Das Erbe der Vogelmenschen. Federica de Cesco

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Название Das Erbe der Vogelmenschen
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958903173



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wir nicht verstehen, erleben wir alle mehr oder weniger häufig in Träumen, ohne uns weiter darüber zu wundern. Wir wundern uns erst, wenn wir wach werden und auf einmal die Lösung eines vollkommen rationalen Problems vor Augen haben. Tatsächlich wissen wir nur wenig von alldem. Und wir sollten vermeiden, bei Vorträgen und Kolloquien allzu selbstgefällig aufzutreten.«

      »Logisch!«

      »Nein, unlogisch. Es gibt zu viele Tendenzen, die sich nicht in die allgemeinen Ansichten fügen. Neue Erkenntnisse werden schnell angezweifelt, weil jeder seine eigene Deutung beansprucht. Ich werde ein Buch schreiben. Das ist die bequemste Art, um zu sagen, was ich zu sagen habe. Keiner soll mir ein zweites Mal einen alten Kieferknochen an den Kopf knallen.«

      »Oh, ist das schon mal vorgekommen?«, fragte Kenan.

      »Ja, in Amsterdam.«

      »Und was haben Sie mit dem Knochen gemacht?«

      »Zurück an den Absender.«

      Sie lachten, und Kenan fragte: »Und worüber werden Sie schreiben?«

      Jan war definitiv zum Reden aufgelegt.

      »Über die Anfänge der Kultur. Sie wird allgemein von Leuten gedeutet, die von Stereotypen ausgehen und irgendwann an ihre Grenzen stoßen. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass die Menschheit nicht nur eine kulturelle Entwicklung durchgemacht hat, sondern mindestens zwei. Dazwischen ist etwas geschehen, etwas sehr Gewalttätiges. Und was, wenn unsere überlieferte Geschichte lediglich die zweite wäre? Die Geschichte nach der Zerstörung? Aber mit dieser Auffassung komme ich bei allen Kollegen nicht gut an.«

      »Ich glaube«, warf Leo nachdenklich ein, »dass es Worte unter den Wörtern gibt, Bilder unter den Bildern. Und es kann ja sein, dass diese verborgenen Worte und Bilder die richtige Geschichte erzählen. Eine Geschichte allerdings, die den Leuten Angst macht.«

      Seitdem die Großmutter Leo von ihrer Abstammung erzählt hatte, gingen ihr ständig solche Gedanken im Kopf herum. Einbildung? Vielleicht. Oder vielleicht auch nicht. Zunehmend tauchten verschwommene Erinnerungen in ihr auf. Erdschattierungen, Farbabstufungen aus unendlich fernen Zeiten. Eine Sache der Genetik?

      Jan hielt noch immer den Blick auf den Geier gerichtet. In seinem Schweigen lag eine freundliche Billigung. Dann wandte er sich an Kenan:

      »Mir gefällt, dass deine Bilder die verborgene Natur der Dinge zeigen.«

      »Man kann alles mit Farben machen«, sagte Kenan. »Und wie ich morgen malen werde, wird bestimmt anders sein als heute.«

      Leo, die in kleinen Schlucken ihren heißen Tee trank, hob überrascht die Augen. Ein Lob aus dem Mund ihres Vaters? Zwischen beiden Männern schien eine gewisse Sympathie zu bestehen, eine geistige Parallele. Aber Jan würde es nicht zugeben. Lieber hätte er sich die Zunge abgebissen. Er verlangte die Rechnung.

      »So! Und jetzt eine Dusche und ab ins Bett! Unser Flug geht in aller Herrgottsfrühe.« Er klopfte sämtliche Taschen ab und brachte eine Visitenkarte zum Vorschein.

      »Da! Wenn du mal in der Schweiz bist …«

      Kenan bedankte sich höflich, aber unbeholfen, weil er keine Karte hatte. Jan wedelte mit der Hand. Nichts von Belang. Er steckte die Rechnung ein, schob seinen Stuhl zurück. Kenan erhob sich ebenfalls. Beide schüttelten einander die Hand.

      »Ich komme gleich nach«, sagte Leo.

      »Wie du willst.«

      Jan nickte desinteressiert und ging.

      »Ich kann es nicht fassen! Er mag dich«, sagte Leo, als er weg war.

      Kenan seufzte zerknirscht.

      »Er mag meine Bilder, das schon. Aber dass ich keine Karte habe, enttäuscht ihn.«

      »Ach was. Mein Vater ist kein Snob. Obwohl er das ein oder andere Mal so tut.«

      Die Dämmerung begann. Im Russell Park überzogen die ersten Schatten die Rasenfläche, aber die Baumkronen waren noch in Gold getaucht. Alle Häuser in diesem Viertel sahen gleich aus, vom Grundriss her identisch, und trotzdem war jedes Haus anders. Es war eine vornehme Gegend. In einigen Fenstern brannte schon Licht, man sah Vorhänge aus Spitze, schöne Wandverkleidungen und Kronleuchter. Das Hotel lag gleich hinter dem Park. Sie wanderten durch die ruhigen, geradlinigen Straßen. Leo lächelte vor sich hin, als Kenan zögernd nach ihrer Hand griff. Es war ein schönes Gefühl. Sie zog ihre Hand nicht zurück.

      »Vielleicht bin ich in dich verliebt«, meinte er nach einer Weile.

      Sie schüttelte leicht den Kopf.

      »Ich bin ein wenig aus den Fugen.«

      »Warum?«

      »Weil alles ganz anders ist, als ich mir es vorgestellt habe.«

      »Was hast du dir denn vorgestellt?«

      »Dass ich mir die Zeit um Museum totschlage, bis ich meinen Vater treffe, und wir uns kauend anstarren. Du hast mein Programm durcheinandergebracht.«

      »Ach, habe ich das? Und was nun?«

      »Ich kann es nicht sagen. Was denkst du eigentlich von mir?«

      »Dass du kein komplizierter Mensch bist.«

      »Wieso? Sehe ich kompliziert aus?«

      »Nur auf den ersten Blick.«

      »Und was bin ich denn jetzt?«

      »Unkompliziert«, sagte er. Sie waren beide gleich groß, ihre Gesichter waren auf gleicher Höhe, sodass sie sich in die Augen sehen konnten. Kenans Hände bewegten sich sanft über Leos Arme. Ihre Schultern waren breit und stark, ihre Arme muskulös. Das wunderte ihn, weil ihre ganze Gestalt eher schmal war.

      »Du hast viel Kraft«, sagte er.

      Sie lachte.

      »Ja, weil ich Volleyball spiele.«

      Leo wusste, dass man ihr Aussehen nicht so leicht vergaß. Das war schon immer so gewesen. Bereits als Schulkind wuchsen ihre Knochen schnell in die Länge, sie war stets größer als ihre Mitschülerinnen gewesen. Jetzt konnte sie sich zumindest erklären, warum. Sie fuhr mit ihren harten Händen den Körper des jungen Mannes entlang, als handelte es sich um eine Skulptur, vielleicht eine Statue aus Basalt. Sie dachte, was für schöne Augen er hat! Sie hatten eine seltsame Farbe, zwischen Grün und Grau. Sie schmiegte sich an ihn, legte ihren Mund auf den seinen, er suchte ihre Zunge, gierig, wild. Und als sie sich endlich voneinander trennten, schauderte sie und spürte ihr Herz oben in der Kehle pochen. Er hielt immer noch die Hände auf ihren Schultern. Schließlich hob ein tiefer Atemzug seine Brust.

      »Ich möchte dich wiedersehen«, sagte er leise.

      Sie standen vor dem Eingang des Hotels. Ein paar Leute warteten vor der Rezeption. Im Dämmerlicht schimmerte Leos Gesicht wie Seide. Ihr Ausdruck war ein bisschen skeptisch, ein bisschen ironisch.

      »Ich eigentlich auch. Aber ich bräuchte mehr Zeit.«

      »Ja, dann nehmen wir uns doch Zeit!«, sagte Kenan.

      Leo war kein unbeschriebenes Blatt mehr; sie hatte einige Männer gekannt. Aber keinen, der zu dieser Antwort fähig gewesen wäre. Alle anderen hatten es immerfort eilig gehabt. Bei ihnen gab es keine Alternative. Hop, so schnell wie möglich ins Bett. Wenn Leo nicht sofort wollte, zweifelten sie an sich selbst, ob sie genug sexy waren, drucksten herum und schmollten. Einige gerieten in eine Krise, wurden aggressiv. Leo mochte keine schmollenden Männer, aggressive schon gar nicht. Mit denen wurde sie schnell fertig. Hinterher wirkten alle ein wenig benommen.

      Kenan wusste nicht, was in ihr vorging. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Nur ihr Körper war ihm nahe, und er hatte das sonderbare Gefühl, dass sie über ihn wachte, dass er bei ihr in Sicherheit war. Vielleicht, weil sie Selbstbewusstsein und eine vollkommene Ruhe ausstrahlte. Kenan hatte das noch bei keiner Frau empfunden. Absolut unverständlich, dachte er. Ein Mann hat eine Frau zu beschützen, nicht umgekehrt. Aber er begriff, dass er ihr vertraute, bedingungslos vertraute.

      »Ich