Killerwitwen. Charlie Meyer

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Название Killerwitwen
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847684800



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zu lesen, verquirlte das Auge die Reflexion der weißen Seiten mit den schwarzen Buchstabenreihen zu einem grieseligen Muster ohne erkennenswerte Konturen, und morgens knabberte sie appetitlos an ihren Brötchenhälften und starrte missmutig die jungfräulich zusammengefaltete Zeitung an.

      Sie lernte Straßenlaternen, Sonne, Lampen und sogar den Fernseher zu hassen und wenn eines ihrer Kinder kam, um sie zum Essen auszuführen, pustete sie dem Kellner die Kerze unter den Fingern aus und hoppelte mit ihrem Stuhl um den Tisch, bis sie den Platz fand, an dem es am wenigstens blendete und die Kinder vor Verlegenheit rot anliefen.

      „Ich werde die Kleine heute Abend anrufen“, murmelte Emmi und schloss die Badezimmertür hinter sich. „Und Hermann könnte ich eigentlich auch mal wieder begießen.“

      2.

      Der Anzeiger für‘s Koppstedter Land brachte auf der ersten Seite Dramatisches. Tragischer Todesfall überschattet Endspiel zwischen SV Achternhausen und TUS Bienstock. Ein verwirrter Rotfuchs, der am Vorabend aus dem Wald gehetzt kam, über den Rasen wetzte und zwischen den Beinen der ebenfalls hin- und herwetzenden Fußballspieler die Orientierung verlor, war so unglücklich unter die Spikes eines Stürmers geraten, dass er noch auf dem Spielfeld seinen schweren Verletzungen erlag. Allerdings erst, nachdem er wild um sich geschnappt und diverse Waden erwischt hatte, was im Nachhinein zu einer allgemeinen Panik führte, als man am Maul des Fuchses grünlichen Schaum entdeckte.

      Der Hundertjährige Kalender verkündete für den zweiten Tag im Heumond:

      Regnet’s am Tag unsere lieben Frauen,

      da sie das Gebirg tät beschauen,

      so wird sich das Regenwetter mehren

      und 40 Tage nacheinander währen.

      „Ach du liebes Bisschen“, murmelte Emmi Nichterlein und spähte aus dem Esszimmerfenster in den blauer Himmel, über den noch ein paar zerzauste Wölkchen huschten; die Nachboten des Orkans, der tags zuvor recht halbherzig über Koppstedt gefegt war. Es würde ein schöner, trockener Sommer werden, mochten die Wetterfrösche auch noch so unken. Die Schafskälte Anfang Juni war ausgeblieben, der Siebenschläfer knochentrocken gewesen und oben am Ribbenkopp, dem Koppstedter Hausberg, blühten seit zwei Wochen die Winterlinden. Der mickrige Sturm zählte nicht.

      Später am Vormittag beugte sich Emmi über die wuchtige Emaillebadewanne im hinteren Kellerraum - dem einzigen Erbstück ihrer Mutter - und ließ Wasser in die grüne Gießkanne laufen. Das übrige Mobiliar aus dem Elternhaus war, samt Charlotte Nichterlein selbst, durch eine als Ballast über Koppstedt abgeworfene Bombe eingeäschert worden, während Emmi in einer Göttinger Munitionsfabrik am Fließband stand und ihr kleiner Bruder die bayerische Verwandtschaft in den Bergen heimsuchte.

      Wie immer ärgerte sie sich angesichts der Wanne im Keller. Dieser Hermann! Wenn er damals bloß gleich zum Wohnungsamt gefahren wäre, als im Anzeiger der Artikel über die neu erbaute Reihenhaussiedlung Am Birkenpfuhl erschien, vielleicht hätten sie dann noch eines der Eckhäuser mit den großen Badezimmern ergattern können. Aber nein, Hermann musste natürlich erst einmal seinen heroischen Entschluss, Hausherr zu werden, in der nächstbesten Eckkneipe feiern, und als sein Kater endlich aufhörte, so kläglich zu miauen und die Augen wieder aufschwollen, da waren die Eckhäuser bereits an Ausgeschlafenere wie Sauerbachs und Woitzacks vergeben.

      Typisch!

      Und dann dieses dämliche Getue und all das verlogene Theater, als er mit den Papieren für eines der Mittelhäuser vor ihrer wütenden Nase herumwedelte und sich als Held feiern lassen wollte. Wie er beim Einzug am 1. Juli alles in den Himmel lobte. Die hellhörigen Pappwände zu den Nachbarn, die knarrenden Holztreppen, die Leitungen, die nicht einmal unter Putz verlegt worden waren und sogar diese quadratische kleine Abstellkammer hinter der Haustür, zu der sie fortan Badezimmer sagen sollte. Und abends betrank er sich, weil Lübke Bundespräsident geworden war und nicht Carlo Schmid von den Sozialdemokraten.

      Wie oft träumte sie in jenen Tagen, am Arm Cord von Herkensteins in atemberaubendem Ballkleid die große Freitreppe des Gutshauses hinunterzuschweben, umtost von frenetischen Beifallsrufen Hunderter geladener Gäste, ein kleines silbernes Krönchen in der Lockenpracht, während Kindermädchen mit sanften Liebkosungen die Herkenstein’schen Erben in den Schlaf wiegten.

      Was für ein Traum!

      Stattdessen schnarchte ihr besoffener Hermann so laut seinen Rausch aus, dass die Nachbarn gegen die Wand klopften, und in den provisorisch hergerichteten Dachkammern stritten sich drei quengelnde Gören über kindliche Nichtigkeiten. David ging zum Zeitpunkt des Einzuges bereits in die dritte Klasse, Stefan wurde nach den Sommerferien eingeschult, Julia war zwei und von dem vierten ihrer Kinder, welches das Schicksal und Hermanns Sperma für sie bereithielten, wusste sie Gott sei Dank noch nichts. Das Leben jammerte auch so im Tal, und Emmi jammerte stumm um Cord von Herkenstein, der aussah wie Errol Flynn.

      Und als sich Christina, ihr viertes Kind, dann auch noch anmeldete – ach du liebes Lieschen. Zu einem Zeitpunkt, wo sie sich auf der Straße nach Centstücken bückte, weil Hermanns großprotzige Zukunftsvisionen kläglich im Doppelkorn ertranken, und Emmis Hoffnungen längst vom Treibsand des Alltags verschluckt waren. Sie fuhr heimlich mit dem Bus aufs Land, aber die alte Hebamme, die noch vor dem Krieg all die kleinen Korrekturen vorgenommen hatte, über die man nicht sprach, wurde just im Moment ihrer Ankunft mit den Füßen voraus aus ihrer Kate getragen. Als auch die heißen Bäder und die schwere körperliche Arbeit das Ei nicht veranlassen konnten, seine verbissene Umklammerung mit der Gebärmutter aufzugeben, fügte sich Emmi notgedrungen in ihr Schicksal. Christina kam als rosiger Wonneproppen auf die Welt, ein süßes Baby mit schwarzen Haaren und blauen Augen, die heute noch so blau leuchteten wie damals. Mit ihrer später sommerbesprossten Stupsnase und dem entschlossen vorgereckten Grübchenkinn geriet sie weder dem Nichterlein’schen noch dem Rieffenbach’schen Familienzweig nach, und Emmi durchfuhr gleich beim ersten Anblick der Gedanke, sie sehe aus wie der längst verblichene Cord von Herkenstein.

      „Bist du sicher, das Kind ist von mir?“, hatte Hermann dann auch misstrauisch im Krankenhaus gefragt und sich kritisch im Spiegel über dem Waschbecken beäugt.

      Emmi stellte die halb gefüllte Gießkanne ächzend in der Wanne ab. Der harte Wasserstrahl aus dem Hahn prasselte auf das grüne Plastik, und es spritzte ihr kalt ins Gesicht.

      Ob sie wohl auch mit dem Wissen jeden Samstag zum Baden in den Keller geschickt zu werden so verbissen darauf bestanden hätte, auf die Welt zu kommen?, dachte Emmi. Und vor allem so holterdipolter. Ich hab’s damals ja kaum bis ins Krankenhaus geschafft.

      Christina und ihre Spinnenangst. Wie sie schon als Kleinkind unter ihrem Arm gebrüllt und gezappelt hatte, und wie sie später immer erst nackt und bibbernd um die Ecke des weißen Plastikvorhanges schielte, ob auch keine Spinne von der feuchten Decke gefallen war und mit schwarzen haarigen Beinen im Wasser paddelte, um sich auf sie zu stürzen, sowie sie in die Wanne stieg. Jede Woche aufs Neue ein Kampf. Tränen, Geheul und schließlich das ganze Repertoire elterlicher Machtworte mit diversen Androhungen. Und von jenseits der Kellerwand brüllte Ilse Taubes Thomas, der zwar keine Spinnen fürchtete, aber unter einer ebenso unheilbaren Wasserphobie litt.

      Und dann, eines Tages, nahm das Drama tatsächlich seinen Lauf, und auch Hermanns wütendes Brummen später, die Weiber hätten das Ganze schlichtweg herbeigeredet, viel zu viel Aufhebens um Christinas Spinnenangst gemach, und die Kinder verweichlichten bei diesen modernen Erziehungsmethoden nur, konnte die Folgen der Tragödie nicht mildern.

      Was für ein Sonnabend. Das Mädchen hockte zitternd im heißen Wasser und schrubbte sich unter angstgepeinigtem Umherspähen in Windeseile ab, als über ihr an der Decke ein altersschwacher Methusalem von einem Weberknecht wasserdampfbetäubt den Halt verlor und keine Elle vor Christinas Brust ins Wasser segelte. Als Emmi bei dem Gekreisch herumfuhr und vor Schreck ein Zwetschgenglas aus dem Kellerregal mit dem Eingemachten fegte, kam es gerade zur Katastrophe. Christina sprang in wilder Panik auf, ihr hochschnellender Körper hinterließ im Wasser einen Hohlraum, der augenblicklich eine kräftige Unterströmung auslöste, und als sie stand, pappte der