Das Erbe der Vogelmenschen. Federica de Cesco

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Название Das Erbe der Vogelmenschen
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958903173



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unbestritten. Soviel ich erfahren habe, ist dein Vater Archäologe. Er wird dir bestimmt einiges erklärt haben.«

      Leo nickte.

      »Ja, aber er sagt etwas ganz anderes.«

      »Was sagt er denn?«

      »Er sagt, dass jedes Volk seine eigene Religion erfunden hat. Und dass jedes Volk an einen anderen Gott glaubt. Oder an viele Götter, je nachdem.«

      Frau Försterling wirkte leicht aus dem Konzept gebracht.

      »Aber du selbst? Was denkst du über Gott? Ich meine, über unseren Gott?«

      »Ich denke, dass er wie alle anderen erfunden wurde.«

      Leo sah so eigenwillig aus, wie es ihr Wesen ja auch war. Ihre hohe Stirn war gewölbt, die Wangenknochen schmal, der Mund klein und schön geformt, das Kinn eher spitz. Ihre Nase war lang und schmal, ihre Brauen trafen auf der Nasenwurzel fast zusammen, was ihrem Gesicht einen besonderen Ausdruck verlieh, einen Ausdruck von Skepsis und Klugheit. Ihr Hautbild war ebenmäßig mit einem leuchtenden Schimmer. Ihre Augen waren dunkel und mandelförmig. Die großen Pupillen schienen nicht geradeaus, sondern immer ein wenig von der Seite zu blicken, was ihnen einen eigentümlichen Reiz verlieh. Noch als sie im Kinderwagen lag, hatten die Leute ihrer Mutter Komplimente gemacht. Nein, sie hatten noch nie ein erstaunlicheres Baby gesehen! Ein Baby, das munter drauflos plapperte, das jeden unbefangen anlächelte, mit diesem unwiderstehlichen Blick. Strahlend. Die Leute waren entzückt, in erster Linie die Frauen, die Mütter vor allem. Das hatte man Leo erzählt. Ein bezauberndes Baby, ein richtiges Engelchen. Sie wollten es berühren, es streicheln. Wer hätte diesem Baby widerstehen können?

      Lena lächelte immer freundlich, wenn die Leute ihr Baby bewunderten. Ja, sie hatte tatsächlich Glück mit der Kleinen: Sie war ein liebes Kind, das artig seinen Brei aß und in der Nacht wenig schrie.

      Später hatte Leo erfahren, dass nur einige enge Freunde Lenas Geheimnis kannten. Dass ihr Baby viel zu groß und zu schwer für sie gewesen war. Dass Leo mit Kaiserschnitt zur Welt gekommen war. Ihre Geburt hatte Lena fast das Leben gekostet. Sie hatte zu viel Blut verloren. Und jetzt konnte sie nie wieder ein Kind bekommen.

      Natürlich liebte Lena ihr kleines Mädchen. Natürlich war sie eine fürsorgende Mutter. Wenn Leo in der Nacht aufwachte oder keinen Schlaf fand, dann war Lena immer da, streichelte sie und fand die richtigen Koseworte, die Leos Empfindungen entsprachen, sodass sie auch bald wieder einschlief. Und Lena schaute sie an und dachte, mein Gott, wie hübsch dieses Kind doch ist und wie friedlich es schläft! Allerdings war da immer etwas, das sie verwirrte: das Gefühl einer absoluten Fremdartigkeit. Aber warum machte sie sich Sorgen? Und worüber eigentlich? Von Leo ging nichts Böses aus – nein, das war es nicht. Es schien keinen vernünftigen Grund zu geben, dieses auffallende Kind nicht zu lieben. Es gab auch kein Omen, keine Prophezeiung, nur irgendeine Eigenschaft, die es unabhängig machte von jedem Verstehen. In Lenas verstörenden Wachträumen erschien ihre kleine Tochter in keiner Weise zugänglich. Wie eine Wachspuppe kam sie ihr vor. Eine Puppe hält man in den Armen und liebkost sie, aber eine Puppe ist kein richtiges Kind. Ja, und es ist viel besser, wenn man keine Gefühle für sie entwickelt.

      Solange Leo noch klein war, nahm sie diese Dinge nur mit halbem Verstand wahr. In Leo schwebten nur unmittelbare Empfindungen, unschuldig, großmütig, unbefangen. Das änderte sich schlagartig, als Leo 13 Jahre alt wurde. Die Einsicht kam für sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel, schmerzlich und vollkommen unverständlich. Es gab ein Vorher und ein Nachher. Die Mutter spürte, dass zwischen ihnen etwas war, dass sie sich unabänderlich voneinander fortbewegten. Sie hatte auch bei Jan kein Verständnis gefunden. Er war zu sehr in seine Arbeit vertieft. Wenn sie ihn darauf ansprach, sagte er: »Alles nur Einbildung! Mach doch eine Psychotherapie. Die zahlt dir sicher die Krankenkasse.« Lena erlebte Schmerz, Wut und Einsamkeit. Und als dieser andere Mann in ihr Leben trat, heiter und unkompliziert, da zögerte sie nicht lange und reichte die Scheidung ein. Es ging nicht mehr um eine Konkret- oder Abstrakt-Wahrnehmung. Es ging darum, eine neue Heimat für ihre Seele zu finden.

      Wenn es sich um ihre Mutter handelte, dachte Leo sehr langsam und in Bruchstücken. Zunächst handelte es sich nur um ein Gefühl, das sie sprachlich überhaupt nicht fassen konnte – weil es etwas war, das allein in der intuitiveren Verborgenheit entsteht. Es waren keine bewussten Gedanken, lediglich Empfindungen, die sich aus unbemerkten und vergessenen Informationen zusammensetzten und sich zu einer Ahnung zusammenfügten. Keine eingebildeten Erinnerungen, nein, sondern eine Botschaft aus unendlicher Ferne. Und irgendwann erkannte Leo die Wahrheit, so klar und unleugbar, als hätte man sie ihr ins Gesicht geschleudert. Es hatte eine Konfrontation stattgefunden, und sie war daraus als Siegerin hervorgegangen. Und sie weinte um ihre Mutter, diese kluge, liebevolle Frau, die in ihr ein Monstrum sah.

       5 HORUS WAR EIN VOGELMENSCH

      Leo war froh, dass sie den Tag im Museum verbringen konnte. Sie schlurfte inmitten von Menschentrauben durch Hallen und Korridore. Der Eindruck von Fließendem. Sie ignorierte die Besucher, die vor Statuen und Gemälde standen. Sie selbst ging von Voraussetzungen aus, die alles andere als harmlos waren. Ihre historischen und archäologischen Kenntnisse waren ganz anders, und ihre Gedankengänge logisch. Gedankengänge, die sich stets nach einer empirischen Wirklichkeit richteten. Dazu kam, dass sie immerfort an Katja denken musste. Ihr Blick war aus der Ferne auf ihre Großmutter gerichtet; sie vermeinte sogar, den Klang ihrer Stimme zu hören.

      »Was ist eigentlich Kunst, wenn nicht eine besondere Art von Intelligenz? Was fällt dir auf, wenn du vor einem guten Bild stehst? Zunächst natürlich die Farben, die Harmonie der Komposition. Schau genauer hin, betrachte das Verhältnis zwischen Form und Symmetrie, zwischen Abstraktion und komponierender Gestaltung.

      Doch ganz gleich, wie und wie lange du ein Bild auch betrachtest, in erster Linie gehst du von dem aus, was du tatsächlich siehst. Ja, und dann kannst du vielleicht sein wirkliches Wesen erkennen. Und noch etwas. Der Künstler weiß nicht immer, dass er im Grunde eine andere Welt malt. Eine Welt, die eigentlich nicht gemalt werden sollte, weil sie auf eine verborgene Wirklichkeit weist.«

      Ein Museum ist ein Ort der Entdeckungen. Leo war schon oft hier gewesen. Vielleicht würde sie ja endlich finden, was sie zu finden erhoffte. Bisher ergaben sich nur lange, öde Strecken des Suchens, aber die gehörten wohl dazu.

      Leo suchte zunächst die »Ägyptischen Zimmer« auf. Sie war sich der Tiefe der Säle bewusst und ebenso ihrer Höhe. Hier wanderten, staunend und schweigend, jeden Tag Hunderte von Besuchern durch. In den Räumen war es dämmrig und kühl. Präparierte Mumien, eng in ihren Bandagen eingeschnürt, lagen auf Sockeln oder in Holzsärgen. Manche, in prachtvoll bemalten Sarkophagen, trugen ihre vergoldete Totenmaske, die den Körper veredelte und die Verstorbenen in Gottheiten verwandelte.

      In Glaskästen präsentierte man zwischen Tonscherben und Steinen vertrocknete Leichen. Kinder drückten ihre Hände an die Glaswände und betrachteten die Toten mit einer Mischung aus Grauen und Faszination. Manche kicherten nervös. In der Tat war der Anblick mehr irreal als erschreckend. Kinder sind sehr unbefangen. Sie wüssten nichts über die Ausweglosigkeit des menschlichen Schicksals, wäre da nicht eine diffuse Erkenntnis gewesen, etwas Beklemmendes, das eine Stelle in ihrem Bewusstsein für den Bruchteil eines Gedankens erleuchtete und sofort wieder erlosch.

      Der Raum, den Leo jetzt betrat, war in zartes graues Licht getaucht. Statuen aus Granit, Basalt oder Bronze gab es in jeder Größe, von der Monumentalfigur bis zu kleinen Plastiken auf einem Sockel oder in Vitrinen. Die Statuen schimmerten glatt und glänzend. Als Christus geboren wurde, waren sie bereits 3000 Jahre alt, einige sogar noch älter, doch Leo überkam der Gedanke, dass die noblen, sachlichen Werke maßgeblich für jedes Zeitalter waren. Ihre Proportionen hätten nicht vollkommener sein können. Es waren Statuen für die Ewigkeit.

      Und vor einem dieser Werke – einer kleineren Statue des Horus – bemerkte sie einen jungen Mann etwa in ihrem Alter, der ein Skizzenbuch in der Hand hielt. Die Statue aus Basalt stand auf einem Sockel und zeigte den Himmelsgott in seiner Gestalt als Falke mit gefalteten Schwingen. Leo trat neugierig näher, um einen Seitenblick auf die Skizze zu werfen. Der junge