Reise nach Rûngnár. Hans Nordländer

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Название Reise nach Rûngnár
Автор произведения Hans Nordländer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847656753



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Krieger. Allen war eine große, schlanke Gestalt, eine blassgraue Haut und die leuchtend hellgrünen Augen gemeinsam, soweit er sie erkennen konnte.

      Nils´ alle anderen Gefühle überlagernde Niedergeschlagenheit ließ nach. Sie verschwand nicht, aber er litt nicht mehr unter ihr. Er warf einen verstohlenen Blick auf seine Bewacher und glaubte, auch bei ihnen eine gewisse Erleichterung festzustellen. Sie schwiegen immer noch, aber sie saßen weniger verkrampft auf ihren Bänken. Es gab kaum noch einen Zweifel, dass sie einer großen Gefahr entronnen waren, von der er nichts geahnt hatte. Am Ende hatten die Krieger ihn durch seine Gefangennahme vor einem noch übleren Schicksal bewahrt. Nils entschloss sich jedoch, im Nachhinein keine weichen Knie zu bekommen, wenn er bei dieser Vorstellung auch ein leichtes Kribbeln im Nacken verspürte. Er hätte auch gar nicht gewusst, worin diese Gefahr bestand. Nils schüttelte unmerklich den Kopf und wandte seinen Blick wieder nach draußen. Alle Müdigkeit war von ihm abgefallen und sein Hunger – beinahe – verschwunden.

      Die Sonne stand hoch über ihnen und anscheinend in ihrem Zenit. Daraus schloss Nils, dass sie bereits einen halben Tag unterwegs waren. Auf der Erde hätte er ausgerechnet, dass sie das verlassene Dorf bereits vor vier oder fünf Stunden verlassen hatten, aber die Fahrt kam ihm länger vor. Da er aber nicht mehr sicher war, auf der Erde zu sein, konnten hier auch andere Zeiteinteilungen herrschen. Und sein Gefühl half ihm nicht weiter.

      Die Straße verlief durch eine kleine Ortschaft. Nils sah einige Fremde, wie er die Bewohner dieses Landes mangels eines besseren Namens nannte, obwohl ihm diese Rolle sicher eher zukam. Es waren Frauen, Männer und Kinder. Es gab Haustiere und Vieh auf den Grundstücken. Das Dorf ähnelte dem, in dem Nils die letzte Nacht verbracht hatte. So musste jenes ausgesehen haben, als es noch bewohnt war. Sah man von der Erscheinung der Bevölkerung ab, hätte das Dorf genauso gut in Nils´ ehemals niedersächsischer Heimat liegen können – vielleicht ein paar Hundert Jahre früher, denn es gab weder Autos, noch konnte er eine Straßenbeleuchtung oder elektrische Leitungen erkennen. Und auch die Kleidung der Leute entsprach nicht dem, was Nils als seiner Zeit gemäß angesehen hätte. Vor lauter Begeisterung über diesen lebendigen Anblick nach der Zeit in dem trostlosen Reservat vergaß er, dass er ein Gefangener war.

      Das Dorf fiel hinter ihnen zurück und nun dauerte es nicht mehr lange, bis sie ihr Ziel erreichten. Bevor Nils etwas sehen konnte, hörte er, wie die Kutsche nach einem heftigen Stoß ein lautes Rumpeln erfüllte. Im gleichen Augenblick schob sich die gepflasterte Straße unter ihr hervor. Das Fahrzeug wurde noch etwas langsamer. Dann kamen links und rechts von der Straße die ersten Häuser in Sicht. Jetzt waren es Bürgerhäuser und keine Bauernhäuser mehr. Sie hatte eine Stadt erreicht. Durch das Guckloch kam eine Stadtmauer in Sicht. Das Tor stand offen und wurde von einigen Kriegern bewacht. Sie waren jedoch nicht angehalten worden. Oben auf der Stadtmauer, die die Häuser überragte, standen ebenfalls Wachen.

      Bei dem Dorf hätte man es noch behaupten können, aber als sie jetzt durch die Straßen der Stadt fuhren, war Nils sicher, dass sie nicht viel mit seinen bruchstückartigen Erinnerungen an Städte, wie er sie kannte, gemein hatte. Die Häuser waren zwei- höchstens dreistöckig gebaut. Die Wände waren in allen möglichen Erdfarben gestrichen und nur noch selten zeigten sie Fachwerkelemente. Die Einwohner trugen äußerst altmodische Kleidung, und Nils fielen ungewöhnlich viele Krieger auf. Niemand achtete auffallend auf die Kutsche. Demnach war sie ein vertrauter Anblick.

      Das ganze Bild zeigte eine Stadt, die eher ins Mittelalter passte, als in das einundzwanzigste Jahrhundert, aus dem Nils kam. Und dazu trug nicht nur die Stadtmauer bei. Der Eindruck, den er in dem Dorf vor der Stadt gewonnen hatte, bestätigte sich hier. Die Bewohner dieses Landes schienen in ihrer Entwicklung den Menschen seiner Heimat um mehrere Jahrhunderte hinterher. Es gab keine Autos, keine Straßenbahn, keine Fahrräder, keine elektrische Straßenbeleuchtung und keine Einkaufsstraßen. Merkwürdig, in diesem Augenblick konnte er sich wieder an erstaunlich viele Dinge erinnern.

      Auch wenn der Anblick freundlich war, wusste Nils, dass er nicht nach Hause kam. Plötzlich beschlich ihn ein unangenehmes Gefühl. Er war ein Gefangener, von wem auch immer, und er war noch weit davon entfernt, in Sicherheit zu sein.

      Die Kutsche wurde abgebremst und bog in einen Schlosshof ein. Nils sah hinter sich das Tor zufallen und innerhalb des eisernen Zaunes Wachen patrouillieren. Endlich kam die Kutsche zum Stehen. Die Rûngori-Krieger stiegen aus und der Anführer öffnete die Hintertür.

      „Aussteigen!“, befahl er einsilbig in seinem eigenartigen Dialekt.

      Nils sprang heraus. Ein warmer Sommerwind empfing ihn. Anfangs konnte er kaum geradestehen. Die Fahrt war lang gewesen und seine Beine durch das Sitzen steif geworden. Er spürte auch seinen Rücken. Blinzelnd sah er sich um. Seine Augen mussten sich erst einmal an die Helligkeit gewöhnen. Die Wachen standen wieder um ihn herum, hielten ihre Speere mit den Spitzen aber nach oben. Unter der Sonne leuchteten ihrer Augen schwächer und sahen nicht mehr ganz so beängstigend aus wie in der Kutsche oder wie am Morgen, als Nils so unvorbereitet von diesen Männern umringt wurde.

      „Folg mir!“, gab der Anführer seinen nächsten Befehl.

      Der Schlosshof war groß und ringsum von einer Mauer begrenzt, die nur an der Einfahrt von einem Eisenzaun abgelöst wurde. Es liefen erstaunlich viele Wachen herum. Hier muss schon ein sehr ängstlicher Herrscher wohnen, dachte Nils. Andere waren unbewaffnet und steckten in weniger kriegerischer Kleidung. Das waren bestimmt Knechte, Mägde und andere Bedienstete.

      Nils hatte sich nicht vorstellen können, ein solches Aufsehen zu erregen, aber während er zum Schloss geführt wurde, richteten sich fast alle Augen auf ihn. Die Leute blieben stehen und ein oder zwei Grüppchen stellten ihre Unterhaltung ein, um ihn anzuschauen. Er konnte hören, wie es im Schlosshof leiser wurde. Unsicher wandte er seinen Blick wieder nach vorn.

      Das Schloss war von beeindruckender Größe – und von noch beeindruckenderer Bauart. Nils konnte zwar nicht erkennen, wie tief es war, aber in der Breite erstreckte es sich von einer Schutzmauer zur anderen, das waren vielleicht einhundert Meter. Das ganze Gebäude überragte die Mauer um das Doppelte.

      „So baut doch kein Mensch!“, entfuhr es ihm, als er daran hochblickte. Dann bemerkte er, dass er sein Befremden laut geäußert hatte, vielleicht zu laut, aber die Wächter gingen regungslos darüber hinweg.

      Nils´ Verblüffung war durchaus gerechtfertigt, denn das, was er von dem Schloss übersehen konnte, konnte nur das Werk eines überspannten Bauherrn sein. Während die Burgmauer, und das Schloss ähnelte tatsächlich mehr einer Burg, noch ganz gewöhnlich, ja zweckmäßig errichtet worden war mit ihrem Wachgang und mannshohen Zinnen, zeigte die Burg selbst eine höchst sonderbare Gestaltung. Alles war schwarz, die Mauern, die Fensterrahmen, die Erker, Balkone und auch die Türme und Zinnen. Jetzt fehlen nur noch schwarze Raben, die schreiend über der Burg kreisen, dachte er. Für einen kurzen Augenblick entstand vor Nils´ innerem Auge das Bild eines finsteren Gemäuers in einem Gruselfilm. Er hatte keine Ahnung, bei welcher Gelegenheit er es gesehen hatte, aber das war auch wumpe. Sie waren doch alle mehr oder weniger gleich.

      Die Fenster waren unregelmäßig rund oder oval, und solche Formen hatte Nils noch nie gesehen. Sie waren auch nicht gleichmäßig angeordnet. An ihnen war nicht zu erkennen, wie viele Stockwerke die Burg hatte. Das Glas der Fenster spiegelte das Sonnenlicht. Seltsame Balkone ragten von dem Gebäude ab, einige von ihnen waren einfach außen vor die Mauer gesetzt und es schien unmöglich, sie aus dem Inneren des Schlosses zu erreichen. Zwei dicke, runde Türme, sie waren natürlich auch schwarz, erhoben sich über die vorderen Ecken des Schlosses und besaßen an den inneren Seiten jeweils noch einen dünnen, runden Turm, den sie buchstäblich huckepack trugen und der sie um das Doppelte überragte. Die Türme besaßen keine Fenster zur Hofseite. Dafür waren die vier Turmspitzen für die Beobachtung der Umgebung geeignet, und über ihren zinnenbewehrten Aussichtsplattformen schützten spitze, nur wenig überragende Dächer vor ungemütlichem Wetter. So dünn, wie die aufsitzenden Türme waren, musste es schwierig sein, die Aussichtspunkte über eine Wendeltreppe zu erreichen. Nils konnte auch niemanden dort oben erblicken.

      Zwischen den dicken Türmen, und das sah am ungewöhnlichsten aus, befand sich eine Art Verbindungsmauer. Sie war sichtbar auf das Obergeschoss des Schlosses aufgesetzt. Aber