Darcian. Julia Lindenmair

Читать онлайн.
Название Darcian
Автор произведения Julia Lindenmair
Жанр
Серия
Издательство
Год выпуска 0
isbn 9783946843887



Скачать книгу

schlinge ich noch schnell das Thunfisch-Tomaten-Sandwich von Lady hinunter. Ein Würgereiz überkommt mich, als mein trockener Mund bemerkt, dass es voller Katzenhaare ist. »Du solltest wirklich lernen, dich nicht immer zu putzen, wenn du mir gerade ein Sandwich schmierst!«, beschwere ich mich unter kratzendem Husten.

      »Wenn du lernst, in Zukunft pünktlich zu sein«, gibt sie mit herber Stimme zu verstehen.

      »Du alte Manipulatorin!« Ich schüttle den Kopf, werfe ihr ein charmantes Lächeln zu und verschwinde im grellen Licht des Portals.

      Kapitel 2

      Lady hat wieder einmal total übertrieben. Die Seele, die ich ins Jenseits führen soll, ist noch längst nicht bereit, ihren Körper zu verlassen. Nach Erdenzeit schätze ich die Trennung des Geistes vom Körper auf mehr als zehn Minuten, eine meiner Meinung nach verflucht lange Zeit. Ich hätte so viel mit dieser Zeit anfangen können. Stattdessen warte ich jetzt fröstelnd auf einer Nebenstraße mitten in der Pampa und blicke in das bleiche Gesicht des sterbenden Mädchens, das der Akte nach ein Opfer eines Verkehrsunfalles geworden ist. Blut quillt aus ihren Ohren und färbt ihr kupferbraunes, schulterlanges Haar dunkelrot. Ihr Atem ist schwach und ihre Augen sind geschlossen. Dieser Anblick ist zwar nichts Neues für mich, dennoch mag ich Unfälle und entstellte Gesichter nicht. Neugierig blicke ich in ihre Akte und muss schlucken. Das Mädchen ist gerade einmal sechzehn Jahre alt. Ich lese weiter, aber es wird nicht besser. Ihr Name ist Nora May, sie wird die erste Seele aus ihrer Familie im Jenseits sein. Mein Blick schweift über die Straße. Der andere Fahrer, in dem perlschwarzen Cadillac mit der zertrümmerten Motorhaube, hatte mehr Glück: Er ist lediglich bewusstlos und nur leicht verletzt. Ich muss nicht in der Akte nachlesen, um zu wissen, dass er schuld an dem Unfall war – seine ekelhafte Schnapsfahne rieche ich bis hierher. Es ist unfair, dass er es nicht ist, den ich abholen muss. Aber der Tod kennt nun mal keine Fairness. Und auch kein Mitleid, weshalb ich kein Bedauern zeigen darf. Auch wenn mir das oft schwerfällt. So wie jetzt.

      Langsam beginnt es zu schneien. Viel zu früh für diese Jahreszeit, aber passend für diesen kanadischen Ort. Die Schneeflocken wirbeln in tanzenden Bewegungen umher und landen mit einem zarten Hauch auf dem noch warmen Körper der Sterbenden. Rund um mich herum ist es still, abgesehen von dem leisen Geräusch des näherkommenden Martinshorns. Einen Augenblick später treffen sie ein, die Einsatzfahrzeuge, die zwar mit Vollgas auf uns zufahren, aber zu spät kommen. Hektisch laufen die Sanitäter durch mich hindurch, in einem chaotischen Durcheinander aus Entsetzen und Ergriffenheit. Ich gehe ein Stück weg, lasse sie ihre Arbeit machen. Doch sie werden nicht mehr viel ausrichten können. Erst, als ich das demolierte Auto der Sterbenden begutachte, fällt mir auf, dass sich auf dem Beifahrersitz ein bewusstloses Mädchen befindet. Der Akte nach zu urteilen muss das ihre zwei Jahre ältere Schwester sein. Als ich sie näher ansehe, fällt mir ihre einzigartige Schönheit auf. Ganz anders als die kurzen, kupferfarbenen Haare ihrer Schwester, umrahmen blonde Locken ihr makelloses Gesicht. Sie kräuseln sich über ihre figurbetonte, rote Bluse, bis hinunter zu ihrer schmalen Taille. Allein ihre bloße Gegenwart ruft in mir ein eigenartiges Gefühl hervor. Mein Körper pulsiert, wird von einer unbekannten Hitze durchströmt und die Anziehungskraft zu diesem Mädchen ist so stark, dass ich wie automatisch ganz nahe an sie heranrücke. Ihr Gesicht ist beinahe zu vollkommen, um Echt zu sein. Sie sieht aus wie ein schlafender Engel, mit Haaren von natürlich schimmerndem Goldblond, rosigen Wangen und einer zarten Haut, für die Agatha wohl töten würde. Während ich im Hintergrund weitere blaue Lichter wahrnehme, die gerade eintreffen, vernehme ich plötzlich neben mir ein kratziges Lachen.

      »Na, hast du etwa Gefallen an einem Erdenmädchen gefunden?« Vor Schreck bin ich wie erstarrt. Obwohl ich nichts Verbotenes getan habe, fühle ich mich von Lucien auf frischer Tat ertappt.

      Ich drehe mich um und grinse ihn schief an. »Warum musst du immer dann auftauchen, wenn ich dich am wenigsten gebrauchen kann?«

      Lucien fährt sich mit der rechten Hand durch seine kurzen Locken, die im Licht der Straßenlaternen orangerot schimmern. »Ich scheine eben ein Gespür für die Fettnäpfchen zu haben, in die du nur zu gerne trittst. Und du weißt, deine Blöße lasse ich mir nur ungern entgehen.« Große Unschuldsaugen erwidern meinen Blick hinter langen Wimpern. Ein keckes Grinsen zerrt an seinen schmalen Lippen, die seine zarten Gesichtszüge unterstreichen.

      Ich verdrehe die Augen und beiße mir auf die Zunge. Wie immer wirkt Lucien zerbrechlich und prüde, wie ein Kind, ist er aber nicht. Hinter der Maske der Naivität steckt ein raffinierter Liebesengel, der keine Mühe scheut, um mich mindestens einmal am Tag aufzusuchen und sich daraufhin an meiner Arbeit zu ergötzen. Daher keimt in mir oft die Vermutung auf, dass er lieber ein Todesengel wäre. Kein schmächtiger Engel, der mit Pfeil und Bogen kitschige Flitterwochen verteilt. Das ist wie bei einem Gewinnspiel, bei dem keiner mitmachen will. Auch ich würde meinen Job unter keinen Umständen mit ihm tauschen wollen. Das könnte ich auch nicht, denn jedem von uns wurde seine Aufgabe in die Wiege gelegt. Keinem Himmelsbewohner steht es zu, Zweifel über sein vorgegebenes Schicksal zu hegen oder seine Bestimmung zu hinterfragen – das käme Hochverrat gleich. Es ist einfach so, wie es ist. Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns mit dem einzigen Grund unserer Existenz zufriedenzugeben – und uns ein endloses Leben lang damit abzufinden.

      Lucien hüpft von der Leitplanke herunter und fliegt auf mich zu. Im Gegensatz zu meinen, sind seine Flügel weiß und buschig, allerdings seiner Körpergröße angepasst, und daher wesentlich kleiner als meine. Liebesengel sind nicht besonders groß, vergleichbar mit ausgewachsenen Erdenbewohnerinnen. Lucien reicht mir gerade bis zur Brust.

      Als er das Mädchen im Auto sieht, macht er große Augen. »Jetzt verstehe ich, warum du beinahe gesabbert hast. Sie ist heiß. Würde ich nicht auf Sylphen stehen, wäre sie voll mein Typ.« Seine violetten Iriden funkeln vergnügt.

      »Ich habe weder gesabbert noch Interesse an einer Erdenbewohnerin«, erkläre ich mit einer gewissen Arroganz in der Stimme.

      »Dann sei froh, dass meine Pfeile bei dir nicht wirken. Mich juckt es in den Fingern, euch beiden einen zu verpassen.«

      »Hör auf mit dem Quatsch. Ich bin nicht wegen dieses Mädchens hier, sondern wegen ihr.« Ich deute auf die sterbende Schwester, um die fünf Sanitäter gescharrt sind, die erfolglos versuchen sie zu reanimieren. In ihren Gesichtern erkenne ich die Lähmung, die mich wissen lässt, dass der Tod bereits zugeschlagen hat. Ich trete an ihre Seite, gleich werde ich ihrer Seele gegenüberstehen. Da Lucien keine Anzeichen macht, sich von der Schönheit am Beifahrersitz loszureißen, bin ich fühlbar angespannt. »Hast du Lustmolch nichts Besseres zu tun, als ein bewusstloses Mädchen anzugaffen?«

      »Nö. Hab schon Feierabend«, kontert er gelassen.

      Ich rolle mit den Augen. »Warten nicht noch Hunderte Menschen darauf, von dir gepikst zu werden?«

      Er verschränkt die Arme vor der Brust und sieht endlich in meine Richtung. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, du willst mich loswerden? Hat Diabolus von dir Besitz ergriffen, oder bist du krank?«

      Ich schlucke trocken. Er hat recht, diese misstrauische Art sieht mir nicht ähnlich. Ich weiß selbst nicht, was mich gerade dazu bewogen hat, Lucien loswerden zu wollen. Im Grunde sind wir gute Kumpel.

      Lucien tritt an meine Seite, blickt angespannt auf die Blutlache am Boden und ringt sich ein gequältes Lächeln ab.

      »Himmel, bin ich froh, dass ich kein Todesengel bin. Müsste ich mir jeden Tag solche Fratzen reinziehen, würde ich mir meine Flügel zusammenbinden und mich von der nächsten Brücke stürzen.«

      »Ich wäre dir gerne behilflich dabei«, antworte ich karg. »Nur dumm, dass du genauso unsterblich bist wie ich.«

      Lucien überspielt meinen trockenen Humor mit einem Lacher, der sich deutlich aufgesetzt anhört.

      »Ach was. Du würdest es im Himmel doch keine Sekunde ohne mich aushalten.« In seinen Augen glimmt wieder der Hochmut auf, den er nur zu gerne an den Tag