Reise nach Rûngnár. Hans Nordländer

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Название Reise nach Rûngnár
Автор произведения Hans Nordländer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847656753



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ihm verlangte, aber er tat es nur widerwillig. Sein Widerwille regte sich noch mehr, als er sah, welches Bild der Gang bot. Er hatte, soweit er sich erinnerte, noch nie so viele Leichen gesehen. Wenn er sich recht besann, hatte er noch nie eine gesehen. Und von diesen hier waren einige ziemlich schlimm zugerichtet. Nils´ Übelkeit nahm zu und er musste sich beherrschen, um sich nicht übergeben zu müssen.

      „Komm“, sagte Narvidur bestimmt, als er feststellte, wie Nils zögerte weiterzugehen. „Ich weiß, es ist kein schöner Anblick, aber du wirst dich daran gewöhnen.“

      Niemals, dachte Nils trotzig.

      Narvidur ging voran und Nils folgte ihm. Die folgende Zeit kam ihm wie ein abscheulicher Albtraum vor. Es war mehr ein Stolpern, während er sich zwischen den Toten seinen Weg suchte. Dann blieb Nils plötzlich mit einem Fuß hängen und strauchelte. Er versuchte, sich mit seiner freien Hand abzustützen, griff in eine Blutlache, rutschte aus und fand sich ausgestreckt auf dem Boden wieder. Scheppernd schlitterte sein Schwert davon. Wenn jetzt nichts geschah, was ihn ablenkte, dann würde er sich übergeben müssen, denn neben ihm lag der enthauptete Leichnam eines Kriegers. Nils schloss die Augen und würgte. Es geschah nichts.

      „Ich hatte doch gesagt, sei vorsichtig“, hörte er die tadelnde Stimme Narvidurs.

      Nils spürte, wie ihn starke Arme wieder aufrichteten. Der Rûngori verfügte über eine erstaunliche Kraft. Dann sammelte er das Schwert auf und drückte es Nils wieder in die Hand.

      „Pass von nun an besser auf“, sagte er, „und wirf deine Waffe nicht weg, bevor du sicher bist, sie nicht mehr zu benötigen. Nun komm und etwas schneller.“ Es kam dem Rûngori überhaupt nicht in den Sinn, darauf Rücksicht zu nehmen, dass Nils sich nicht recht wohlfühlte. Das ärgerte Nils. „Oder gefällt es dir hier so gut, dass du bleiben willst?“

      Nils erschrak. Die letzten Worte hatte Narvidur nicht laut gesprochen. Sie waren in Nils´ Kopf entstanden, aber es war die Stimme Narvidurs. Nils wischte sich kalten Schweiß von der Stirn und unterdrückte seine Übelkeit. Er fasste sein Schwert fester, was mit dem noch nicht getrockneten Blut an seiner Hand nicht einfach war, und ging hinter Narvidur her, der bereits im nächsten Flur verschwunden war. Nils beeilte sich, ihn wieder einzuholen.

      Sie brauchten keine Fackeln. Die Flure waren zwar nicht sehr hell, aber ausreichend ausgeleuchtet, auch wenn hier und da eine Fackel auf dem Boden lag oder erloschen war. Der Kampf hatte heftig getobt und Nils war dankbar, dass Narvidur mit dem Ausbruch gewartet hatte, bis er beendet war. Nils schauderte, als er daran dachte, was alles hätte passieren können, wenn sie sich ihren Weg durch die Kämpfer hätten bahnen müssen. Und er war ziemlich sicher, dass zumindest er es nicht einmal bis dorthin geschafft hätte, wo sie mittlerweile waren.

      Der Keller war größer, als Nils ihn in verschwommener Erinnerung hatte. Als er zu seiner Gefängniszelle geführt wurde, erfüllten ihn allerdings andere Dinge, als das Verlangen, sich alles genau anzuschauen. Dann kam die erste Treppe nach oben in Sicht. Dort unten, wo sich Narvidur und Nils jetzt befanden, war es vollkommen still und nur ihre leisen Schritte waren zu hören – und Nils´ Herzschlag, wie er glaubte. So wurden sie durch die hastigen Schritten rechtzeitig gewarnt, die ihnen vernehmlich von oben entgegenkamen.

      „Schnell! Dort in die Zelle!“, raunte Narvidur Nils zu und schob ihn auf die offene Tür zu. Bevor der Fremde die unterste Stufe erreichte, standen beide in der Dunkelheit des Kerkers und beobachteten den Flur. Mit schnellen Schritten lief ein Krieger, mit Schwert und Speer bewaffnet, in die Richtung, aus der sie kamen. Er verschwand hinter der nächsten Biegung des Ganges.

      „Ein Steppenkrieger“, erklärte Narvidur leise. „Er wird wahrscheinlich gleich zurückkehren. Lass uns hier noch einen Augenblick warten.“

      „Kommt er unseretwegen?“, fragte Nils. „Aber – deine Augen!“

      „Was ist damit?“

      „Sie leuchten nicht.“

      „Meinst du nicht, es wäre unpassend, wenn sie es täten, während wir uns im Dunkeln zu verbergen versuchen? Ich gebe aber zu, dass meine Sehkraft darunter leidet. Aber zu deiner Frage. Ich weiß es nicht. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.“

      Es dauerte tatsächlich nicht lange. Nach wenigen Augenblicken hörten sie seine Schritte wieder. Der Mann hastete an ihrer Zelle vorbei und die Treppe hoch. Dass die vorher offenstehende Tür jetzt fast geschlossen war, schien er nicht zu bemerken.

      „Gut, ich glaube, jetzt können wir wieder los“, meinte Narvidur. „Von nun an halte dein Schwert besonders gut fest und sei bereit, es zu benutzen. Dort oben werden sich noch mehr Krieger herumtreiben und es ist nicht damit zu rechnen, dass sie uns sehr wohlgesonnen sind.“

      Nils schluckte unbehaglich. Ihm war jetzt nicht mehr übel, aber er hatte Angst, und wenn Narvidur darauf geachtet hätte, dann wäre ihm sein etwas bleicher Gesichtsausdruck aufgefallen. Aber er achtete nicht darauf, und es war unwahrscheinlich, dass Nils´ Befinden seine Absicht beeinflusst hätte. Nils folgte Narvidur dicht auf und was blieb ihm auch anderes übrig. Nicht zum letzten Mal fragte er sich, in was für eine irrsinnige Geschichte er geraten war.

      Narvidur sammelte zwei erloschene Fackeln vom Boden auf.

      „Wofür –?“, begann Nils.

      „Später. Los jetzt.“

      Schon bald hörten sie, dass die Kämpfe im oberen Teil der Burg noch nicht beendet waren. Zwar spärlich, aber doch deutlich drang Waffenlärm an ihre Ohren. Sie mussten drei Treppen emporsteigen und an der oberen Schwelle der Letzten blickte Narvidur vorsichtig um die Maueröffnung herum. Nils drückte sich hinter ihm eng an die Wand. Prüfend beobachtete er den Flur hinter ihnen, aber er blieb leer.

      „Komm!“, flüsterte Narvidur und unterstrich den Befehl mit einer Handgeste.

      Der Raum, in den sie dann kamen, er glich mehr einer Halle mit tragenden Säulen in der Mitte, war verlassen. Auch hier war gekämpft worden, aber weniger heftig als unten im Keller. Neben einer Säule fanden sie die Leichen von zwei erschlagenen Kriegern und hier und dort Blutlachen. Schnell durchquerten die beiden »Ausbrecher« den Raum.

      Es schloss sich ein Flur an. Und wieder lagen ein paar Tote herum. Nils hoffte schon, auch diesen Teil der Burg heil hinter sich bringen zu können, als vor ihnen ein Kämpfer der Steppenkrieger aus einem kleinen Nebenraum heraussprang. Er sagte nichts, sondern griff sofort an.

      Nils hatte Glück, dass Narvidur vor ihm ging und den Angriff abfing, denn obwohl er bewaffnet war, hätte er kaum gewusst, was er mit dem Schwert anfangen sollte. Nils trat ohne zu überlegen ein paar Schritte zurück. Vielleicht kam ihm unbewusst der Gedanke, den Rûngori eher zu behindern, als ihm wirklich helfen zu können. Wahrscheinlicher aber war, dass er einfach nur Angst hatte.

      Doch das Schicksal nahm keine Rücksicht auf Nils. Dieses war der erste Tag seiner Bewährung in der fremden Welt und so hielt er auch für ihn einen Gegner bereit. Nils erkannte in seinen Augenwinkeln, dass sich ihnen von hinten ein weiterer Kämpfer näherte und er nicht so aussah, als käme er in Frieden. Es war eine Lage, in der Nils nur überleben konnte, wenn sein Verstand aussetzte. Und das tat er in diesem Augenblick.

      Ohne zu überlegen, ahmte er nach, was er vorher bei Narvidur gesehen hatte. Er hob sein Schwert und es gelang ihm irgendwie, den ersten Angriff des Gegners abzuwehren. Es war für ihn ein glücklicher Umstand, dass der Steppenkrieger nur mit einem Schwert und nicht mit einem Speer angriff. Denn dann wäre Nils vermutlich nicht nahe genug herangekommen, um dem Angriff wirksam zu widerstehen.

      Nils parierte noch ein oder zwei weitere Attacken und brachte es sogar fertig, einen zaghaften Gegenangriff zu führen, doch dann schlug sein Gegner ihm das Schwert aus der Hand. Nils stieß einen Schrei aus, nicht vor Schmerz, er war nicht verwundet worden, aber vor Schreck. Er dachte immer noch nicht, sondern wartete nur wie gelähmt auf sein Ende.

      Eine kräftige Hand riss ihn aus der Gefahr. Narvidur war zur Stelle. Der Rûngori-Krieger zögerte kurz, griff dann aber unvermittelt wieder an. Doch dieses Mal stand ihm ein erfahrener und furchtloser Kämpfer gegenüber und er kam nicht einmal zu einem gezielten Treffer, ehe