Das Erbe der Vogelmenschen. Federica de Cesco

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Название Das Erbe der Vogelmenschen
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958903173



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zu reden.

      »Nett, dass du anrufst«, sagte Katja freundlich. »Wie geht es dir?«

      »Ich habe noch ein paar Fragen …«

      »Noch Fragen? Ich dachte doch, das Thema sei für dich erledigt.«

      Der Spott der alten Dame hatte Leo nie etwas ausgemacht. Das Wortgeplänkel zwischen ihnen gehörte dazu.

      »Großmutter, sei so gut …«

      Katja unterbrach sie.

      »Komm um fünf. Ich mache uns Schokolade und werde mir Zeit für dich nehmen.«

      Leo war immer pünktlich. Um fünf war sie wieder bei der Großmutter, trank die heiße Schokolade und knabberte Mandelplätzchen. Katja saß entspannt in ihrem Sessel. Sie trug ihren weißen Pullover, das Haar hatte sie mit einem silbernen Kamm hochgesteckt. Der Steinway ragte als imposantes Dekor-Element hinter ihr hoch, und auf dem spiegelblanken Deckel lag friedlich die Katze.

      Großmutter beobachtete Leo, während sie trank, und lächelte unergründlich.

      »Gut?«

      Leo konnte es nur bestätigen.

      »Himmlisch!«

      Großmutter nickte.

      »Danke. Die Wortwahl scheint mir angemessen. Und du bist zu mir gekommen, um ein paar weise Gedanken mitzunehmen?«

      »Ehrlich gesagt, die Sache lässt mir keine Ruhe.«

      »Warum glaubst du mir eigentlich nicht?«

      Leo merkte, dass ihre Hand leicht zitterte, und stellte behutsam die Tasse auf den Tisch. Bloß keinen Fleck oder – schlimmer noch – Scherben, das hätte noch gefehlt!

      »Ich fühle mich …«

      Katja hob die Brauen.

      »… verarscht?«

      »Eindeutig.«

      Obwohl Großmutter in jungen Jahren das gekannt hatte, was sie als »gute Kinderstube« bezeichnen würde, war sie recht ausgefuchst. Gelegentliche Kraftausdrücke kamen ihr ganz natürlich über die Lippen und wirkten, von ihr ausgesprochen, geradezu smart. De facto hatte sie außer ihren drei Ehen ziemlich viel erlebt, und auch die Hippiezeit war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie hatte John und Yoko gekannt, hatte im Schlamm von Woodstock unter einem dreckigen Umhang geschlafen, in den Armen eines »sexy Kerls«, dessen Namen sie vergessen hatte. Sie hatte Mai 1968 in Paris miterlebt, war mit Freunden aus dem Quartier Latin auf Barrikaden geklettert, hatte Pflastersteine gegen die Polizei geschleudert. Sie war sogar für einen Tag in Haft gewesen. »Das gehörte einfach zum guten Ton, dass man dabei war«, kommentierte sie nachträglich. Später hatte sie mit Brigitte Bardot und Roger Vadim splitternackt in den Dünen von Saint-Tropez getanzt, hatte harte Sachen getrunken und geraucht. Sie war mit einer Freundin als Rucksack-Touristin durch Nordafrika getrampt. Ein Frachtdampfer hatte sie über das Mittelmeer gebracht. Sie waren bis nach Agadez gekommen. Immer per Autostopp. Auf den Rastplätzen hatten sie Joints mit den Fahrern geraucht. Und keiner hatte sie ausgeraubt, vergewaltigt oder erstochen. Sie hatten nichts anderes erlebt als Entgegenkommen und Gastfreundschaft. Es waren andere Zeiten.

      Großmutter trauerte dieser Zeit nicht nach. Das Leben war, wie es war, man musste sich anpassen. Ihr Urteil war scharf und unsentimental. Nachsicht schien es für sie nicht zu geben. Wenn auch das Wort »herzlos« in ihren Fall entschieden ungerechtfertigt war, versetzte ihre herbe Art manche Leute in unbehagliche Stimmung. Ihr wahres Wesen blieb für viele ein Rätsel. Doch Leo sah tiefer. Was für viele wie Anmaßung wirkte, waren vielleicht nur sorgsam gehütete Verletzlichkeit und Mitleid für die Menschen, deren tragische Unvollkommenheit sie längst durchschaut hatte.

      »Hör zu«, sagte Katja. »Niemand kann dir den Gefallen tun, dir alles richtig zu erklären. Aber wenn du etwas mit genügendem Nachdruck wissen willst, sind Fragen noch immer das Beste.«

      Sie lehnte sich zurück, nahm eine abwartende Haltung ein. Und Leo stellte Fragen. Und noch mehr Fragen. Es kamen ihr immer wieder neue in den Sinn. Katja verlor nie die Geduld und erklärte ihr alles ganz genau, weder bevormundend noch herablassend. Leo wurde klar, dass Offenheit genau das war, was sie erwarten oder erhoffen konnte. Dabei hatte Katja stets ihre eigene Art zu sprechen, diesen unnachahmlichen Ton einer Märchenerzählerin. Ihre Worte beschrieben, ganz unabhängig von ihrer Bedeutung, ein Fliegen oder ein Schweben, eine vibrierende Tragfläche faszinierender Möglichkeiten – eine Ekstase. Sie sprach von allem fast gleichzeitig, aber alles, was sie sagte, hatte Hand und Fuß. Und Leo begriff recht bald, warum die Geschichte nicht in fremde Ohren dringen durfte, sondern als wohlgehütetes Familiengeheimnis von einer Generation auf die nächste übertragen wurde. Anders wäre es ja kaum denkbar gewesen. Sie begriff auch, warum einige Nachkommen nicht dazu fähig gewesen waren, die Bürde zu tragen. Klar doch, völlig einleuchtend.

      Und es spielte kaum eine Rolle, wenn die ursprünglichen Tatsachen sich irgendwann in einen Mythos verwandelt hatten und der Mythos in Aberglauben.

      »Damit muss immer gerechnet werden«, sagte ihre Großmutter. »Im Mittelalter sperrte man uns in einen Eisenkäfig, bevor man uns, an Händen und Füssen gefesselt, zum Scheiterhaufen schleppte. Nachdem man uns mit einer Zange die Fingernägel ausgerissen hatte. Keine sympathische Art, über den Jordan zu gehen. Wir waren feinere Sitten gewohnt. Das Gute an der Sache: Unsere Geschichte liegt so unendlich weit zurück, dass wir am Ende nationenlos wurden. Und mit der Zeit anfingen, die Nationen zu hassen. Und die Religion, wirst du fragen? Derzeit imponiert uns keine. Früher war alles anders, da arbeiteten wir noch mit der Religion Hand in Hand, verfolgten wir doch ähnliche Ziele. Aber nach und nach wurde das Vertrauen erschüttert. Wir entwickelten uns nicht mehr gemeinsam, sondern strukturell völlig verschieden. Und irgendwann ging alles aus den Fugen. In der Zwischenzeit hat sich nicht viel daran geändert. Wir denken nach wie vor: Wozu das formelle Getue, wenn man es auch anders machen kann?«

      Großmutter hob die Kanne, während sie weitersprach, und Leo hielt ihr die Tasse hin.

      »Da wir aus einem anderen Zeitalter kommen, sehen wir an der Weltgeschichte vorbei. Das ist unser Privileg. Aber man kann nicht in aller Ewigkeit vor unseren Augen die Welt in Stücke schlagen, ohne dass wir randalieren. Irgendeine Bemerkung?«

      »Mir wird es allmählich zu viel.«

      »Betrachte doch die Situation, wie sie ist. Und mache kein Drama daraus. Wie, glaubst du, sind unsere Vorfahren damit fertiggeworden? Gerieten sie in Rage, haben sie immer getan, was sie zu tun hatten.«

      »Gab es für sie eine besondere Methode?«

      »Eine einzige. Und die gilt immer noch: Du kommst aus einer Tür, gehst durch die nächste und wechselst von einer Welt in die andere. Fertig. Wichtig ist, dass du beide Welten klar im Kopf behältst. Mit etwas Übung kriegst du das schon hin.«

      Bijou öffnete ihr goldenen Augen, gähnte und streckte sich. Leo zog sich mit einiger Anstrengung aus dem Sessel empor. Sie ging zu der Katze und streichelte sie.

      »Hast du gut zugehört, Bijou?«

      »Wozu?« sagte Großmutter. »Sie kennt ja längst die Geschichte.«

       3 WIR HABEN NOCH KEIN ZIVILISIERTES BENEHMEN

      »Schon möglich, dass die Katze die Geschichte längst kennt«, sagte Leo. »Aber ich weiß erst seit zwei Wochen davon.«

      »Wer borniert ist, braucht eben mehr Zeit.«

      Leo kraulte die Katze, die behaglich schnurrte.

      »Sag mal, Bijou, kennst du einen guten Analytiker? Einfühlsam und per se ohne religiöse Verkrampfung? Großmutter will nämlich, dass ich die Guten belohne und die Bösen bestrafe. Produktiv und performativ soll ich sein. Und mildtätig obendrein. Angeblich bin ich dazu verpflichtet. Ich befürchte, ich entwickle eine Phobie.«

      »Du verfügst über einen bemerkenswerten Wortschatz, mein Kind.«

      »Ich