Das Erbe der Vogelmenschen. Federica de Cesco

Читать онлайн.
Название Das Erbe der Vogelmenschen
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958903173



Скачать книгу

ihm seine schlaffe Hand entgegen.

      »Ich bin nicht sehr zum Reden aufgelegt. Ich habe zu viel gearbeitet.«

      »Dann solltest du nicht mit leerem Magen am Tisch sitzen, Papa«, sagte Leo in strengem Tonfall.

      Jan reichte ihr die Karte über den Tisch.

      »Verstehe kein Wort von all dem Zeug. Such einfach etwas aus!«

      »Du machst es dir leicht.«

      Sie besprach sich kurz mit Kenan und gab die Bestellung auf.

      »Mein Vater trinkt Rosé. Du auch?«

      »Gerne, aber nur ein Glas. Und wie steht es mit dir?«

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Ich nehme grünen Tee. Wein vertrage ich nicht, genau wie Katja. Sie ist meine Großmutter«, setzte sie erklärend hinzu.

      Jan hob den Kopf und brummte:

      »Was hat Katja hier zu suchen?«

      »Sie trinkt keinen Wein«, sagte Leo.

      Er nickte.

      »Umso besser. Sie ist schon verschroben genug. Und übrigens hast du viel von ihrer Art.«

      Sie blinzelte ihm zu.

      »Und übrigens bin ich auch ein wenig verschieden, findest du nicht auch?«

      »Ja, aber auf schlimmere Art.«

      Er wandte sich an Kenan.

      »Nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich ruppig bin. Ich fühle mich müde und bin hungrig.«

      Kenan lachte herzlich.

      »Bald kommt ja das Essen.«

      Jan blickte auf. Leo hatte den Eindruck, dass er Kenan erst jetzt richtig wahrnahm.

      Tatsächlich dauerte es kaum fünf Minuten, bis die bestellten Gerichte vor ihnen auf dem Tisch standen. Jan hantierte gekonnt mit den Stäbchen. Seine Laune besserte sich zusehends. Aus einer dunklen und undefinierbaren Sympathie heraus akzeptierte er Kenans Anwesenheit und wurde plötzlich gesprächig. Er erzählte von den seltenen Manuskripten, die er stundenlang entziffert hatte. »Kein Zuckerschlecken«, bemerkte er dazu und stellte erstaunt fest, dass für Kenan das Thema nicht unvertraut war. Er konnte sogar sagen, was eine Blaupause war. Jan runzelte überrascht die Brauen.

      »Woher wissen Sie das, junger Mann?«

      »Interessiert mich eben«, sagte Kenan mit vollem Mund. Jan musste sich eingestehen, dass ihm der junge Mann gefiel. Und sofort fing er an zu dozieren. Leo kannte das alles längst auswendig, aber Kenan war ganz Ohr.

      »Wir fragen uns, wieso unsere Vorfahren in der Lage waren, archaische Symbole in Schrift zu verwandeln. Hast du ein Zeichen vor dir, das – sagen wir mal vor ca. 20 000 Jahren – von wem auch immer in den Felsen geritzt wurde, aktiviert es die gleichen Gehirnstrukturen, die man heutzutage einsetzt, um beispielsweise auf dem Klo die Zeitung zu lesen. Das ist auf der ganzen Welt so, ob es sich um Literaturprofessoren handelt oder um Erstklässler. Eine besondere chemische Mischung scheint uns hervorgebracht zu haben, eine Verdichtung von Enzymen. Im Werdegang des Universums existieren wir ja nur seit einer Sekunde. Und trotzdem haben wir die Schrift erfunden, das Gedächtnis der Geschichte. Die Griechen haben einen Namen dafür: Mnemosyne – Erinnerung. Aber die Erinnerung kommt aus einem Bereich, der sich nicht belegen ließe, wenn wir nicht die Schrift hätten. Es existieren Worte, von denen wir nie wissen werden, was sie bedeuten. Weil ihr materieller Gegenstand verschwunden ist.«

      »Vielleicht können wir sie eines Tages wieder verstehen«, meinte Kenan.

      Jan war von Kenan beeindruckt. Manche junge Menschen haben die Fähigkeit, hochkomplizierte Erkenntnisse sozusagen durch die Poren ihrer Haut aufzusaugen.

      »Du musst kein guter Schüler gewesen sein«, sagte er so, dass Kenan ihn verstand. Tatsächlich brach Kenan in Gelächter aus.

      »Nein! Ich behielt nur im Kopf, was mich interessierte.«

      »So, so. Und die Lehrer?«

      »Konnten mir im Mondschein begegnen. Ich verstand manches nicht und versuchte, ein System zu finden, das zu dem passte, was in mir war. Ich konnte verschiedene Wege wählen. Und am Ende gab es für mich nur noch zwei Dinge: die Musik und die Malerei.«

      »Was für ein Instrument spielst du?«

      »Ich spiele Panflöte.«

      Jan wirkte enttäuscht.

      »Ich dachte, du spielst Klarinette oder Saxophon. Flöte, das kann doch jedes Kind. Spielst du in einem Orchester?«

      »Nein, in der Fußgängerzone.«

      Jan machte ein Gesicht, als wollte er sagen, schlimmer kann es nicht werden.

      »Wenn du keine höheren Ansprüche stellst.«

      Kenan war nicht im Geringsten beleidigt.

      »Na ja, mir gefällt das.«

      »Er hat auch schon mal ausgestellt«, fuhr Leo dazwischen, die Jans abschätzigen Ton nicht mochte. Katja hätte genauso reagiert.

      »So? Und in welcher Galerie?«

      »Nein, nein«, rief Kenan, »so weit bin ich noch nicht. Mein altes Schulhaus wurde renoviert. Als der Neubau eingeweiht wurde, kamen einige wichtige Leute. Man sagte mir, ich könnte ein paar Bilder in die Aula hängen. Eines dieser Bilder war ein Ölgemälde, es zeigt die Klippen von Dover mit einer Möwe im Vordergrund. Eigentlich ein klassisches Motiv, total langweilig, aber ich hatte die Möwe aus einer anderen Perspektive gemalt. Eine ziemlich düstere Sache. Und ich fiel aus allen Wolken, als nach all den Festreden einer der Dozenten ausgerechnet dieses Bild kaufen wollte.«

      »Vielleicht steckte eine persönliche Geschichte dahinter«, meinte Leo.

      »Das denke ich auch. Warum kaufen wir ein Bild? Ob wir es wollen oder nicht, das Bild entspricht einer intuitiven Erkenntnis. Jedenfalls kam der Rektor zu mir und sagte, dass die Bilder den Leuten gefielen. Wenn ich wollte, könnte ich sie da hängen lassen. Und kleine Preisschilder anbringen. Tatsächlich habe ich innerhalb von einem Monat vier Bilder verkauft. Das gab mir den gehörigen Schuss Adrenalin, um weiterzumachen.«

      »Hoffentlich hast du sie teuer verkauft.«

      Er schüttelte lachend den Kopf.

      »Nein, viel zu billig! Aber es war mir im Moment egal. Ich will noch mehr können, alles Mögliche experimentieren. Ich will die Farben in meinem Kopf zu Farben auf der Leinwand werden lassen. Dabei geht es mir primär um Selbstreflexion. Ich will mir selbst gegenüber aufrichtig sein.«

      Jan beobachtete ihn scharf. Irgendetwas an der Art, wie Kenan seine Worte formulierte, gefiel ihm.

      »Hm. Noch etwas anderes?«

      Kenan zögerte ein wenig, bevor er sein Smartphone hervorzog.

      »Möchten Sie ein Bild von mir sehen?«

      Jan betrachtete lange das Bild. Er war ein aufmerksamer Kunstkenner. Er bemerkte die Koordination von Auge und Hand. Hier war es die Farbe selbst, die sich zu einer fliegenden Gestalt verdichtete, ein völliger Gleichklang zwischen Schein und Wirklichkeit. Leo und Kenan blickten ihn an, warteten auf seine Reaktion. Jan hielt den Blick lange auf den Geier gerichtet. Was er für sich behielt, war die Tatsache, dass auch er als junger Mann von einem Leben als Kunstmaler geträumt hatte. Leider hatte ihm jedoch jener Funke Genie gefehlt, der ihm ermöglicht hätte, sich über den Durchschnitt zu profilieren. Und am Ende hatte er es aufgegeben.

      Er sagte zu Kenan:

      »Der Geier ist nicht nur geheimnisvoll, weil du ihn geheimnisvoll gemalt hast, sondern weil er tatsächlich geheimnisvoll ist.«

      Ein kurzes Schweigen folgte. Kenan runzelte die Stirn, als ob er intensiv nachdachte.

      »Na ja, kann sein … Der Geier ist ein Wesen, von dem ich kaum etwas weiß. Deswegen habe ich ihn