Die Klinik am See Staffel 1 – Arztroman. Britta Winckler

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Название Die Klinik am See Staffel 1 – Arztroman
Автор произведения Britta Winckler
Жанр Языкознание
Серия Die Klinik am See Staffel
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783740912307



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wirkte Thomas Hohmann wie ein gebrochener Mann. Er lebte aber sofort auf und bekam strahlende Augen, als er von Dr. Lindau hörte, daß es seiner Frau gutging und daß sie bald wieder nach Hause kommen würde.

      »Wann, Herr Doktor, wann?«

      »Zehn Tage wird Ihre Frau schon noch bei uns bleiben müssen«, antwortete Dr. Lindau.

      »Hm, kann ich mit ihr sprechen? Kann ich sie sehen?« fragte Thomas Hohmann voller Ungeduld.

      Lächelnd wehrte Dr. Lindau ab. »Noch nicht, Herr Hohmann«, erklärte er dem Ehemann. »Ihre Frau ist zum einen noch nicht aus der Narkose erwacht und zum anderen hat sie dann erst einmal etwas Ruhe nötig. Morgen nachmittag ist sie aber schon wieder voll ansprechbar.«

      »Dann komme ich morgen gleich nach dem Mittag«, stieß Thomas Hohmann hervor.

      »Ihre Frau wird sich darüber bestimmt freuen.« Dr. Lindau verabschiedete sich mit einem Händedruck und ging in sein Büro. Einen Augenblick lang stutzte er, als er weder seine Sekretärin noch seine Assistentin Bettina Sieber vorfand. Doch schon in der nächsten Sekunde fiel ihm ein, daß es ja bereits Abend war.

      »Tja, dann werde ich mich eben auch nach Hause begeben«, redete er leise mit sich selbst. Er vertauschte seinen weißen Kittel mit dem Jackett und verließ sein Büro und bald darauf auch die Klinik. Mit mäßigem Tempo fuhr er nach Auefelden hinein. Vor seinem Haus angekommen zögerte er ein wenig. Er dachte daran, daß ihn hier ja niemand erwartete. Er war allein. Was sollte er also hier? Unwillkürlich mußte er wieder an seine vor Jahren verstorbene Frau denken und wünschte sich, daß er die Zeit zurückdrehen könnte.

      »Quatsch, alter Knabe«, tadelte er sich selber leise, »was vorbei ist, kann man eben nicht wieder zurückholen, so schön es manchmal auch wäre.« Er bedauerte im selben Augenblick aber auch, daß Astrid nicht hier war, sondern weit weg von hier in Indien. Seit über zwei Wochen hatte er nichts mehr von ihr gehört. Das wunderte ihn etwas, denn sonst war mindestens einmal in der Woche von ihr entweder eine Karte mit Grüßen oder ein kurzes Schreiben gekommen. Aus allen diesen mehr oder minder ausführlich geschriebenen Zeilen Astrids hatte ihre Freude über ihren Aufenthalt in Indien herausgeklungen. Aber auch das Glück, mit ihrem Peter dort zu sein.

      Sollte sich da nun etwas geändert haben, weil Astrid schon seit vierzehn Tagen nichts mehr hatte von sich hören lassen? Diese Frage drängte sich Dr. Lindau plötzlich auf und ließ ihn nicht mehr los.

      Auch dann nicht, als er wenig später das Haus betrat, in dem es seit zwei Jahren so still geworden war. Seine Miene war nachdenklich, als er sich im Wohnzimmer in einen Sessel sinken ließ und zu grübeln begann. Je mehr er aber über seine Tochter und über das Ausbleiben von Post von ihr nachdachte, desto unruhiger wurde er. Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, sie in Indien telefonisch zu erreichen, so hätte er es sofort getan. Astrid hatte zwar vor einem Monat einmal aus Kalkutta angerufen, aber eine dortige Anschlußnummer, unter der man sie hätte erreichen können, hatte sie nicht genannt.

      »Aber schreiben kann ich ihr«, entfuhr es Dr. Lindau plötzlich. Eine Postadresse, bei der sie ihre Post bekam, hatte er ja.

      *

      Wenn es je so etwas wie Gedankenverbindung oder Gedankenübertragung über Tausende von Kilometern gab, so schien das an diesem Abend der Fall zu sein, an dem im fernen Europa, im Süden Deutschlands, Dr. Hendrik Lindau einen Brief an seine Tochter geschrieben hatte. Auf jeden Fall dachte Astrid Lindau in diesen Minuten, in denen in Auefelden gerade beginnender Abend, hier am Rande von Kalkutta aber schon tiefe Nacht war, besonders intensiv an ihren Vater und wünschte sich, jetzt bei ihm sein zu können.

      Sie lag allein in dem neben dem VW-Bus errichteten Zelt und starrte durch einen Spalt am Zelteingang zu dem sternenübersäten Nachthimmel empor. Peter war noch irgendwo in den Slums von Kalkutta unterwegs – immer auf der Suche nach Spuren des legendären Gandhi, des Verfechters eines gewaltlosen Widerstands. Undefinierbare Geräusche drangen trotz der späten Nachtstunde immer noch an Astrids Ohren. Schwaches Motorengebrumm war zu hören, das aus der nicht allzuweit entfernten City von Kalkutta herkam. Dazwischen unverständliches Stimmengewirr, mal lauter, mal leiser, aus der Ansammlung von Hütten, wie sie rund um Kalkutta zu finden waren. Irgendwo bellten Hunde. Und Kindergeschrei drang durch die helle und laue Nacht.

      Astrid fragte sich, was ihr Vater jetzt wohl gerade tat. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor Mitternacht. In Auefelden mußte es jetzt etwas über sieben Uhr abends sein. Ob Vater noch in der Klinik war?

      »Ich muß ihm morgen schreiben«, flüsterte die junge Frau vor sich hin. »Alles…«, fügte sie leise seufzend hinzu. Glücklich klang es nicht gerade, wie sie das über ihre Lippen brachte.

      Sie war es aber auch nicht. Jedenfalls nicht mehr. Dabei hatte alles so wunderbar, so herrlich begonnen. Ihre zarte Liebe zu Peter, als sie noch beide in Heidelberg gewesen waren. Träume hatte sie gehabt. Auch dann noch, als Peter ihr Jungmädchenleben durchbrochen und sie zur Frau gemacht hatte. War es da verwunderlich gewesen, daß sie ihm nicht hatte abschlagen können, als er sie gebeten hatte, für eine Zeit mit ihm nach Indien zu gehen? Weil sie ihn liebte, war sie fast spontan bereit gewesen, ihr halbfertiges Studium zu unterbrechen, um mit ihm Indien zu erleben.

      Kalkutta hatte Peter als Ziel gewählt, weil er glaubte, hier am ehesten noch Spuren vom Wirken Gandhis zu finden.

      Astrids Gedanken verschoben sich. Die Gegenwart versank mit einem Mal, und mit offenen Augen erlebte sie im Geiste nochmals im Zeitraffertempo die ersten Tage und Wochen jetzt – hier in Indien, am Rande von Kalkutta.

      Eine fremde Welt erwartete Astrid. Sie hatte schon vieles über Indien gelesen und gehört: von Maharadschas, Palästen, Elefanten mit Diamanten geschmückt. Was sie aber in den ersten zwei, drei Wochen in Indien zu sehen bekam, war etwas ganz anderes. Elend, Hunger und Armut – das waren die Bilder, die sich ihr einprägten. Sicherlich lag das auch zum Teil daran, daß Peter mit ihr überall dorthin ging, wo von Prunk und Pracht nichts zu sehen war. Da er sich auf die Erforschung von Gandhis Leben und Wirken konzentrierte, mußte er natürlich zwangsläufig in den Armutsvierteln beginnen.

      Astrid bedrückte der Kontrast zwischen Elend, hungernden bettelnden Kindern in den verschmutzten Gäßchen im Elendsviertel und den sauber gekleideten Menschen – Indern wie Europäern – in der Innenstadt von Kalkutta. Auf allen Wegen begegneten ihr und Peter Kinder, denen man ansah, daß sie krank waren. Man brauchte dazu nicht einmal Arzt sein, um das zu erkennen. Astrid, die ja die Hälfte ihres Medizinstudiums schon hinter sich hatte, erkannte sofort die Not dieser Menschen. Der Wunsch, in irgendeiner Form zu helfen, wurde in ihr stärker und stärker. Sie sprach auch mit Peter darüber und war erstaunt über seine Reaktion.

      »Bist du noch bei Trost?« fuhr er auf. »Wir befinden uns hier in Indien, um den Spuren Gandhis nachzugehen und nicht, um uns um kranke und noch dazu verdreckte und verkommene Kinder zu kümmern«.

      Solche Worte erregten Astrids Widerspruch. »Du bist es, der hinter Gandhi hier ist«, gab sie leicht aufsässig zurück. »Ich habe dich nur begleitet.«

      »Hast du das etwa ungern getan?«

      »Das ist eine dumme Frage«, erwiderte Astrid. »Wäre ich denn sonst hier? Aber mich läßt eben das Elend dieser Kinder nicht gleichgültig.«

      »Was ist mit meinen Forschungen?« fragte Peter. »Interessieren die dich überhaupt nicht?« Sein Ton nahm eine gelinde Schärfe an.

      »Ehrlich gesagt – nein«, gab Astrid zurück. »Ich lebe in der Gegenwart und habe mit Vergangenem nicht allzuviel im Sinn. Die Gegenwart – zumindest hier in Indien, hier am Rande von Kalkutta – ist aber eine sehr bittere Realität.«

      Peter verzog geringschätzig das Gesicht. »Du willst doch nicht etwa eine zweite Mutter Theresa werden«, sagte er spöttisch. »Vergiß es«, zischte er, »und hilf mir lieber bei meinen Recherchen! Dazu habe ich dich schließlich mitgenommen.«

      Astrid glaubte nicht richtig gehört zu haben. Nicht nur die in Peters Worten erkennbare Gefühlskälte, seine Einstellung zu dem Elend dieser armen und kranken Kindern von Kalkutta verursachten ihr einen schneidenden