Darcian. Julia Lindenmair

Читать онлайн.
Название Darcian
Автор произведения Julia Lindenmair
Жанр
Серия
Издательство
Год выпуска 0
isbn 9783946843887



Скачать книгу

wir in den hohen Saal des Elysiums treten, merke ich, wie Whites Anspannung ihren Höhepunkt erreicht. Durch die hohen Fenster, die abwechselnd spitze und halbrunde Giebel besitzen, dringt gleißendes Licht herein, das die gesamte Säulenhalle durchflutet. Von den Wänden strahlt uns die farbenfrohe Fassade entgegen, die in den schönsten knalligen Farben des Himmels bemalt wurde. Die gewölbte Decke gleicht einer Sintflut von abstrakten Mustern und endlosen Verzierungen, die für meinen Geschmack zu schrill und übertrieben wirken. Doch White legt den Kopf in den Nacken und erscheint schlicht überwältigt. Der glatte Marmorboden reflektiert wie ein glitzerndes Feuerwerk aus bunten Funken die Helligkeit, die diesen Saal mit einer gewissen Wärme füllt.

      Wenige Schritte vor uns erstrecken sich unzählige Gemälde, die einfach mitten im Saal herum schweben. White reißt den Mund auf und streicht über die Malereien der berühmtesten Erzengel, deren Posen für die Ewigkeit festgehalten wurden. Jedes Gemälde erzählt eine eigene Geschichte. Altbekannte Legenden von Kriegen der Himmelswächter, oder schnulzige Erzählungen von großen Taten einzelner Liebesengel. Die Berühmtesten von ihnen habe ich noch nie selbst zu Gesicht bekommen, da sie entweder im Ruhestand sind, oder zu sehr beschäftigt, um sich mit einfachen Todesengeln wie mir abzugeben. Einige von ihnen sind auch untergetaucht, was es nahezu unmöglich macht, mal einen von ihnen persönlich anzutreffen.

      »Das sieht ja hier aus wie in einem Museum.« White ist ihr Erstaunen anzusehen. Als sie eines der wertvollsten Gemälde berührt, auf dem sich Erzengel Gabriel gerade in voller Pracht in seinem Adamskostüm zeigt, beginnt dieses zu schwanken – was Lady dazu bewegt, White mit einem ausdrücklichen Fauchen zu ermahnen, hier nichts anzufassen.

      »Entschuldige«, quiekt White sichtlich verlegen auf.

      »Keine Panik, an Ladys Temperament muss man sich erst gewöhnen.« Ein gelassenes Zwinkern meinerseits wird von ihr mit einem kurzen Lächeln belohnt.

      »Was sind das für Gemälde?« Sie klingt neugierig.

      »Weißt du, wie auf der Erde, so gibt es auch im Himmel Mythen und Legenden«, beginne ich wohlformuliert Whites Frage zu beantworten. »Auf den Gemälden sind Helden abgebildet, die den Erzählungen nach große Taten vollbracht oder Abenteuer erlebt haben, an die wir Engel gerne denken.« Dass es mein sehnlichster Wunsch ist, auch eines Tages auf einem dieser Gemälde zu landen, verschweige ich ihr.

      »Können wir jetzt weiter?« Lady stupst mich an meinem Knöchel mit der Schnauze an. »Ihr trödelt mir zu viel, wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.«

      Ich presse meine Lippen zusammen, um Lady ein freches Schimpfwort zu ersparen, das mir bereits auf der Zunge liegt.

      Treppen aus Wolken führen in verschiedene Richtungen, sogar für mich ist es immer wieder eine Herausforderung, sich in diesem Labyrinth aus unendlich vielen Gängen zurechtzufinden. Lady kennt natürlich den Weg und wir folgen ihr im Schritttempo. Links, rechts, wieder links. Bis wir in einen Gang eintauchen, in dem mir die vier Ratsvorsitzenden in Form von gemeißelten Steinfiguren einen Mordsschrecken einjagen. Ich verkneife mir die Frage, seit wann diese geschmacklosen Gebilde den Gang vor dem Konferenzraum bewachen.

      »Wer ist dieser kleine … ähm … Frosch?« White steht vor Mox’ Statue und macht ein Gesicht, als wäre ihr schlecht.

      Ich lache herzhaft. »Das ist Mox, mein Chef.« Ich zwinkere White zu. »Du wirst ihn gleich in voller Größe kennenlernen.«

      »Verstehe«, sie nickt zaghaft. »Und diese hier?« Sie zeigt auf die Steinfiguren auf der gegenüberliegenden Seite, die alle mit ernsten Mienen auf uns herabblicken.

      »Das sind die früheren Ratsvorsitzenden. Sie haben sich bereits zurückgezogen, denn alle 500 Monde werden neue Mitglieder gewählt, deren Aufgabe die komplette Führung des Himmelsreichs ist.«

      White blickt mich verdutzt an. »Alle 500 Monde?«

      »Unsere Zeit läuft anders, als eure. Wir rechnen in Monden und 500 Monde sind im Himmel eine sehr lange Zeit. Das sind in eurer Zeitrechnung ungefähr …«, ich überlege kurz, weil mir das Umrechnen in Erdenzeit immer viel abverlangt, »… lediglich 10 Erdenjahre, schätze ich.«

      White nickt zaghaft, ehe ich fortfahre: »Ein Mitglied des Rates zu sein ist eine große Herausforderung, der nur die ältesten und weisesten Himmelsbewohner gewachsen sind. Aber wie Mox zu diesem Privileg kam, ist mir bis heute ein Rätsel.« Ich strecke die Zunge raus und forme alberne Grimassen. White mustert mich zuerst mit ernstem Blick. Einen Wimpernschlag später versucht sie es zu vertuschen, indem sie sich schnell wegdreht, aber mir entgeht ihr flüchtiges Lächeln nicht. Wortlos folgen wir Lady weiter den Flur entlang, der mir endlos scheint.

      »Wir sind da.« Lady stoppt so abrupt vor uns ab, dass ihr Lucien auf den Schwanz tritt.

      Vor Schreck stellen sich meine schwarzen Flügel auf, als Lady markerschütternd faucht.

      Während sie Lucien mit einem verächtlichen Blick straft, sieht sich White verwirrt um. »Ähm. Kann nur ich die Tür nicht sehen?«

      »Sie ist da oben.« Ich deute auf eine weiße Tür, die einige Meter über unseren Köpfen schwebt. Lucien drückt einen silbernen Knopf an der Wand und eine kleine Wolke rast in Lichtgeschwindigkeit auf uns zu. »Auf der Erde nennt ihr es, denke ich, Lift. Also, nach dir.« Mit einer Geste weise ich White an, sich auf die Wolke zu stellen, doch sie schüttelt den Kopf. »Na gut, dann wartest du eben hier.« Scheinbar gleichgültig zucke ich mit den Schultern, in der Hoffnung sie damit umzustimmen. Und tatsächlich, nachdem Lady, Lucien und ich auf die ungeduldige Wolke gestiegen sind, nimmt auch White darauf Platz. Ein Grinsen kann ich mir daraufhin nicht verkneifen. Einen Augenblick später fährt die Wolke nach oben und hält vor dem Eingang an. White stiert auf die andere Seite der schwebenden Tür und ist, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, völlig durcheinander.

      »Wie, um Himmels willen, kann es sein, dass sich dahinter ein Raum befindet? Da ist doch nichts …« Sie kratzt sich verwirrt am Kopf.

      Ich stöhne laut auf. »Wie du soeben sagtest, du bist im Himmel. Du solltest langsam aufhören, deine Welt mit unserer zu vergleichen. Der Himmel ist nun mal nicht die Erde.«

      White wirft mir einen vernichtenden Blick zu, der mir durch Mark und Bein geht, während Lady verächtlich schnaubt.

      »Was ist? Ich bin nur ehrlich«, verteidige ich mich schnell, ehe Lady prustend die Tür öffnet, hinter der wir den Rat in sitzender Position vor einem runden Tisch vorfinden, der überhäuft von Akten und Ordnern ist. Alles ist in Schwarz-, Weiß- und Grautönen dekoriert, nur die Blumen in jeder erdenklichen Ecke im Raum beleben die blassen Wände mit erfrischenden Farbtupfern. Mox steht mitten auf dem Tisch und fuchtelt mit den Händen herum. Madame Dania lehnt entspannt wie immer in ihrem ledernen Sessel, völlig in ein Schriftstück versunken, auf dem in Großbuchstaben WHITE MAY geschrieben steht, und Sir Pelkum und Sir Iras scheinen miteinander in eine heftige Diskussion vertieft zu sein. Als alle Ratsvorsitzenden unsere Anwesenheit bemerken, wird der Raum von einer bleiernen Stille eingehüllt. Mit offenen Mündern starren alle die Person an, die ihre Sitzung verursacht hat: White.

      Sir Pelkum und Sir Iras springen gleichzeitig von ihren Stühlen hoch und kommen im Laufschritt auf uns zu. Innerlich krampft sich etwas in mir zusammen – die Ungewissheit über die weitere Vorgehensweise lässt mich nicht mehr los. Ich habe White schließlich versprochen, dass ihr nichts passieren wird. Ein Versprechen, das ich vermutlich nicht einhalten kann. Auch wenn ich ein Todesengel bin, dem die frischen Seelen noch nie sonderlich viel bedeutet haben, so ist mir dieses Erdenmädchen nicht egal. Aus welchem Grund auch immer, hält sich mein gefühlloses Ego bei diesem Mädchen bedeckt, und ich würde gerne herausfinden, warum.

      »Ist sie das?«

      »Ja, das muss sie sein.«

      »Bruder, sieh selbst. Sie ist noch immer ein Mensch.«

      Wie ein Objekt wird White von Kopf bis Fuß analysiert. Sie nimmt alles stillschweigend hin, ist jedoch nicht minder überrascht von den ihr gegenüber stehenden Gestalten. Sir Pelkum und Sir Iras sind Elementargeister der Lüfte, mit angsteinflößenden Gestalten in stattlicher Größe, sodass sie sogar mich