Reise nach Rûngnár. Hans Nordländer

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Название Reise nach Rûngnár
Автор произведения Hans Nordländer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847656753



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der kam nicht aus dem Verlies. Nils wandte sein Gesicht zur Tür. Er erschrak – aber nur, bis ihm die Ursache wieder einfiel. Die beiden hellgrünen Punkte, die dicht neben der Tür schwebten, waren die Augen von Narvidur. Er stand an der Tür und horchte nach draußen.

      „Was ist das für ein Lärm?“, fragte Nils.

      Er richtete sich auf und kratzte sich an den Rippen.

      „Hör genau hin“, erwiderte Narvidur. „Bald ist es so weit.“

      Nils horchte.

      „Das ist – da wird gekämpft“, entfuhr es ihm. „Also hattest du Recht. Aber du hast behauptet, wir sind hier sicher.“

      Furcht nahm von ihm Besitz. Narvidur hatte am Abend zuvor zwar gesagt, dass es Krieg geben würde – etwas Krieg, wie er meinte, aber Nils kam aus einer Welt, in der er nie Krieg kennengelernt hatte, nicht einmal ein wenig, und nun war er unversehens in einen hineingeraten.

      „Keine Angst, solange wir hier in dem Verlies sitzen, sind wir sicher“, bemühte sich der Rûngori abermals, Nils zu beruhigen, um ihn im nächsten Augenblick wieder in Schrecken zu versetzen. „Hast du schon einmal gekämpft?“

      [Manche Fragen musste Narvidur so stellen, als wäre ihm Nils tatsächlich fremd, denn er hatte schnell bemerkt, dass der junge Mann seiner Erinnerung beraubt war. Er durfte ihm nicht sagen, was einst geschehen war. Und so konnte er ihm auch nicht erklären, was seine Ankunft in Rûngnár bedeutete. Das musste auf später verschoben werden. Vorläufig blieb es Narvidur aber ein Rätsel, wie es dazu kommen konnte, dass Nils gefangenengenommen wurde. Das war bestimmt kein Teil ihres Planes gewesen.]

      „Wie, gekämpft?“, erwiderte Nils verständnislos. Er grübelte und schüttelte den Kopf. „Nur mit meinem Bruder oder auch mit einem meiner Mitschüler, wenn ich mich recht erinnere.“

      „Nein, nein“, meinte Narvidur. „Wirklich richtig, mit einem echten Schwert aus Stahl?“

      „Natürlich nicht. Wann denn? Und ich will es auch nicht.“

      Narvidur schwieg und horchte wieder in den Gang. Dort tobte ein blutiger Kampf. Wie er angekündigt hatte, war die Stadt von einem feindlichen Heer angegriffen worden. Nils war dann auch durch den Kampflärm wach geworden. Die Bergkrieger griffen die Steppenkrieger an.

      Narvidur war über die Ereignisse nicht überrascht, er hatte sogar damit gerechnet. Diese Entwicklung hatte er in seinen Plänen berücksichtigt, obwohl ihm der genaue Zeitpunkt des Angriffes nicht bekannt war. Womit er jedoch nicht gerechnet hatte, war die Begegnung mit Nils. Er wusste zwar, dass dieser Mensch erwartet wurde, aber dass er ihm ausgerechnet an diesem Ort begegnete, war nicht vorgesehen. Auch war es nicht Narvidurs Aufgabe gewesen, Nils in Empfang zu nehmen. Jetzt kam zusätzlich zu seinem eigenen Vorhaben noch die Sorge, Nils heil aus der Burg herauszubringen. Das machte die ganze Sache nicht einfacher.

      „Was geht da draußen eigentlich vor?“, fragte Nils leise. „Warum herrscht Krieg?“

      Er war aufgestanden und hatte sich neben Narvidur gestellt. So, wie es sich anhörte, wurde auf dem Gang recht heftig gefochten. Er erinnerte sich schwach an seinen Weg in den Kerker. Es gab nur wenige Wachen und andere Gefangene hatte er überhaupt nicht gesehen. Jetzt schien es dort von Kämpfern nur so zu wimmeln.

      „Sie befreien ihre Brüder“, sagte Narvidur.

      „Welche Brüder und wer sind »sie«?“

      „Bergkrieger“, erklärte Narvidur. „Wir beide sind nicht die einzigen Gefangenen hier unten. Die Bergkrieger, die die Stadt angegriffen haben, holen ihre Waffenbrüder aus den Verliesen. Die Steppenkrieger haben eine ganze Menge von ihnen gefangen.“

      „Bergkrieger? Steppenkrieger? Sind das verfeindete Völker?“, fragte Nils.

      „Es ist schlimmer“, meinte Narvidur. „Es sind Stämme eines Volkes. Sie gehören alle zu den Rûngori. Aber auch, wenn hier gekämpft wird, ein richtiger Krieg ist es nicht, eher eine Schlacht.“

      „Aber sie überfallen die Stadt und töten ihre Einwohner“, wandte Nils ein.

      „Ich fürchte, das bleibt nicht aus. Es werden einige ihr Leben lassen. Sie werden ihre gefangenen Stammesgenossen befreien, versuchen, den Fürsten hinzurichten und vielleicht ein wenig plündern. Aber dann werden sich die Bergkrieger wieder zurückziehen. Es wird nicht lange dauern, dann geschieht das Gleiche in umgekehrte Richtung. So geht das hier schon ziemlich lange. Doch nun leise, ich glaube, der Lärm draußen lässt nach. Es ist besser, wenn sie uns nicht hören.“

      Was sollte das nun wieder? Warum wollte Narvidur nicht, dass sie gehört wurden? Er wollte doch auch befreit werden. Wäre Nils allein gewesen, dann hätte er alles daran gesetzt, auch freizukommen. Andererseits – es war Krieg für Nils, was immer der Rûngori davon halten mochte. Und auf dem Flur wurde gekämpft. Vielleicht hatte Narvidur doch etwas Angst. Aber konnten seine Freunde, die Bergkrieger, ihn nicht beschützen? Nils war überzeugt davon, dass Narvidur ebenfalls zu den Bergkriegern gehörte, warum sonst hatten die Steppenkrieger ihn eingekerkert. Aber immerhin, dachte Nils, rückt meine Hinrichtung wieder in einige Ferne. Seine Gedanken wurden durch leise Worte Narvidurs unterbrochen.

      „Wir werden warten, bis auf dem Flur wieder alles ruhig ist, um sicher zu sein, dass sich dort keine Krieger mehr aufhalten.“

      Nils war entsetzt, aber er zwang sich, ebenso leise zu sprechen wie sein Mithäftling.

      „Was? Wieso? Willst du nicht gerettet werden? Außerdem sehen sie doch sicher auch nach, ob hier Bergkrieger drin sind. Also werden sie uns doch so oder so entdecken.“

      „Ich glaube nicht“, sagte Narvidur. „Sei unbesorgt, wir werden schon nicht hier bleiben. Aber wir gehen auch nicht mit ihnen. Und, du wirst sehen, diese Tür wird die Einzige sein, die sie nicht öffnen werden.“

      Nils schüttelte den Kopf. Er fragte sich, ob alle Rûngori einen Sparren locker hatten. Das änderte jedoch nichts daran, dass Narvidur schließlich Recht behielt. Nils lauschte. Der Kampflärm war vorbei. Die Verteidiger waren wohl getötet oder geflohen. Er hörte einige Türen aufschlagen und Ausrufe der Freude. Dann wurden auch die Stimmen leiser und verstummten ganz.

      Nils begriff nicht, warum ihre Tür nicht geöffnet worden war. Es hatte noch nicht einmal jemand daran gerüttelt. Nils war sich nicht sicher, ob er den Worten Narvidurs trauen sollte. Aber vielleicht war es jetzt für sie sowieso zu spät und sie mussten elendig in ihrem Kerker zugrunde gehen. Nils spürte den Drang, gegen die Tür zu trommeln und um Hilfe zu schreien, aber die Anwesenheit Narvidurs hielt ihn davon ab. Unter diesen Umständen wäre ihm eine schnelle Hinrichtung sogar lieber gewesen. Doch dann geschah das Unglaubliche.

      „Wir können jetzt gehen, glaube ich“, meinte Narvidur. „Unsere Anwesenheit hier unten hat ihren Zweck erfüllt. Ich schlage vor, dass du dich draußen immer in meiner Nähe aufhältst, bis wir die Stadt verlassen haben. Es werden noch einige Kriegerscharen in der Burg herumlaufen.“

      Der Rûngori hatte in einer Art und Weise gesprochen, als wäre der Ausbruch aus einem verriegelten Verlies etwas Alltägliches. Bevor sich Nils nochmals fragen konnte, ob Narvidur einen Sparren locker hatte, hörte er ein leises Klicken, ein Schleifen und schließlich ein verhaltenes Quietschen. Dann fiel Licht durch einen größer werdenden Spalt in ihre Kerkerzelle. Nils konnte es kaum fassen.

      „Achte darauf, wo du hintrittst“, riet ihm Narvidur. „Blut ist rutschig.“

      Nils schluckte angewidert. Der Rûngori schob die Tür auf und trat auf den Flur. Er war verlassen, zumindest von allen lebenden Kriegern und Nils war froh, keine Verwundeten entdecken zu müssen. Doch das, was er sah – und roch, war schlimm genug. Ihm wurde übel.

      Bis auf ihren Kerkerraum waren tatsächlich alle anderen geöffnet worden, die Türen standen noch offen. Nils hatte keine Vorstellung, wie der Rûngori das angestellt hatte. Es grenzte für ihn schon an Zauberei. Narvidur hob zwei Schwerter auf und reichte Nils dasjenige, an dem am wenigsten Blut klebte.

      „Wozu? Was soll ich damit?“, fragte er.

      „Nimm