Reise nach Rûngnár. Hans Nordländer

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Название Reise nach Rûngnár
Автор произведения Hans Nordländer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847656753



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er ein ungewöhnliches Geräusch. Es war so merkwürdig und wollte gar nicht so richtig in diese Gegend passen, dass Nils erschrak. Es begann leise und rauschend und wurde schnell lauter. Nils sprang in die Büsche und versteckte sich. Aus dem Rauschen wurde ein Rollen und Rumpeln, unterbrochen von einem gelegentlichen Quietschen, dazu dumpfes Hufgetrampel auf weichem Untergrund. Dann eine Stimme. Sie rief irgendeinen Befehl, jedenfalls war sie in einem solchen Ton ausgestoßen worden. Sie klang menschlich, aber verstanden hatte Nils sie nicht. Gleich darauf folgte zweimal das harte Knallen einer Peitsche. Die Geräusche wurden wieder leiser und verschwanden schließlich ganz.

      Eine Kutsche, schloss Nils. Es muss eine Kutsche gewesen sein. Er hatte zwar nichts sehen können, denn sie war nicht den schmalen Pfad entlanggekommen, aber so stellte er sich den Lärm vor, wenn eine Pferdekutsche in einiger Entfernung und verdeckt von einem Hügel an einem vorbeifuhr, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, jemals in seinem Leben eine Kutsche gesehen zu haben.

      Nils verließ sein Versteck. Der Pfad führte noch ein kurzes Stück bergan, und wenn er sich nicht irrte, musste er gleich hinter der Kuppel auf eine Straße treffen. Die letzten Schritte lief er.

      Tatsächlich. Sie war breit, aber nicht befestigt. Und kurz bevor sie hinter der nächsten Kurve verschwand, sah er in einer Staubwolke noch die Rückseite der Kutsche. Die Straße sah nicht so aus, als wurde sie häufig von Pferdegespannen oder Reitern benutzt, denn nur die Abdrücke der gerade vorbeigefahrenen Kutsche waren frisch. Es gab andere, von Fuhrwerken und Reitern, gelegentlich auch Fußabdrücke, aber sie alle waren älter und schon ziemlich verwischt.

      Nils blickte sich um. Er konnte weit und breit keine anderen Reisenden auf der Straße entdecken. Er überlegte, was er tun sollte. Er konnte warten, bis wieder jemand vorbei kam. So, wie die Straße aussah, konnte es allerdings einige Zeit dauern, denn offensichtlich gab es nur wenig Verkehr. Trotzdem hielt Nils es für erfolgversprechender auf seiner Suche nach Menschen, als wenn er dem Pfad weiter folgte, denn auch jenseits der Straße sah die Gegend einsam und unbewohnt aus. So traf Nils seine Entscheidung – und ging weiter.

      Er war es nicht gewohnt, auf eine innere Stimme zu hören, wahrscheinlich hätte er rundweg abgestritten, überhaupt eine zu besitzen, aber jetzt meldete sich etwas in ihm so lautstark und warnte ihn davor, längere Zeit an dieser Stelle zu bleiben, dass ihm kein Grund einfiel, weshalb er die Warnung nicht beachten sollte. Dazu kam ein unterschwelliges Gefühl, beobachtet zu werden. Plötzlich erinnerte sich Nils wieder an die beiden Schatten, die ihm bei der Brücke aufgefallen waren. Vielleicht waren sie doch keine Einbildung gewesen. Wenn sich diejenigen, die Ursache dieser Erscheinung waren, aber nicht zeigen wollten, dann war vielleicht Vorsicht angebracht. Nils sah sich noch einmal um. Wieder stellte er fest, dass er allein zu sein schien. Er überquerte in eiligen Schritten die Straße und verschwand im gegenüberliegenden Wald.

      Die innere Stimme hatte Nils nicht ohne Grund gewarnt, auch wenn es zu spät war, denn kurz nachdem er in den Wald eingedrungen war, traten zwei menschenähnliche Gestalten aus ihrem Versteck. Sie hatten sich geschickt im Unterholz des hinter Nils liegenden Waldes verborgen und gewartet, bis sie ihm unentdeckt folgen konnten.

      Nils wurde nicht erst beobachtet, seit er glaubte, zwei Schemen im Wald gesehen zu haben. Seine Sinne hatten ihn tatsächlich nicht getäuscht. Es waren zwei Krieger, die versuchten, ihm unauffällig auf den Fersen zu bleiben. Nun, auf den Fersen waren sie ihm nach wie vor, aber es war nicht ganz so unauffällig geschehen, wie sie es beabsichtigt hatten.

      Nils war von den beiden Wächtern durch einen dummen Zufall schon auf der Lichtung bemerkt worden, weil sie sich gerade in deren Nähe aufgehalten hatten. So war er ihnen genau zu dem Zeitpunkt ins Auge gefallen, als er durch einen engen, schimmernden Riss in der Luft in ihre Welt kam. Dieser Riss erhob sich bis etwa zweieinhalb Meter über den Boden. Er war entstanden, kurz bevor Nils auftauchte, und gleich danach wieder verschwunden. Die Wächter kannten diese Erscheinung und es war sogar eine ihrer Aufgaben, sie zu entdecken. Es handelte sich um ein Tor zwischen ihrer und der Welt der Menschen. Allerdings war es denkbar schwer, solche Tore zu entdecken, denn sie entstanden weder an den gleichen Orten noch zu den gleichen Zeiten, und sie blieben nur so lange erhalten, wie die Menschen brauchten, um herüberzukommen. Daher war es dieses Mal, wie eigentlich immer, wenn es gelang, wirklich ein Zufall. Und für Nils war es ein höchst unglücklicher Zufall obendrein.

      Die Wächter hatten den Befehl, Menschen, die in ihrer Welt auftauchten, zu beobachten, ohne mit ihnen Verbindung aufzunehmen. Aber es kamen nicht nur Menschen. Die Welt, in die Nils gekommen war, lag zwischen der Erde und einer ganzen Reihe anderer Welten und manchmal kamen dort Wesen an, die für Unruhe sorgten. Nils hatte jedoch Glück im Unglück, weil er als Mensch nicht zu den gefährlichsten Eindringlingen gehörte. Für jene galt der Befehl, sie sofort zu töten.

      Aber Nils war für die Wächter, die dem Volk von Rûngor angehörten, am falschen Ort aufgetaucht, nämlich im sogenannten »Reservat«, eine geräumte Zone, die nicht mehr betreten werden durfte, wobei das den meisten Bewohnern Rûngnárs aus bestimmten Gründen auch gar nicht mehr möglich war. Natürlich wusste Nils das nicht, doch das konnten die Rûngori-Wächter nicht ahnen und daher war er ihnen verdächtig. So entschieden sie sich dafür, diesen Menschen zunächst noch eine Weile zu beobachten, um herauszufinden, was er vorhatte, bevor sie ihn gefangennehmen würden. Aber selbst, wenn Nils von der verbotenen Zone gewusst hätte, wäre ihm keine andere Wahl geblieben, als genau dort nach Rûngnár zu gelangen.

      Nils´ Befürchtung, der Weg jenseits der Straße würde genauso langweilig werden wie der bis dahin, war unbegründet. Es dauerte nur noch eine kurze Zeit, dann erreichte er den Saum des Waldes. Von dort führte der Waldrand zu beiden Seiten in einem weiten Bogen von dem Pfad weg. So weit er sehen konnte, breitete sich eine ausgedehnte Steppe vor ihm aus, in der Ferne durch schroffe Berge begrenzt. Auf ihren Gipfeln glitzerten Eis und Schnee, obwohl sie von keiner Sonne beschienen wurden. Ausschnitte dieser Berge hatte er schon für kurze Augenblicke auf seiner Wanderung durch den Wald erspäht. Er sah hinter sich. Tatsächlich, der Wald zog sich einen Hang herab.

      Nils stand am Rand einer kesselartigen Ebene. Er hatte sie an einer Stelle betreten, an der das umgebende Gebirge am flachsten war, als wäre es hier vor langer Zeit abgetragen worden. Nun bestätigte sich seine Beobachtung gegen alle Wahrscheinlichkeit. Er hatte keine Sonne sehen können, weil weit und breit keine da war. Der Bereich des Himmels, den er übersehen konnte, ließ kein Versteck für die Sonne zu, denn er umfasste jetzt das ganze Gesichtsfeld. Das war doch unmöglich. Woher kam dann das Licht?

      Nils betrachtete die weite Ebene. Jetzt endlich, jetzt konnte er wieder Hoffnung schöpfen, bald auf Menschen zu treffen, denn der Pfad führte weiter, und wie es aussah, geradewegs auf eine Siedlung zu, denn vor sich sah er in einiger Entfernung eine Ansammlung von Häusern. Er schätzte, dass er sie in einer halben Stunde erreichen konnte. Von dort, wo er stand, war zwar niemand zu sehen, aber wo es ein Dorf gab, da mussten auch Menschen sein. Nils blickte sich um. Von seinen – eingebildeten? – Verfolgern war nichts zu sehen. Er beschloss, die Möglichkeit, verfolgt zu werden, zu ignorieren, schließlich konnte er ja nicht ständig im Schutz des Waldes bleiben, wenn er etwas über seine Umgebung herausfinden wollte. Er straffte sich und marschierte los.

      Doch schon, während er sich dem Dorf näherte, beschlich ihn das Gefühl, dass dort ebenfalls etwas nicht stimmte. Eigentlich hätte es Weiden geben müssen, auf denen Vieh graste, und auch bestellte Felder, selbst dann, wenn noch keine Menschen zu sehen waren. Doch es gab nicht einmal Weidezäune oder kultivierte Hecken und es herrschte die gleiche eigentümliche Stimmung wie auf der Lichtung. Wie dort kam ihm auch jetzt die Gegend wie erstarrt vor und tot. Wenn Nils die Kutsche, das widersinnig hellblaue Reh und das Eichhörnchen nicht gesehen hätte, dann wäre er jetzt endgültig davon überzeugt gewesen, sich in einer leblosen Welt zu befinden, von allen Menschen und Tieren entblößt. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er das Dorf erreichte. Es gab kaum einen Zweifel, dass es verlassen war. Nirgends konnte er Einwohner oder herumlaufende Tiere entdecken. Es herrschte buchstäblich Totenstille. Es gab keine Vogellaute, ja nicht einmal Wind, der das Laub der Bäume zum Rauschen gebracht hätte.

      Als Nils das Dorf betrat, spürte er zum ersten Mal Angst. Hier musste etwas Fürchterliches geschehen sein. Ihm kam der Verdacht, dass eine todbringende Krankheit das