Killerwitwen. Charlie Meyer

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Название Killerwitwen
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847684800



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      „Wie wär’s denn mit einem Volkshochschulkurs über Handarbeiten?“, fragte er hoffnungsvoll, bevor er wieder nach Frankfurt zurück düste.

      Und sie? Sie saß damals lange Abende ergeben im Wohnzimmer, dachte über das Phänomen nach, noch ein halbes Jahr zuvor beschwerdefrei gewesen zu sein, während es in ihrem Ohr ununterbrochen rauschte und bimmelte und beschloss, einen Arzt zu konsultieren. So machte sie die Bekanntschaft von Doktor Kühne, weil der Frisch bereits am Schlag verstorben war. Treten Sie einem Chor bei, Frau Nichterlein. Dann hören Sie den Tinnitus nicht mehr! Was für ein Dämlack. Wo doch die Rieffenbachs so unmusikalisch krächzten wie ein Rudel heiserer Raben und auch sonst eine gewisse Distanz zu den schönen Künsten hielten. Mit Ausnahme vielleicht von Uronkel Heinrich, dem bei genauerer Betrachtung ein verhaltenes Maß an künstlerischer Begabung nicht abzusprechen war. Es gab da eine fast vergilbte Daguerreotypie, die ihn am Ostseestrand von Heringsdorf vor einer Sandburg zeigte, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Neuschwanstein besaß.

      Emmi lächelte in Erinnerung. Jedes Rieffenbach’sche Kind war mit Uronkel-Heinrich-Geschichten aufgewachsen. Wie er als Junge in Garmisch-Partenkirchen versuchte, den Wetterhahn von der Kirchturmspitze zu stibitzen und von der Bergwacht gerettet werden musste, wie er während seiner Marburger Studienzeit mit einer selbst gebastelten Rakete versehentlich den hoffnungsvollsten Achter der Verbindungsruderer versenkte, und wie er schließlich, nach Dutzenden ähnlicher Streiche von der Verwandtschaft nach Amerika geschickt wurde, wo ihn nach seiner Ankunft in der Matagorda Bay die Cholera jämmerlich dahinraffte. Uronkel Heinrich war ohne Frage der exzentrischste Rieffenbach gewesen, wenn auch nicht weniger unmusikalisch als der Rest der Familie.

      Emmi jedenfalls hatte an einen Chor keinen Gedanken verschwendet, da ihr Ohrgebimmel sie jedoch in den Wahnsinn zu treiben drohte, in einem verzweifelten Ablenkungsmanöver weitere Volkshochschulkurse belegt. Sie töpferte, klöppelte und makrameete, und die Stimmen der Kinder am Telefon klangen gleich viel wohlwollender. Nur, dass sie diesmal zu Weihnachten keine gefüllten Briefumschläge verschenkte, sondern selbst getöpferte Aschenbecher, geknüpfte Blumenampeln und bestickte Topflappen, dämpfte die wohlwollende Stimmung vorübergehend. In den folgenden Jahren malte sie mit bimmelndem Ohr Obstschalen in Öl, Blumensträuße als Aquarell und sogar nackte Männer in Bleistift. Sie grub Maulwürfe aus ihren Gängen, suchte mit Metalldetektoren Stoppelfelder nach römischen Münzen ab und fand eine Handvoll germanischer Speerspitzen, lernte chinesische Schriftzeichen und isländische Vokabeln und belegte schließlich in einem letzten verzweifelten Versuch den Kurs: Lateinische Redewendungen für den Hausgebrauch. Sie gewöhnte sich daran, mehrere Abende in der Woche in dumpfen Klassenzimmern zu hocken und glaubte bereits eine leichte Verbesserung des Tinnitus zu verspüren, als ihrer Jüngsten, Christina, plötzlich der Sinn menschlicher Existenz abhanden kam, ganz allgemein, aber auch höchst persönlich, und sie auf der Suche nach einem weisen und hilfsbereiten Guru nach Indien flog und irgendwo in den Häuserfluchten Bombays verschwand.

      Emmi schob die Nase näher an den Spiegel heran und starrte sich in die Pupillen. Ein seltsames Gefühl zu wissen, dass die linke Linse künstlich war. Man schnitt ganz einfach in den Augapfel, zog mit einer Pinzette die eigene, die natürliche Linse heraus, schob etwas Künstliches in den Schnitt und nähte ihn wieder zu. Einfach so. Ersatzteilchirurgie. Nur wäre die nicht nötig gewesen, wenn der Oberarzt beim Starstechen eine Lupe verwendet hätte. Und das Starstechen wäre nicht nötig gewesen, wenn Christina in Indien nicht so plötzlich aufgehört hätte, Ansichtskarten zu schreiben. Und daran konnte nur dieser mysteriöse Guru schuld sein.

      Was für eine aufregende Zeit. Obgleich sie selbst sich anfangs nicht die Bohne sorgte, Christina neigte schließlich von klein auf zu ungewöhnlichen Handlungen, die absonderlichen Gehirnwirren entspringen mussten, gingen die Anrufe besorgter Verwandte und Freunde und die ständigen Erkundigungen der Nachbarn nicht spurlos an ihr vorüber.

      „Hast du denn immer noch nichts von deiner Tochter gehört?“

      „O Gott, sie hat dir vor vier Wochen die letzte Karte geschrieben? Das ist ja entsetzlich!“

      „Indien? Ist das nicht da, wo die Hisbollah immer Touristen ermordet?“

      „Warum unternimmst du denn nicht endlich was? Was bist du nur für eine Rabenmutter! Deine Tochter könnte ermordet irgendwo in einem Graben liegen und du ...?“

      „Ich habe gerade in den Nachrichten gehört, dass es im Norden entsetzliche Erdrutsche geben soll nach all dem Regen im Himalaja!“

      „Wusstest du eigentlich, dass der Ganges von Piranhas nur so wimmelt? Was wenn ...“

      „Meinst du nicht, du solltest die deutsche Botschaft verständigen?“

      Schließlich steckte sie die allgemeine Panik dann doch an, und das Schicksal nahm seinen verhängnisvollen Lauf.

      So hockte sie eines Nachts schlaflos am Wohnzimmerfenster und schniefte in Gedanken wieder einmal an einem von Christinas unzähligen und fernöstlich geschmückten Gräbern, als mit einem Mal draußen grellbunte Regenbögen die strahlenden Köpfe der Straßenlaternen umtanzten. Außen rot und innen violett und dazwischen gelbe und blaue Kreise. Es sah wunderschön aus, doch dann schien ihr Kopf zu platzen, und sie raste mit einem Taxi ins Göttinger Klinikum.

      Akuter Glaukomanfall, diagnostizierte der Augenarzt, viel zu hoher Augeninnendruck, und sie fand sich nur wenig später auf einem Operationstisch wieder, wo ihr ein mitleidloser Anästhesist eine lange Betäubungsspritze in die Schläfe jagte.

      Emmi stand vom Toilettendeckel auf und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Ach du meine Güte, der grüne Lidschatten leuchtete viel zu stark. Sie rubbelte mit der Zeigefingerkuppe über die Lider. Ein dezentes Grünlich sollte ausreichen. Es war ja auch nur, damit die Augen nicht so in den Höhlen verschwanden. Auch ein Zeichen des Alterns. Die Augen zogen sich in ihre beinernen Höhlen zurück. Verabschiedeten sich langsam aber sicher von der Welt und sahen aus größerer Distanz.

      Die Kinder behaupteten natürlich später, das sei Quatsch und sie habe nur geträumt damals auf dem OP-Tisch. Das Beruhigungsmittel sei wahrscheinlich so stark gewesen, dass sie trotz der örtlichen Betäubung ab und an mal wegduselte. Was die schon wussten, die Kinder. Wollen Sie keine Lupe nehmen?, hatte der Assistenzarzt zaghaft gefragt und vom Oberarzt die unwirsche Antwort bekommen: Lupe? Unsinn. Ab der hundertsten Operation braucht man keine Lupe mehr. Und dann war irgendetwas schiefgegangen mit dem Stechen des Stars und die Linse verletzt worden. Natürlich bestritten beide Ärzte energisch diesen Dialog, ja, sie drohten ihr sogar mit Klage, sollte sie ihre Zunge nicht in Zaum halten, aber Emmi wusste genau, was sie gehört hatte, und woher sonst sollten die massiven Sehstörungen kommen, die nach der Operation ihr Leben veränderten? Schwarzer Buchstabensalat in den Büchern, doppelte Zeitungsüberschriften und das Gesichtsfeld links so eingeschränkt, dass sie erschrocken zusammenzuckte, wenn sie auf dem Gehweg von einem Passanten überholt wurde. Von plötzlich vorbeirasenden Autos mal ganz zu schweigen.

      Was für schreckliche Monate. Nicht einmal bei Christinas unerwarteter Rückkehr aus ihrem fernöstlichen Grab konnte sie der allgemeine Begeisterungssturm mitreißen. Und als das Mädchen ein paar Tage zu Besuch kam, im Lotossitz auf dem Wohnzimmerteppich hockte und mit geschlossenen Augen und offenen Händen Ommmm – Ommmmm – Ommmm murmelte, waren ihre Blicke nicht ganz so freundlich auf die Jüngste gerichtet gewesen, wie es der Anlass der Auferstehung vielleicht gefordert hätte.

      Nichts ging mehr in jener Zeit. Nicht einmal die Volkshochschule, und sie saß hinter verschlossenen Türen mit ihren verquer blickenden Augen und dem klingelnden Tinnitus, und eine vage Ahnung stieg in ihr auf, wie der Anfang vom Ende aussehen könnte.

      Emmi fand die Wattestäbchen in dem Karton mit dem Schuhputzzeug ganz unten im Regal, bohrte sich energisch eins ins Ohr und betrachtete missmutig den braunen Schmalz an der Watte.

      Nach der zweiten Operation, die Ärzte sprachen nach dem verpfuschtem Starstechen beschönigend von postoperativen Korrekturen und pflanzten ihr eine neue Linse ein, entwirrte sich der Buchstabensalat wieder zu einigermaßen geordneten Zeilen, dafür aber trat ein anderes irritierendes Phänomen auf. Sie vertrug kein Licht mehr und hockte stundenlang im Dämmer und dachte