Название | Darcian |
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Автор произведения | Julia Lindenmair |
Жанр | |
Серия | |
Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783946843887 |
Bevor ich meine Frage aussprechen kann, beantworte ich sie mir sogleich selbst: Nora hat gerade Whites Fuß berührt!
Schnell mustere ich White von oben bis unten, aber sie besteht noch immer aus Haut und Knochen, schwebt nicht und ist mit einer frischen Seele eindeutig nicht zu vergleichen. Sie ist noch immer ein Mensch. Unmöglich.
Nora fängt sich wieder und fällt ihrer Schwester schluchzend in die Arme. Erst jetzt scheint auch White zu verstehen, dass das alles kein Traum ist.
»Warum kann ich sie jetzt berühren?«, fragt Nora aufgebracht, woraufhin mich die Schwestern verunsichert ansehen.
»Das muss am Jenseits liegen«, murmele ich.
»Jenseits.«, wiederholt White panisch. »Nora, du siehst so … so anders aus. Ich verstehe das alles einfach nicht.«
»Das liegt wohl daran, dass ich tot bin.« Nora stemmt die Arme in die Hüften. »Und bevor du wieder etwas darauf erwidern kannst, es ist wahr! Ich habe meinen leblosen Körper mit eigenen Augen gesehen – und ich finde es toll!« White ist sprachlos, ich bin es auch. An Noras direkte Art muss ich mich erst gewöhnen. »Falls du es immer noch nicht glauben kannst, sieh selbst.« Nora schwebt in der Luft herum, als hätte sie nie etwas anderes getan. Sie gleitet auf der wehenden Weide auf und ab, von Ast zu Ast, und dreht sich dabei, als würde sie tanzen. Innerlich verdrehe ich die Augen. Ich hole Kleinkinder ab, dessen Seelen lange nicht so verspielt sind wie Noras.
Während sie jault, kichert und hysterisch lacht, sackt White neben mir zu Boden. Sie presst die Knie gegen ihre Brust und senkt den Kopf dazwischen, sodass ich ihr Gesicht nicht mehr sehen kann. Ich glaube, sie weint, und Nora kriegt in ihrer Euphorie nichts davon mit.
Mein Verstand schreit: Ignoriere es! Aber mein Herz scheint eine andere Sprache zu sprechen. Als hätten sich meine Knie selbstständig gemacht, hocke ich gleich darauf eine Handbreit neben der schluchzenden White. »Ist alles in Ordnung?«
»Was ist das für eine blöde Frage?«, faucht sie mich an und hebt den Kopf. »Nichts ist in Ordnung! Sie ist tot! Ich kann das einfach nicht glauben. Allerdings verstehe ich noch weniger, dass ich noch lebe und mich trotzdem hier befinde. Hier in diesem … wo sind wir hier überhaupt? Das sieht aus wie im Nimmerland. Fehlen nur noch Peter Pan und Kapitän Hook.«
»Ich kenne diese Leute nicht, sind das Politiker?«
White sieht mich an und ich könnte schwören, dass ihre Lippen kurz ein Lächeln geformt haben. Wenigstens hat sie aufgehört zu weinen.
Sie macht einen tiefen Atemzug. »Und was machen wir jetzt?«
»Ich werde dich ins Elysium bringen. Das ist der höchste Sitz im Himmel. Dort werde ich dich dem Rat vorstellen und sie werden dir helfen, das verspreche ich dir.«
»Und was ist, wenn ich das nicht will?«
»Warum solltest du das nicht wollen?«
White reißt die Augen auf und schnappt nach Luft. »Weil ich erstens wieder zurück nach Hause will und zweitens nicht mit Fremden mitgehe. Schon gar nicht mit jemandem, der mir Angst macht!«
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Erstens kannst du nicht wieder zurück nach Hause, weil wir vorher abklären müssen, warum du uns sehen kannst und zweitens bin ich der Letzte, vor dem du Angst haben müsstest!«
»Hallo? Du bist ein Todesengel mit schwarzen Flügeln, der mehr als einschüchternd wirkt. Ich wäre verrückt, wenn du mir nicht eine Heidenangst einjagen würdest! Außerdem siehst du mit diesen Muskeln aus, als wärst du der kleine Bruder von Herkules. Und dieser lächerliche Fummel, den du da trägst. Könntest du dir vielleicht mal was Vernünftiges anziehen?« Überrascht sehe ich an mir hinunter und verstehe nicht, was an meinem Outfit falsch sein soll.
»Es fällt mir einfach schwer, dir zu vertrauen, okay? Mal abgesehen davon, ist meine kleine Schwester angeblich tot, ich bin im Nimmerland gefangen und ich kneife mich ständig, aber es ist kein verfluchter Traum!« Wieder stemmt sie seufzend ihre Arme gegen ihre Knie, um ihren Kopf zu verbergen.
Irgendwie verstehe ich Whites aufgebrachte Art, ihre Überforderung – allerdings hasse ich es, wenn mir jemand nicht vertraut. Es macht mich wütend.
»Das ist nicht das Nimmerland, sondern eine Zone des Jenseits!«, rufe ich überreizt. Als White zusammenzuckt und mich verängstigt mustert, verkrampft sich mein Magen zu einem stechenden Schmerz. Etwas milder fahre ich fort: »Ich kenne auch diesen Herkules nicht, aber ich kenne mich, und ich bin alles andere als einschüchternd. Ich führe frische Seelen ins Licht, das ist meine Aufgabe, dazu gehört es auch, mich unerwarteten Situationen zu stellen. Ob es jetzt ein Zufall ist oder nicht, bedeutend ist nur, dass es nicht der Regel entspricht. Und genau das muss ich dem Rat melden. Ob du jetzt freiwillig mitkommst oder nicht, bleibt dir überlassen.« Erstaunt sieht mich White an. »Ohne Widerstand wäre es natürlich für uns beide einfacher«, füge ich noch seufzend hinzu.
Meine Worte hinterlassen Falten auf ihrer Stirn.
»Mir bleibt keine Wahl?«
»Dir bleibt keine Wahl«, bestätige ich.
Sie atmet tief ein und wieder aus. »Warum muss ausgerechnet mir so etwas passieren?«
»Das frage ich mich auch«, antworte ich verbissen.
White wirft mir einen durchdringenden Blick zu, der mir zeigt, dass ihr meine Antwort nicht gefallen hat.
»Das weiß ich genauso wenig wie du«, versuche ich es noch mal. »Doch ich weiß, dass wir beide in dieser fragwürdigen Situation feststecken. Wir sollten es annehmen und sehen, was daraus wird. Deine Gabe muss ja nicht unbedingt etwas Schlechtes bedeuten.«
Ein langes Schweigen tritt ein, das mir nach einer Weile unangenehm wird. Dennoch lasse ich White Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. Mit hängenden Schultern und angewinkelten Beinen sitzt sie neben mir und scheint gedanklich weggetreten zu sein.
Nach einer gefühlten Ewigkeit rutsche ich auf meinem Hintern hin und her, bis ich es nicht mehr länger aushalte. Ruckartig stehe ich auf. »Wir gehen jetzt«, befehle ich in rauem Ton.
Erstaunlicherweise steht auch White wie auf Knopfdruck auf. »Nora, komm runter! Wir gehen jetzt!«, brüllt sie in Richtung der Weide, auf der ihre Schwester gerade kopfüber von einem Ast herunterbaumelt, als wäre sie eine Fledermaus.
»Geh ruhig ohne mich, ich bleibe hier!«, winkt uns Nora lächelnd zu.
White senkt den Kopf und reibt sich mit der Hand über ihre Stirn. »Was? Warum will sie denn nicht?«
Ich weiß nicht, wie ich es White erklären soll, ohne, dass sie einen Anfall bekommt, doch mir bleibt nichts anderes übrig.
»Deine Schwester ist gestorben und jetzt ist sie angekommen. Sie befindet sich hier im Jenseits in der Zone, die ihr zugeteilt wurde. Und glaube mir, es ist eine gute Zone. Die Beste, die du dir für sie wünschen kannst. Der Haken ist jedoch: Nora wird diesen Bereich nicht so schnell verlassen können. Es ist wie ein Instinkt, der sie dazu zwingt, hierzubleiben. So lange, bis die Zeit reif ist, wenn sie selbst entscheidet, diese Zone hinter sich zu lassen.«
White starrt mich ungläubig an. »Sie wird mich nicht begleiten können?«, zischt sie in einem wütenden Tonfall, der diesmal mich zusammenzucken lässt.
Ich schüttle langsam den Kopf. »Ich weiß, es ist hart, aber sie wird hier auf dich warten.«
White sieht mich an, als stünde ihr plötzlich ihr größter Erzfeind gegenüber. Der Feind, der sie von ihrer Schwester trennen will, sie mitnehmen will in eine fremde Welt, der sie sich alleine und hilflos stellen muss. Tränen rollen ihr über die bleichen Wangen, ihre Augen werden dunkel und leer. Sie hängt an ihrer Schwester, das sehe ich, aber verstehen werde ich