Darcian. Julia Lindenmair

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Название Darcian
Автор произведения Julia Lindenmair
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Издательство
Год выпуска 0
isbn 9783946843887



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Hand wedelt durch Noras Körper hindurch, als würde sie nach einer Fliege schlagen. »Nora, du kannst nicht tot sein. Das kann nicht sein … Es geht einfach nicht!« Whites Lippen zittern. »Das muss ein Hologramm sein. Eine optische Täuschung, oder sonst was.«

      »Was machen wir jetzt mit ihr?«, fragt Lucien mit eigenartig hoher Stimme.

      Ich stiere vom Fenster aus hoch in den Himmel, weil ich absolut keinen Plan habe. Allerdings sind die Sterne alles, was ich von hier aus erkennen kann. Falls mich Lady beobachtet, würde Mox längst an meiner Seite stehen, da bin ich sicher. Mit meiner Entscheidung scheine ich also auf mich alleine gestellt zu sein.

      Der Sanitäter fängt an, mit seinem Kollegen am Steuer zu flüstern. Als er wieder neben White Platz nimmt, zieht er die Stirn in Falten. »Woher wissen Sie, dass Ihre Schwester tot ist? Wir können uns nicht daran erinnern, es Ihnen erzählt zu haben.«

      White zieht eine Augenbraue hoch. »Ich weiß es, weil meine tote Schwester blau schimmernd neben mir steht. Für Sie unsichtbar, wohl bemerkt.« Ich sehe zu, wie alle Farbe aus dem Gesicht des Mannes weicht.

      »White, hör auf damit«, ermahnt Nora ihre Schwester, die gerade sichtlich vor einem Nervenzusammenbruch steht.

      »Außerdem habe ich hier noch einen knapp bekleideten Todesengel, der behauptet, er würde meine Schwester ins Jenseits führen. Und wer dieser lächerliche Schönling in Tunika und mit den Pfeilen am Rücken sein soll, überlasse ich ganz Ihnen.«

      »Lächerlicher Schönling? Ich hab mich wohl verhört-«

      »Das reicht«, unterbreche ich Lucien, selbst kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehend.

      »Seid ihr nicht böse, sie scheint nervlich gerade etwas angeschlagen zu sein«, versucht Nora ihre Schwester zu verteidigen. Doch mir reißt langsam der Geduldsfaden. Diese White raubt mir das Vergnügen an meinem Job.

      »Ob sie jetzt kurz vorm Durchdrehen ist oder nicht, ist mir ziemlich schnuppe. Sie wird jetzt mit uns kommen, ob sie will oder nicht.« Eine bittere Bedrohlichkeit schwingt in meinen Worten mit, die White schwer schlucken lässt.

      In Sekundenschnelle öffne ich das Portal, stoße Nora hinein und schnappe mir Whites zitterndes Handgelenk. Es gibt nur eine vernünftige Option: Ich muss dieses Erdenmädchen mit zum Rat nehmen, um herauszufinden, warum sie uns sehen kann.

      »Lass mich los, du Wahnsinniger!« White versucht sich schreiend meinem Griff zu entreißen, während der Sanitäter vergebens versucht sie zu beruhigen. Die Panik in ihren Gesichtern lässt mich schnell handeln – doch vor allem die Spritze in der Hand des kreidebleichen Mannes vor mir.

      »Ich weiß nicht, ob das klappt, aber …« Mit einem Ruck zerre ich White von ihrer Trage herunter und will sie, wie Nora zuvor, in das Portal stoßen, doch Lucien versperrt mir den Weg. »Willst du das jetzt ernsthaft vor den Augen der Sanitäter abziehen?«

      Verflucht – Lucien hat recht. Ich überlege kurz. »Hast du noch Pulver?«

      Lucien sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ja schon, aber denkst du wirklich, wir können das Pulver des Vergessens ohne Erlaubnis des Rates bei Menschen anwenden? Du weißt, was das für Konsequenzen haben könnte, oder? Wir könnten eiskalt aus dem Himmel verbannt werden!«

      »Ich denke nicht, dass uns eine andere Wahl bleibt. Ich muss dem Rat diesen Sonderfall melden und sie ins Elysium mitnehmen, sonst werden die Sanitäter sie mit Medikamenten vollstopfen und in so eine Einrichtung für Geistesgestörte stecken. Du weißt doch, wie voreingenommen Erdenbewohner sind.«

      »Darcian, begreifst du nicht? Sie ist ein Mensch. Sie wird das Portal nicht ungestraft betreten dürfen. Nein, sie wird es nicht betreten können! Und falls doch, weiß ich nicht, wie sie im Jenseits ankommen wird. Als Mensch eher weniger, wenn dann als eine frische Seele.«

      Mein Kopf beginnt zu vibrieren. Dass White sich in meiner Hand windet und kreischt, als wäre sie besessen, hilft mir nicht gerade dabei, einen klaren Kopf zu bewahren. »Halt endlich still!«, schreie ich sie an, doch das bringt sie nur dazu, noch hysterischer zu plärren.

      Genervt wende ich mich wieder Lucien zu: »Ich bin der Portalwächter unter uns, also lass das meine Sorge sein. Sicher ist es ein Risiko, aber es gibt einen Grund, warum uns dieses Mädchen sehen kann. Und ich werde zumindest versuchen, es herauszufinden. Kann ich mich auf dich verlassen, was das Pulver betrifft?«

      Die Falten auf Luciens Stirn ebnen sich wieder, worauf ein Lächeln über seine Lippen huscht. »Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast …«, er seufzt tief. »Wir treffen uns im Elysium, ich mach das schon.«

      Mittlerweile ist White in Tränen ausgebrochen, während die Sanitäter den Wagen angehalten und zu uns nach hinten geeilt sind. Sie scharen sich über sie zusammen, reden auf sie ein, die Beruhigungsspritze auf ihren Arm gerichtet.

      Als White mich anfleht, sie nicht zu töten, ist das mein Stichwort. Ich nehme das bebende Mädchen so fest ich kann in meine Arme und springe gemeinsam mit ihm in die kreisrunde Tiefe des schimmernden Lichts.

      Kapitel 3

      Als wir auf der anderen Seite ankommen, mache ich mir sofort über Whites Zustand Gedanken. Doch zuerst verschaffe ich mir einen kurzen Überblick, in welches Jenseits uns das Portal ausgespuckt hat. Hügelige und saftig grüne Wiesen erstrecken sich in einem Meer aus herumwirbelndem Laub. Direkt vor uns steht eine alte Weide, dessen dichtes Geäst durch die sanfte Brise auf und ab schwingt. Vereinzelte Seelen turnen darauf herum, als wäre der Baum nichts anderes als ein riesiges Klettergerüst.

      Wir sind in der letzten Zone angekommen, in die es nur wenige Seelen auf Anhieb hineinschaffen. Nora ist glücklich und hat ihren Tod akzeptiert - das muss der Grund dafür sein.

      White hat sich inzwischen an meinem Oberarm festgebissen, wie ein tollwütiger Rottweiler, und macht nicht den Anschein, mich unaufgefordert wieder loslassen zu wollen. Mit ihren knallroten Fingernägeln kratzt sie weiße Schürfwunden in meine Haut und beißt noch einmal kräftig zu.

      »Aua! Ich fasse es nicht … spuck sofort meine Haut wieder aus!« Ich bin kurz davor, dieser Göre den Hintern zu versohlen. Mit einem Ruck ziehe ich meine Hände auf die Seite, sodass White auf die olivgrüne Wiese klatscht. Sie schreit laut fluchend auf, aber nicht vor Schmerz, sondern vor Schreck. Die Bisswunde an meinem Oberarm breitet sich rosarot aus, wie bei einem Brandmal – oder einem lästigen Knutschfleck.

      White richtet sich auf. Noch immer liegt ein verängstigter Blick in ihren Augen. »Bring mich sofort zurück nach Hause, du rücksichtsloser Idiot!«

      »Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass man andere weder beißt noch beschimpft?«

      »Meine Mutter hat mir beigebracht, Entführern einen festen Hieb zwischen die Beine zu verpassen!«

      Bevor ich darauf etwas erwidern kann, holt White mit dem Fuß aus, und …

      »Aufhören!« Hinter White ist Nora aufgetaucht, die ihren Fuß in der Luft aufgefangen hat, sodass White jetzt nur noch auf einem Bein steht, schwankt und schlussendlich das Gleichgewicht verliert. Mit dem Kopf voran fällt sie in meine Richtung und plumpst gegen meine Brust. Peinlich berührt sieht sie nach oben, unsere Blicke treffen sich. Ihr Gesicht ist purpurrot angelaufen, was mir einen innerlichen Stich verpasst. Einen Moment lang überlege ich, ob ich sie einfach von mir stoßen soll, aber irgendetwas an ihr hält mich davon ab.

      »Ich weiß, dass du unsicher bist und Angst hast, aber ich will dir wirklich nur helfen. Dir wird nichts passieren. Das verspreche ich«, versuche ich sie im Flüsterton zu beruhigen. Warum ich das sage, weiß ich nicht, aber es hilft. White fängt an, sich wieder zu beruhigen. Ihr Atem passt sich meinem an, wird langsam. Nach einem kurzen Augenblick der Stille sieht sie mich einen Moment lang an. Ihr Blick gleitet über jeden Millimeter meines Gesichts hinweg, als würde sie jede einzelne Pore meiner Haut in ihr Hirn einscannen. Als ihre Augen meine nackte Brust fokussieren, an der sie sich noch immer anlehnt, dauert es keine Sekunde, bis sie mich von sich stößt.