanden, dass wir heutzutage nicht mehr alles schlucken. Und was unsere Religion betrifft, gebe ich dir insofern recht, dass