Название | Das Passagen-Werk |
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Автор произведения | Walter Benjamin |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788026829706 |
Unter europäischen Aspekten sahen die Dinge so aus: In allen gewerblichen Erzeugnissen ging im Mittelalter und bis zum Beginn des 19ten Jahrhunderts die Entwicklung der Technik viel langsamer vor sich als die der Kunst. Die Kunst konnte sich Zeit nehmen, die technischen Verfahrungsweisen mannigfach zu umspielen. Der Wandel der Dinge, der um 1800 einsetzt, schrieb der Kunst das Tempo vor und je atemraubender dieses Tempo wurde, desto mehr griff die Herrschaft der Mode auf alle Gebiete über. Schließlich kommt es zum heutigen Stande der Dinge: die Möglichkeit, daß die Kunst keine Zeit mehr findet, in den technischen Prozeß sich irgendwie einzustellen, wird absehbar. Die Reklame ist die List, mit der der Traum sich der Industrie aufdrängt. [G 1, 1]
In den Rahmen der Bilder, die im Speisezimmer hingen, bereitet sich der Einzug der Reklameschnäpse, der Kakaos von van Houten, der Konserven von Amieux vor. Man kann natürlich sagen, daß der gutbürgerliche Komfort der Speisezimmer am längsten in den kleinen Cafés etc. überdauert habe; man kann aber vielleicht auch sagen, daß der Raum der Cafés, in dem jeder Quadratmeter und jede Stunde pünktlicher als in Mietskasernen bezahlt wird, sich aus diesen entwickelt habe. Die Wohnung, aus der ein Café gemacht wurde〈,〉 ist ein Vexierbild mit der Aufschrift: Wo steckt hier das Kapital? [G 1, 2]
Grandvilles Werk sind die sybillinischen Bücher der publicité. Alles was bei ihm in der Vorform des Scherzes, der Satire vorhanden ist, gelangt als Reklame zu seiner wahren Entfaltung. [G 1, 3]
Prospekt eines pariser Textilwarenhändlers aus den dreißiger Jahren: »Messieurs et Mesdames / Je vous supplie de jeter un regard d’indulgence sur les observations suivantes: le désir que j’ai de contribuer à votre salut éternel me porte à vous les adresser. Permettez-moi d’attirer votre attention sur l’étude des Saintes-Ecritures, ainsi que sur l’extrême modération des prix que j’ai introduit le premier dans mes articles de bonneterie, dans mes cotonnades etc. Rue Pavé-Saint-Sauveur 13.« Eduard Kroloff: Schilderungen aus Paris Hamburg 1839 II p 50/ 51 [G 1, 4]
Superposition und Reklame. »Im Palais royal fällt mir letzt, zwischen den Säulen des obern Stocks, ein lebensgroßes Gemälde in Oel, das einen französischen General in seiner Galla-Uniform mit sehr lebhaften Farben darstellt, in die Augen. Ich nehme mein Glas heraus, um das historisch Dargestellte des Bildes näher zu betrachten, und mein General sitzt im Lehnstuhl mit einem nackten Fuß, den er dem vor ihm knieenden Hühneraugendoktor hinhält, und sich von ihm die Hühneraugen ausschneiden läßt.« T. F. Reichardt: Vertraute Briefe aus Paris Hamburg 1805 I p 178 [G 1, 5]
Im Jahre 1861 tauchte an den londoner Mauern das erste lithographische Plakat auf: man sah den Rücken einer weißen Frau, die dicht in einen Shawl gehüllt soeben in aller Hast den oberen Absatz einer Stiege erreicht hatte, den Kopf halb wendet und, den Finger auf den Lippen, eine schwere Tür einen Spalt weit öffnet, durch den man den gestirnten Himmel erkennt. So affichierte Wilkie Collins sein neues Buch, einen der größten Kriminalromane, die »weiße Frau«. Vgl. Talmeyr: La cité du sang Paris 1901 p 263/64 [G 1, 6]
Es ist bezeichnend, daß der Jugendstil am Interieur versagte, demnächst auch an der Architektur, aber auf der Straße, als Plakat oft sehr glückliche Lösungen fand. Das bestätigt durchaus die scharfsinnige Kritik von Behne: »Keineswegs war der Jugendstil in seinen ursprünglichen Absichten lächerlich. Er wollte eine Erneuerung, weil er die absonderlichen Widersprüche zwischen der nachgemachten Renaissancekunst und den neuen, durch die Maschine bedingten Produktionsmethoden wohl erkannte. Aber er wurde allmählich lächerlich, weil er die gewaltigen sachlichen Spannungen formal, auf dem Papier, im Atelier glaubte lösen zu können.« ■ Interieur ■ Adolf Behne: Neues Wohnen – Neues Bauen Lpz 1927 p 15 Im ganzen freilich gilt doch eben für den Jugendstil das Gesetz der das Gegenteil bewirkenden Anstrengung. Die echte Ablösung von einer Epoche nämlich hat die Struktur des Erwachens auch darin, daß sie durchaus von der List regiert wird. Mit List, nicht ohne sie, lösen wir uns aus dem Traumbereich los. Es gibt aber auch eine falsche Ablösung; deren Zeichen ist die Gewaltsamkeit. Sie hat den Jugendstil von vorn herein zum Untergang verurteilt. ■ Traumstruktur ■ [G 1, 7]
Innerst entscheidende Bedeutung der Reklame: »Il n’existe … de bonnes affiches, que dans le domaine de la futilité, de l’industrie ou de la révolution.« Maurice Talmeyr: La cité du sang Paris 1901 p 277 Derselbe Gedanke, mit dem hier in der Frühzeit der Bürger die Tendenz der Reklame durchschaut: »La morale, en somme, dans l’affiche, n’est donc jamais où est l’art, l’art n’est jamais où est la morale, et rien ne détermine mieux le caractère de l’affiche.« Talmeyr 〈La cité du sang Paris 1901) p 275 [G 1, 8]
Wie gewisse Darstellungsweisen, typische Szenen etc. im 19ten Jahrhundert beginnen, in die Reklame hinüber zu »changieren«, so auch in das Obszöne. Der nazarenische Stil wie auch der Mackartstil hat seine schwarzen oder selbst farbigen lithographischen Verwandten im Gebiet der obszönen Graphik. Ich sah ein Blatt, das auf den ersten Blick etwas wie Siegfrieds Bad im Drachenblute hätte darstellen können: grüne Waldeinsamkeit, Purpurmantel des Helden, nacktes Fleisch, eine Wasserfläche – es war die komplizierteste caresse dreier Leiber und sah aus wie das Titelbild einer billigen Jugendschrift. Das ist die Farbensprache der Affichen, die in den Passagen geblüht haben. Wenn wir erfahren, die Portraits berühmter Cancantänzerinnen wie Rigolette und Frichette hätten dort ausgehangen – wir müssen sie so koloriert denken. Falschere Farben sind in Passagen möglich; daß Kämme rot und grün sind, wundert keinen. Schneewittchens Stiefmutter hatte solche, und als der Kamm sein Werk nicht getan hatte, da war der schöne Apfel, der nachhalf, halb rot, halb giftgrün wie die wohlfeilen Kämme. Überall geben Handschuhe ihre Gastrollen, farbige, aber vor allem die langen schwarzen, von denen so viele nach Yvette Guilbert ihr Glück erhofften; und die es hoffentlich Marga Lion bringen. Und Strümpfe machen, am Nebentisch eines Ausschanks, eine ätherische Fleischbank. [G 1 a, 1]
Die Dichtung der Surréalisten behandelt die Worte wie Firmennamen und ihre Texte sind im Grunde Prospekte von Unternehmungen, die noch nicht etabliert sind. Heute nisten in den Firmennamen die Phantasien, welche man ehemals im Sprachschatz der »poetischen« Vokabeln sich thesauriert dachte. [G 1 a, 2]
1867 schlägt ein Tapetenhändler seine Affichen an den Brückenpfeilern an. [G 1 a, 3]
Vor vielen Jahren sah ich in einem Stadtbahnzuge ein Plakat, das, wenn es auf der Welt mit rechten Dingen zuginge, seine Bewunderer, Historiker, Exegeten und Kopisten so gut wie nur irgend eine große Dichtung oder ein großes Gemälde gefunden hätte. Und in der Tat war es beides zugleich. Wie es aber bei sehr tiefen, unerwarteten Eindrücken bisweilen gehen kann: der Chock war so heftig, der Eindruck, wenn ich so sagen darf, schlug so gewaltig in mir auf, daß er den Boden des Bewußtseins durchbrach und jahrelang unauffindbar irgendwo in der Dunkelheit lag. Ich wußte nur, daß es sich um »Bullrichsalz« handelte und daß die Originalniederlage dieses Gewürzes ein kleiner Keller in der Flottwellstraße war, an dem ich jahrelang mit der Versuchung vorbeifuhr, hier auszusteigen und nach dem Plakate zu fragen. Da gelangte ich eines verschossenen Sonntagnachmittags in jenes nördliche (?) Moabit, das wie für eben diese Tageszeit geisterhaft aufgebaut schon einmal vor vier Jahren mich betroffen hatte, damals als ich eine chinesische Porzellanstadt, die ich aus Rom mir hatte kommen lassen, in der Lützowstraße nach dem Gewicht ihrer emaillierten Häuserblocks zu verzollen hatte. Vorzeichen deuteten diesmal schon unterwegs darauf hin, daß es ein bedeutungsvoller Nachmittag werden müsse. Und so endete er denn auch mit der Entdeckungsgeschichte einer Passage, eine Geschichte, die zu berlinisch ist, als daß sie in diesem pariser Erinnerungsraum sich erzählen ließe. Vorher aber stand ich mit meinen beiden schönen Begleiterinnen vor einer poveren Destille, deren Auslagebuffet durch ein Arrangement von Schildern belebt war. Eines darunter war »Bullrich-Salz«. Es enthielt nichts als das Wort, aber um diese Schriftzeichen bildete sich plötzlich, mühelos jene Wüstenlandschaft des ersten Plakats. Ich hatte es wieder. So sah es aus: Im Vordergrunde der Wüste bewegte ein Frachtwagen sich vorwärts, den Pferde zogen. Er hatte Säcke geladen, auf denen »Bullrich-Salz« stand. Einer dieser Säcke hatte ein Loch, aus dem Salz schon eine Strecke weit auf die Erde gerieselt war. Im Hintergrunde der Wüstenlandschaft trugen zwei Pfosten ein großes Schild mit den Worten »Ist das Beste«. Was tat aber die Salzspur auf dem Fahrwege durch die Wüste? Sie bildete Buchstaben und die formten ein Wort,