Die Klinik am See Staffel 1 – Arztroman. Britta Winckler

Читать онлайн.
Название Die Klinik am See Staffel 1 – Arztroman
Автор произведения Britta Winckler
Жанр Языкознание
Серия Die Klinik am See Staffel
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783740912307



Скачать книгу

      »Hallo, junge Frau«, rief Dr. Lindau, »kann man denn die Verbindung nicht wieder herstellen?«

      »Bedaure, aber Sie müssen warten, bis der Teilnehmer aus Kalkutta wieder anruft. Die Leitung ist unterbrochen. Bitte legen Sie also auf!«

      Dr. Lindau unterdrückte einen Fluch. Er reichte Marga Stäuber den Hörer, die ihn sofort auf die Gabel des Telefonapparats legte. »Halten Sie die Leitung frei, Frau Stäuber!« stieß er hervor. »Wahrscheinlich wird Astrid es noch mal versuchen.« Er zweifelte nicht daran, daß seine geliebte Tochter die Anruferin gewesen war. »Es war doch Astrid?« wandte er sich an die Sekretärin.

      »Bestimmt«, antwortet die, »obwohl ich noch gar nicht mit ihr gesprochen habe. Wer sonst wohl sollte aus Kalkutta anrufen?«

      »Eben«, brummte Dr. Lindau und gab Marga Stäuber zu verstehen, daß er sich vorläufig nicht aus seinem Zimmer entfernen würde. »Keine Anrufe durchstellen, Frau Stäuber«, setzte er hinzu. »Außer Haustelefonate über die Hausleitung«, betonte er und verschwand in seinem Zimmer.

      Ungeduldig wartete er auf einen neuen Anruf seiner Tochter. Er versuchte, dabei einige Krankengeschichten aufzuarbeiten, konnte sich aber nicht richtig konzentrieren. Auf verschiedene Berichte und Hinweise hinsichtlich einiger zu untersuchenden Sprechstundenpatienten reagierte er zerstreut. Mit jeder Minute, die verging, steigerte sich seine Nervosität. Ernsthaft machte er sich Sorgen um Astrid und redete sich mehr und mehr ein, daß dort in Indien irgend etwas passiert sein mußte. Aber was?

      Dr. Lindau sah auf die Uhr. Es war bereits Mittagszeit. Drüben in Indien mußte ja demnach jetzt schon der Nachmittag zu Ende gehen. Da riß ihn das Klingeln des Telefons aus seinen Überlegungen. Hastig griff er nach dem Hörer und meldete sich. Da erst merkte er, daß das Klingeln vom Hausapparat kam. Ärgerlich griff er nach dem anderen Hörer. Seine Stellvertreterin, Frau Westphal war am Apparat. Sie wollte wissen, ob es noch eine Chefvisite gäbe an diesem Tag.

      Dr. Lindau zuckte unmerklich zusammen. Die hatte er doch tatsächlich vergessen. Besser gesagt – er war zum einen durch die Kaiserschnittgeburt davon abgelenkt worden und zum anderen durch den Anruf aus Kalkutta. Das durfte eigentlich nicht sein, denn die Patienten seiner Klinik mußten Vorrang haben vor privaten Dingen. »Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, Frau Kollegin«, ließ er die Ärztin wissen. »Wir holen das aber nach. Sagen wir in zwanzig Minuten, wenn die Mittagspeisung vorbei ist.« Er versuchte seine innere Unruhe hinsichtlich seiner Tochter zu verdrängen und jetzt nur noch der Arzt zu sein, der sich um seine Patienten zu kümmern hatte – ohne Rücksicht auf irgendwelche persönlichen, privaten Sorgen.

      *

      Keiner der ihn bei der Visite begleitenden Ärzte merkte dem Chefarzt etwas von der Sorge an, die er sich wegen seiner Tochter machte. Lediglich Frau Dr. Westphal schien zu spüren, daß Dr. Lindau ab und zu für Sekunden mit seinen Gedanken woanders war. Forschend sah sie den Leiter der Klinik am See einige Male an, stellte jedoch keine Fragen.

      Dr. Lindau entgingen die forschenden Blicke der Ärztin nicht. Er rief sich innerlich zur Ordnung und zwang sich zur Konzentration. Obwohl er es eilig hatte – zum einen wegen der bald beginnenden Besuchszeit und zum anderen wegen eines erhofften nochmaligen Anrufs aus Kalkutta – nahm er sich dennoch Zeit genug, um mit den Patientinnen ein paar freundliche Worte zu wechseln. Ruhig beantwortete er die an ihn gerichteten Fragen und sprach dieser oder jener Frau Mut zu.

      Wenig später betrat er schon wieder das Vorzimmer seines Büros, in dem Marga Stäuber residierte. »Nichts?« fragte er.

      Die Sekretärin wußte, was gemeint war. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, noch nichts«, sagte sie. »Aber wir haben ja erst frühen Nachmittag, und da kann immer noch ein Anruf kommen«, fügte sie in tröstendem Ton hinzu.

      »Na ja, aber wir dürfen nicht vergessen, daß wir mehr als vier Stunden zurück sind, Frau Stäuber«, entgegnete Dr. Lindau und warf einen kurzen Blick auf die Uhr. »In Kalkutta ist es jetzt immerhin schon Abendbrotzeit«, gab er zu bedenken.

      »Na, ich denke doch, daß man auch in Indien in den Abendstunden telefonieren kann«, gab Marga Stäuber zurück. Es klang fast empört, wie sie das hervorbrachte.

      »Gewiß«, bestätigte Dr. Lindau und mußte lächeln. »Hoffen wir also das Beste.«

      Fast eine ganze Stunde lang arbeitete Dr. Lindau. Ihm wurde gar nicht einmal richtig bewußt, wie rasch die Zeit verging. Es war kurz nach drei Uhr nachmittags, als er sich hinter seinem Schreibtisch erhob und an eines der beiden Fenster trat. Sein Blick schweifte von dem vor ihm liegenden ehemaligen Schloßpark, dem nunmehrigen Klinikpark, in dem einige nicht bettlägerige Patientinnen den warmen Nachmittag genossen, hinüber zum See. Dabei fiel ihm ein, daß er noch mit Joachim Sandtner, dem Leiter der Klinikverwaltung über die Anschaffung von zwei oder drei Ruderbooten sprechen wollte. Solche Boote konnten sehr nützlich sein. Nicht nur um des reinen Vergnügens willen, sondern auch – und das vor allem – als eine Art Bewegungs-Therapie bei bestimmten Krankheitsfällen.

      Dr. Lindau ging zum Schreibtisch zurück und merkte sich das auf seinem Terminkalender vor. In diesem Augenblick hob er lauschend den Kopf. Er hatte das Läuten des Telefons im Vorzimmer vernommen. Sein Körper spannte sich. Er hörte die Stimme von Marga Stäuber. Sie war lauter als sonst. Verstehen konnte er allerdings nichts.

      Plötzlich aber brach die Stimme der Sekretärin ab. Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgestoßen.

      »Kal…kal…kutta, Herr Doktor«, rief die in der geöffneten Tür stehende Marga Stäuber aufgeregt. »Ich…, ich…, stelle durch.« Sie schien völlig durcheinander zu sein. »Es…, es ist Astrid…« Wie der Blitz verschwand sie wieder, und Sekundenbruchteile später schlug das Telefon auf Dr. Lindaus Schreibtisch an.

      Den Hörer an sich reißend und fest ans Ohr pressend, meldete sich Dr. Lindau. Zuerst vernahm er nur ein Knistern in der Leitung, das aber sofort von einem leisen Rauschen abgelöst wurde und dann – er konnte es kaum fassen – ziemlich klar die Stimme seiner Tochter.

      »Paps, hallo, bist du da?«

      »Astrid, Gott sei Dank, daß ich dich höre. Ich war schon unruhig«, rief Dr. Lindau. Erleichterung, überkam ihn. »Wie geht es dir? Ist etwas geschehen, weil du anrufst?«

      »Danke, Paps, mir geht es ganz gut…« Astrids Stimme wurde leiser und schwächer. Wieder war das störende Rauschen in der Leitung.

      »Astrid, bitte etwas lauter!« rief Dr. Lindau. »Ich kann dich so schwer verstehen. Hast du schon einmal angerufen?«

      »Ja, aber da war die Leitung dann unterbrochen«, kam die Antwort. »Hoffentlich passiert das nicht wieder.«

      »Wo bist du?«

      »Hier in Kalkutta im deutschen Konsulat«, gab Astrid zurück. »Kannst du mich jetzt besser verstehen?«

      »Ja, Astrid, jetzt geht es.«

      »Paps, ich… ich… möchte so schnell wie möglich nach Hause«, ließ sich Astrid wieder hören. »Es ist, ich… erzähle es dir später…«

      »Ist dir was zugestoßen?«

      »Nein, Paps, ich möchte nur schnell zurück – allein, ohne Peter.«

      »Wunderbar, mein Mädchen«, rief Dr. Lindau erfreut. »Nimm das nächste Flugzeug und…«

      »Gern, Paps, liebend gern«, gab Astrid zurück, »aber mir fehlt das Geld dazu. Kannst… kannst… du mir…?«

      »Aber natürlich«, unterbrach Dr. Lindau seine Tochter im fernen Indien. »Ich überweise dir telegrafisch Geld. Gleich morgen früh. Aber wohin? Ich habe dir übrigens einen Brief geschrieben. An die Adresse, die du mir damals angegeben hast.«

      »Dorthin komme ich leider nicht mehr«, antwortete Astrid. »Der Brief wird dann sicher an den Absender zurückgehen. Das Geld, Paps, schick mir bitte an das deutsche Konsulat in Kalkutta!«

      »Morgen oder übermorgen wird es dort sein«, versicherte Dr. Lindau. »Wo wohnst du jetzt?« wollte er wisse.