Das Erbe der Vogelmenschen. Federica de Cesco

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Название Das Erbe der Vogelmenschen
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958903173



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wurde, dann lag es nur daran, weil er Asthmatiker war. Auswandern? Kam nicht infrage! Er trug eine Verantwortung. Du kannst dir kaum vorstellen, wie es damals war: Wir waren in unserer beschissenen Welt gefangen. Österreich war an das Deutsche Reich gebunden. An jedem Gebäude flatterten Flaggen mit Hakenkreuzen. Soldaten waren überall und sangen rührselige Schnulzen: ›Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein‹. Und eins, zwei, die Absätze knallten im Takt. Meine Mutter hatte einen Cousin, ein hohes Tier bei der Partei. Ich wurde gezwungen, für die hohen Offiziere zu spielen, für Goebbels und einmal sogar für Hitler. Eine Sonate von Beethoven. Nach dem Konzert ließ er mich kommen. Der Cousin stand auch da, warf sich stolz in die Brust. Ich machte artig einen Knicks. Der Führer lobte mich sehr und tätschelte mir die Wange. Er war parfümiert. Ein französisches Parfüm, das es heute noch gibt. Ich habe den Geruch noch in der Nase. So was vergisst man nie.

      Seltsamerweise hatte ich nicht das Gefühl einer Gefahr, auch wenn die Gefahr um uns herum ihre Fangarme ausbreitete. Jüdische Familien verschwanden über Nacht. Oder auch Leute, die sich politisch nicht konform verhielten. Ihre Wohnungen wurden geplündert oder beschlagnahmt. Das Dilemma meiner Eltern war, dass sie mir etwas mitteilen mussten. Etwas, das keinen Aufschub duldete. Aber was sie mir zu sagen hatten, konnte mein Kopf mit ziemlicher Sicherheit nicht fassen. Verstehen setzt eine Spannkraft voraus, die die gesamte im Gedächtnis bewahrte Zeit umfasst und mit einbezieht. Ich war noch viel zu jung, und meine täglichen Gedanken, die reichten bei Weitem nicht aus. Dabei stand eine Katastrophe bevor, und was den Eltern blieb – war ein Funken Hoffnung: Ich könnte ja später dieses und jenes Ereignis zusammenbringen, aufrollen und wieder neu knüpfen. Und möglicherweise eines Tages die Zusammenhänge erkennen. Sagt man nicht, dass ein Stern, dessen Licht uns heute erreicht, schon vor Millionen von Jahren erloschen sein könnte?

      Außerdem eilte die Sache: Vater stand bereits unter Bewachung, weil Juden in seiner Praxis immer willkommen waren. Und so kam es, dass mir Fakten geschildert wurden, die – auf den ersten Blick – nichts mit der empirischen Wirklichkeit zu tun hatten. Das, was meine Eltern mir anvertrauten, hätten sie mir genauso gut in einer fremden Sprache vermitteln können. Und gerade deswegen berührte es mich tief. Es war, als ob ich in der Dunkelheit ein Buch zu fassen bekam und es lesen konnte. Vor meinen kindlichen Augen entfaltete sich eine fantastische Sage, die meiner Vorstellungswelt auf geheimnisvolle Weise entsprach und auf meiner Netzhaut haften blieb wie ein Nachbild. Natürlich wurde mir mit Nachdruck eingeschärft, darüber Stillschweigen zu bewahren. Aber ich war sowieso nicht sehr mitteilsam, und außerdem war das Märchen allzu fantastischintim, um mit anderen geteilt zu werden.

      Bald jedoch verschärfte sich die Lage. Und Vater musste seine Patienten informieren, dass es ihm zunehmend schlechter ging – sein Asthma war daran schuld. Und dass er sich gezwungen sah, die Praxis zu schließen, was allgemein sehr bedauert wurde. Die Praxis befand sich neben unserem Wohnhaus. Wer wusste schon, dass es eine Verbindungstür durch den Keller gab? Und wer konnte ahnen, dass es meinem Vater eigentlich nicht schlechter ging als zuvor? Und dass meine Eltern ein Dutzend jüdischer Nachbarn in der Praxis versteckt hatten? Familien, die nicht mehr rechtzeitig hatten fliehen können. Menschen, die zu unserem Leben gehörten. Mit denen wir seit Jahren befreundet waren. Alle Fenster waren fest geschlossen, man hörte keine Stimme, kein Licht drang nach draußen. Aber wie das so ist, Gerüchte entstanden und gerieten in Umlauf. Und einige Wochen später, frühmorgens, hämmerte die Gestapo an die Tür. Ich sah mit Entsetzen, wie diese Menschen, die ich alle kannte, aus ihrem Versteck gezerrt wurden. Man pferchte sie in einen Lastwagen und brachte sie nach Bergen-Belsen. Sogar die Kinder, mit denen ich jeden Tag gespielt und Schularbeiten gemacht hatte. Natürlich wurde auch mein Vater verhaftet. Meiner Mutter krümmte man kein Haar. Der Cousin wollte nett zu ihr sein. Und Hitler hatte mir ja die Wange getätschelt. Allerdings wurde das Haus beschlagnahmt. Wir wurden, wie man sagt, ›auf die Straße gesetzt‹. Mutter durfte nur einen Koffer mitnehmen. Der Cousin, das hohe Tier, wollte selbst unter unseren Kronleuchtern speisen.

      Vater hatte eine Gabe – oder eine Veranlagung, nenne es, wie du willst –, jedenfalls eine Fähigkeit zum dreidimensionalen Blick. Bei seinen Patienten visualisierte er sofort die kranken Organe. Er nahm in Sekundenschnelle ihr inneres Wesen wahr. Er konnte ihre verborgenen Gedanken lesen, was er nicht oft tat, und zwar aus reinen Gewissensgründen, denn er war ein Mann mit Prinzipien.

      Das Lager war mit einem Zaun aus Brettern und Stacheldraht gesichert; nachts wurde es von Patrouillen mit Schäferhunden bewacht und von Scheinwerfern erleuchtet. »Arbeit macht frei« stand als Willkommensspruch über den Eingang geschrieben. Man wurde zu irgendeiner sinnlosen Arbeit gezwungen, bis man vor Erschöpfung umfiel. Und was in einigen Baracken vor sich ging, konnte Vater sich vorstellen. Vater hörte das Rascheln, Flüstern, Schluchzen und Stöhnen. Und später sah er, wie man die Leichen fortschaffte. Vater unterdrückte zähneknirschend seinen Horror, hob den Spaten mit aufgeschürften Händen. Ein trockener Husten schüttelte seine Brust. Er spuckte grünen Schleim und speicherte Informationen. Sein Ohr lauschte ständig auf das, was um ihn herum geschah. Er verfasste Organisationsdiagramme, prägte sich die tägliche Routine ein und behielt alles systematisch im Kopf. Und es dauerte nicht lange, da hatte er den einzig möglichen Fluchtweg ausgemacht. Allerdings musste alles stimmen: die Uhrzeit, die Schatten. Die Wachen konnte man reinlegen, sobald die Stunde der Ablösung kam. Mit den Hunden konnte man reden. Doch, doch, Vater kannte ihre Sprache. Jeder andere hätte die Gelegenheit genutzt und das Weite gesucht. Nicht mein Vater. Er musste sein Leben nach Grundsätzen führen, die keiner verstand. Es gab diese Geschichte, die immer wieder erzählt wurde. Sie war und blieb die Definition unseres Seins. Er musste dieser Geschichte gerecht werden.

      Das bedeutet: zunächst seine Freunde, andernfalls würde keiner von ihnen mit dem Leben davonkommen. Er durfte keine Zeit mehr verlieren. Sie wirkten gefroren wie die Erde, hatten glasige Augen und Raureif auf den Lippen. Vater beschrieb ihnen im Flüsterton den genauen Weg, immer wieder, bis sie ihn auswendig kannten. Er prägte ihnen die richtige Stelle ein, die Stelle, die das dämmrige Winterlicht ab einer gewissen Uhrzeit nicht mehr berührte; dort gab es eine Lücke zwischen den Brettern. Die Scheinwerfer glitten darüber hinweg. Er sprach im Geist zu den Hunden. Keinen Mucks, ja? Er schärfte es den Hunden ein, und die Hunde gehorchten. Den ausgemergelten Fliehenden schenkte er geheime Energien, die sie stärkten. Sie baten ihn eindringlich, mit ihnen zu flüchten. Einige Frauen weinten, aber lautlos. Er sagte nein, immer wieder nein. Es kamen ja jeden Tag andere, die ihn nötig hatten. Und so war es dann auch: Alle, die seine Angaben befolgten, entkamen und retteten ihr Leben. Er selbst blieb im Lager. Er war stets ein besonnener Mann gewesen, ein Arzt eben. Jetzt hatte ihn die Unvernunft gepackt, eine Art heiliger Wahnsinn. Wir wissen nicht, wie viele von dem Fluchtweg Gebrauch machten, aber es musste sich um eine beträchtliche Zahl gehandelt haben. Höchstwahrscheinlich wurde er denunziert. Es gab Spitzel im Lager. Er wurde nicht vergast, nein. Er sollte nicht zwischen unbekannten Leichen verwesen. In seinem Fall vollstreckte man keine abstrakte Strafe. Man wollte an ihm ein Exempel statuieren. Deshalb prügelte man ihn halbtot, führte ihn als Wrack vor und knüpfte ihm einen Strick um den Hals. Und alle Lagerinsassen mussten dabei zusehen, sogar die Kinder. Die Eltern hielten ihnen die Augen zu.«

      Leo schüttelte deprimiert den Kopf.

      »Ich will nicht am Galgen baumeln!«

      »Das will keiner. Aber auch du könntest in Situationen kommen, die das Äußerste von dir verlangen. Heute sind wir fähig, Konvergenzen zwischen Nano- und Biotechnologie zu entwickeln und mithilfe der Gentechnik die gesamte Lebenswelt von Menschen, Tieren und Pflanzen auf den Kopf zu stellen. Wir haben ein leistungsfähiges Gehirn, das schon, aber kein zivilisiertes Benehmen. Das wird schon kommen. In zehntausend Jahren, vielleicht. Wenn die Welt bis dahin noch besteht. Inzwischen sind wir zu allem fähig.«

      Großmutter Katja hatte gut reden. Sie war bereits über achtzig, aber Leo hatte noch ihr Leben vor sich. Und die Perspektiven waren nicht gerade rosig.

      »Und wie ging es für dich weiter, damals nach dem Krieg?«, wollte Leo wissen.

      »Das weißt du doch. Mutter und ich lebten in einem ungeheizten Zimmer. Wasser schleppten wir in einem Eimer drei Stockwerke hinauf. Mutter hatte Tuberkulose, aber wir hatten Glück im Unglück. Das Rote Kreuz brachte uns in die Schweiz und besorgte uns eine Unterkunft bei einer netten Familie. Mutter kam in ein Sanatorium, erholte sich