Medusas Ende. Elisa Scheer

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Название Medusas Ende
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737562607



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seine Einkünfte offenbar nicht – was waren das denn für Draculazähne?

      „Hundertachtzig“, bot er mir an.

      Wir einigten uns auf hundertfünfundachtzig, ich schob ihm die letzten Reste Familienbesitz über den Tresen und sortierte die verknitterten Euroscheine sorgfältig ein, dann bedankte ich mich strahlend und eilte zur Bank, wo ich hundertfünfzig Euro sofort auf mein Konto einzahlte. Fünfunddreißig durfte ich behalten, einundzwanzig hatte ich noch gehabt, machte sechsundsiebzig, also den Lebensunterhalt für fünfzehn Tage. Damit musste ich also bis zum fünften November hinkommen. Wenn ich natürlich pro Tag nur vier Euro ausgab, würde ich bis zum neunten November reichen. Zu essen und zu trinken hatte ich noch – ach ja, Duschbad!

      Bei Aldi gab es eine Riesenflasche für 99 Cent, Klasse!

      Ich eilte beschwingt nach Hause, angelte mir die kleine Blechdose aus dem Regal, die ein englisches Cottage darstellen sollte – Mitbringsel von irgendeiner Tante aus meinen Kindertagen – stellte fest, dass sie außer ein paar Staubflusen und einer verbogenen Büroklammer nichts enthielt, säuberte sie und legte drei Euro und einen Cent hinein. Wenn ich den Überschuss jeden Tag aufhob – vielleicht reichte ich sogar bis Mitte November? Mein Konto würde das allerdings auch nicht retten. Vielleicht, wenn ich eine Schulbescheinigung bei der Bank vorlegte? Aber wahrscheinlich würde mich Silberbauer nur irritiert mustern. Der schwebte derartig über alltäglichem Kleinkram, er wusste wahrscheinlich gar nicht, was ein Bankkonto war. Jedenfalls sah er aus wie einer, der die niederen Dinge von seiner Frau erledigen ließ.

      Ich beschloss, trotzdem morgen einmal nachzufragen. Jetzt stand aber Korrigieren auf dem Programm! Das übliche Leberwurstbrot kauend, machte ich mich an die Mappen, monierte die schlampige Heftführung, fehlende bzw. unausgefüllte Arbeitsblätter und die zum Teil recht klägliche Gestaltung der Protokollversuche. Spaß machte das keinen, und als ich die Hälfte durchhatte und feststellen musste, dass es schon wieder dunkel war, kam ich mir schon sehr ausgebeutet vor. Alle anderen hatten jetzt Feierabend – und ich? Ich hatte noch fünfzehn Mappen vor mir.

      Kleine Pause! Hatte ich nicht irgendwo eine Liste des Kollegiums? Wo wohnten Nadja und Verena Ernst eigentlich? Und diese unsägliche Bernrieder? Ich suchte in meiner allgemeinen Mappe herum und förderte die Liste schließlich zutage. Name, Vorname, Dienstrang, Adresse, Telefon, Autokennzeichen – damit sich kein Unbefugter auf dem Lehrerparkplatz breit machte, wahrscheinlich. Nadja Thiemig, StRin, Tiepolostraße 13. Gar nicht so weit weg, zwischen Bahnhof und Malerviertel. Die bezog ja auch schon mindestens seit zwei Jahren ein anständiges Gehalt, da konnte man sich schon eine menschenwürdige Wohnung leisten.

      Verena Ernst, StRin z.A., Welsergasse 9. Aha, ein Altstadtfreak. Auch nicht schlecht. Was die Wohnung taugte, konnte man daraus allerdings nicht ablesen, in den Gassen der Altstadt gab es billige, unrenovierte Altbauten genauso wie wunderbar sanierte Riesenwohnungen mit Stuckdecken, imposante Penthousewohnungen und Lofts mit Parkett und Lastenaufzug.

      Christa Bernrieder, OStRin, Benediktsweg 4. Das musste in Mönchberg sein. Auch nicht schlecht.

      Und ich hauste in diesem winzigen Kabuff in Selling! Andererseits war die Wohnung echt billig und eigentlich ganz nett. Das Haus war in einigermaßen gutem Zustand, wenn auch nicht mehr so wie in den Siebzigern, die Nebenkosten waren niedrig, und der Bus hielt fast vor dem Haus. Außerdem gab es um die Ecke einen Aldi und einen billigen Drogeriemarkt, dazu eine der vier Städtischen Bibliotheken Leisenbergs. Was wollte ich eigentlich mehr? Vollgestopft war die Wohnung auch nicht gerade, weil ich ja kaum etwas besaß. War das nicht ein ziemlich wünschenswerter Zustand? Die Buchhandlungen waren voll von „Entrümpeln Sie Ihr Leben“ - Ratgebern: das Geld konnte ich mir schon mal sparen!

      Bügeln sollte ich allerdings.

      Nein, erst die nächsten – naja, fünf Mappen. Ich quälte mich von Mappe zu Mappe, entwarf zwischendurch eine Deutschstunde für die Neunte und durfte schließlich mein Bügelbrett aufbauen. Radio hörend bügelte ich meine T-Shirts, räumte alles weg und nahm mir die nächsten fünf Mappen vor.

      Hunger! Was hatte ich denn noch im Haus? Ein paar Fertigsuppen, einige Fünfminutenterrinen, die mal im Sonderangebot gewesen waren, Brot und Leberwurst, einen halben Beutel geschälte Minikarotten.

      Ich steckte den Wasserkocher ein und riss eine der Terrinen auf, dann kehrte ich mit den Karotten an den Schreibtisch zurück und korrigierte lustlos weiter. Wie sollte das bloß weiter gehen? Ich war noch nicht einmal auf Lebenszeit verbeamtet (das dauerte ja auch noch drei Jahre) und hasste das Korrigieren jetzt schon?

      Schluss mit dem Selbstmitleid! Ich war freiwillig Deutschlehrerin geworden, jetzt musste ich da eben durch. In Zukunft würde ich einfach besser planen, damit ich pro Woche nur ein Ex und einen Heftestapel hatte. Und irgendwann würden auch meine Feinde an Macht verlieren und ich bekäme vielleicht einen netten Stundenplan mit nur zwei Deutschklassen...

      Eigentlich ging es mir saugut, redete ich mir halblaut vor und schlug die nächste Mappe auf, immerhin hatte ich eine Wohnung, das konnte nicht jeder von sich behaupten. Und einen Job, der mir sicher war! Vor ein paar Jahren kriegten nur die Allerbesten eine Planstelle, jetzt waren die Zeiten wieder etwas besser, und davon hatte ich profitiert. 2,15 war schließlich keine Traumnote. Ich klappte die Mappe zu und nahm mir die nächste vor. Äh, der Wasserkocher! Ich goss die Terrine auf, rührte um und drückte den Aludeckel wieder fest, dann kehrte ich zu meiner Mappe zurück.

      Außerdem hätte ich ja auch eine Stelle in München kriegen können, der totale Albtraum. Da hätte ich mir nicht einmal einen Schlafplatz unter den Isarbrücken leisten können! Oder im Bayerischen Wald, da, wo ich ein halbes Jahr als Referendarin gewesen war. Gut, die Mieten waren geschenkt, aber es war schon sehr ländlich gewesen... nicht mein Fall.

      Das zweite Halbjahr im Schwäbischen hatte mir eigentlich ganz gut gefallen, eine nette Schule, eine überschaubare hügelige Kleinstadt – und schwäbische Preisgestaltung, was mir sehr entgegenkam. Und dann wieder zurück zur Ausbildung nach Leisenberg, wo ich mir natürlich eine neue Wohnung suchen musste. Das Miniappartement war eigentlich ein Glücksfall gewesen, genauso wie die Ausbildung am Leopoldinum. Da hätte ich gerne eine Stelle gekriegt, aber die hatten leider keinen Bedarf, die hatten schon jede Menge junge Lehrer und niemanden, der in Pension ging und ersetzt werden musste.

      Ganz im Gegensatz zum Albertinum mit seinem großenteils überalterten Kollegium! Nächstes Heft... Andererseits war das vielleicht auch wieder ein Glücksfall – in den nächsten Jahren gingen sicher einige Fossilien in Pension.

      Wie alt war die Bernrieder eigentlich genau? Vielleicht war sie ja schon viel älter als Anfang vierzig und hatte sich nur gut gehalten? Wo konnte ich das rauskriegen?

      Zurück zum Heft! Immerhin war das schon Nummer 27, nur noch vier Mappen lagen neben meinem linken Ellbogen. Und die Terrine musste jetzt auch fertig sein! Ich löffelte langsam und genüsslicher, als es der etwas pampige Inhalt verdiente. Wie immer hatte ich doch nicht gründlich genug umgerührt und stieß auf dem Grund auf einen Klumpen Saucenpulver mit sehr penetrantem Pilzgeschmack.

      Satt und einigermaßen zufrieden ackerte ich die letzten vier Mappen durch, steckte den ganzen Stapel in die Jutetasche, notierte mir einige Gedanken zur morgigen Stunde in der K12, freute mich, dass ich die Geschichtsstunde aus der neunten Klasse morgen in der anderen Neunten noch einmal verwenden konnte, und streckte mich wohlig. Eigentlich ging es mir doch wirklich prima – und ich hatte alles korrigiert! War ich nicht gut?

      Dafür war es jetzt aber auch schon halb zehn. Das hieß, dass ich noch eine halbe Stunde lesen durfte, um morgen nicht zu müde zu sein.

       MI, 22.10.2003

      Ich spulte meine Geschichtsstunde recht routiniert ab, weil ich sie ja gestern schon gehalten hatte, und staunte dabei wieder über die Unterschiede zwischen den beiden neunten Klassen: Wo sich gestern mehr oder weniger kenntnisreiche Diskussionen entsponnen hatten, herrschten heute absolute Ruhe und eifriges Mitschreiben, als rechneten die Armen mit einem Extemporale. Das war eigentlich keine so blöde Idee, überlegte ich. Aber am Freitag? Am letzten Schultag vor den Herbstferien? Ach was, Herbstferien, das war doch nichts Besonderes. Ich