Aktive Gewaltfreiheit. Группа авторов

Читать онлайн.
Название Aktive Gewaltfreiheit
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429063849



Скачать книгу

Namen Gottes selbst setzt. Sie übertrifft alle sonst denkbaren messianischen Ansprüche, wobei auch der Zeitunterschied zwischen dem ‚es ist gesagt worden‘ und dem ‚ich sage‘, das jetzt und heute gilt, zu beachten ist. Sie wird auf Jesus zurückgehen; im Judentum ist sie unerhört und in der Gemeinde ist Jesu Gegensatz zum Gesetz entweder gemildert oder, bei Paulus, vom Kreuzestod her anders begründet worden, bis er schließlich überhaupt aus dem Gesichtsfeld verschwand.“1 Die Vorstellung eines „seine“ Lehre an die Stelle des Gottesgesetzes vom Sinai stellenden Jesus hält sich immer noch in vielen Köpfen und wird gerne bemüht, um die Botschaft Jesu vor einer schnell aufgebauten dunklen Folie zu profilieren; in der Forschung ist sie jedoch längst aufgegeben worden.

      Eine differenzierende Sicht, die in den letzten Jahrzehnten in der Bibelwissenschaft erarbeitet worden ist, bietet jetzt zusammenfassend Matthias Konradt in „Das Neue Testament Deutsch“ von 2015. Der Vergleich der im matthäischen Text zitierten Thesen mit den alttestamentlichen Bezugsstellen ergibt, „dass die Thesen ein Toraverständnis repräsentieren sollen, das die Gebote entweder nur buchstäblich auffasst oder ihre Bedeutung bzw. ihren Geltungsbereich durch Interpretation einschränkt“2. Es werden also in Thesen und Gegenthesen Interpretationen der Tora entgegenstellt, es geht nicht um die Zurückweisung der Sinaitora durch die vollmächtige Lehre Jesu.

      Konradt hebt aber eine weitere Nuancierung des Textes hervor, die in diesem Zusammenhang Beachtung verdient und zu einer sorgfältigen Lektüre insgesamt mahnt: „Merkwürdig wenig beachtet wird in der Diskussion, dass die antithetische Formel nicht ‚es ist (zu den Alten) gesagt worden, ich aber sage euch‘ lautet, sondern (…) ‚ihr habt gehört, dass…‘. ‚Es ist gesagt worden‘ steht parallel zur Einleitung der Erfüllungszitate (…), verweist also auf die hinter der Tora stehende Autorität Gottes; die Dekaloggebote sind in Ex 20 direkte Gottesrede. Die ‚Alten‘ sind entsprechend die Sinaigeneration. In dem einleitenden ‚ihr habt gehört‘ steckt aber eine Relativierung bzw. ein Verweis auf den (synagogalen) Prozess der Vermittlung der Toragebote: Euch hat man das so gesagt; ihr habt das in der Synagoge bei der sabbatlichen Toraauslegung so vernommen, dass zu den Alten gesagt wurde.“3

      Das ändert vor aller Einzelinterpretation den Blick auf die Thesenreihe grundsätzlich. „Die Antithesen stellen also nicht Jesu Wort über oder gegen das Wort der Tora, sondern Jesu Auslegung des in der Tora offenbarten Willens Gottes gegen die Auslegung von Schriftgelehrten und Pharisäern. Anzufügen ist, dass die Thesen keine historisch ohne Weiteres verwertbaren Quellen für das tatsächliche Gesetzesverständnis der Pharisäer sind. V. 20-48 ist vielmehr im Rahmen der (polemischen) Auseinandersetzung mit ihnen zu lesen, die das gesamte Evangelium wie ein roter Faden durchzieht.“4 Folglich sind „die Antithesen nicht torakritisch, sondern auslegungskritisch zu lesen“5. Diese Feststellung kann gar nicht überbewertet werden.

      „Auch die geläufige Rede von Gebotsverschärfungen trifft das mt [matthäische, G.St.] Verständnis insofern nicht präzise, als es für Matthäus nicht um Überbietungen der Gebote geht, sondern um Explikation ihres vollen und tieferen Bedeutungsgehalts.“6 Diesen von antijüdischen Klischees befreiten Ansatz hatte 2006 schon die „Bibel in gerechter Sprache“ in einer paraphrasierenden Übersetzung von Mt 5,21-48 aufgenommen und war damit vielfach auf Unverständnis gestoßen. Anstelle des immer missverstandenen „ich aber sage euch“ hatte diese Bibelausgabe die Wiedergabe „ich lege euch das heute so aus“7 gewählt und auf diese Weise die „Thesenreihe“ als fingierte Disputation verstanden.8

      Schwierigkeiten der Deutung

      Dass die Deutung der fünften These weitaus schwieriger ist als die Interpretation der sechsten, signalisieren schon die wechselnden Überschriften in Bibelausgaben, Kommentaren und Arbeitshilfen. Geht es um (das Verbot der) Vergeltung erfahrenen Unrechts, geht es – dramatischer formuliert – also um einen „Racheverzicht“? Oder geht es um etwas anderes, nämlich um den Verzicht auf Wiedergutmachung eines Schadens, also um das großzügige Aufgeben von legitimen und juristisch gemeinhin unproblematischen Schadensersatzansprüchen? Oder wird noch etwas ganz anderes gefordert, nämlich ein genereller Gewaltverzicht als christliche Grundhaltung im zwischenmenschlichen Bereich? Haben die Jünger/innen Jesu das Böse also einfach hinzunehmen? Wird Passivität gefordert, ein Zurückweichen vor dem Bösen, als Signatur christlicher Lebenspraxis?

      Im Blick auf die Textstruktur der fünften These gefragt: Wie fügen sich die offenkundige Anspielung auf die Talionsformel „Aug‘ um Auge“ und die in sich sehr unterschiedlichen folgenden drei Beispiele und schließlich noch die Aufforderung zum Umgang mit Bittstellern zu einer kohärenten Deutung zusammen?

      Gemeinhin setzt die Interpretation der fünften These bei den Überlegungen zum „ius talionis“ an, auf das im Eingang des Abschnitts unstrittig Bezug genommen wird. Rechtsgeschichtlich lässt sich die Funktion der Formel gut beschreiben; sie steht für eine Begrenzung der Rache, schließlich auch für die Regelung von Wiedergutmachung bei angerichtetem Schaden (vgl. Ex 21,22-25). Aber wie stark dieser Hintergrund auf die matthäische Perikope einwirkt, lässt sich traditionsgeschichtlich nicht ableiten. Es spricht viel dafür, dass die Talionsformel eher eklektisch verwendet wird, losgelöst von den pentateuchischen Kontexten (vgl. noch Lev 24,19f; Dtn 19,21) und den zeitgenössischen jüdischen Rechtsdiskussionen, und dass sie zugleich pointiert eingesetzt wird, um als bekannter Aufhänger einen Akzent zu setzen: Das Kurzzitat der Formel und das anschließende Jesus-Wort sind verbunden durch die dreimal gesetzte Präposition „anti“; darauf also liegt der Akzent. Die Talionsregelungen der Tora werden nicht umfassend aufgenommen, es wird nur auf ein Element angespielt, erst recht kommen nicht die komplexen rechtlichen Regelungen ihres praktischen Gebrauchs in den Blick. Bleiben wir eng am Wortlaut, dann geht es Jesus um die Vermeidung einer Anti-Haltung, um den Wechsel von einer „Logik“, einem Verhaltensmuster zu einem anderen, einem besseren. Die Verwendung eines Zitats aus einem Gesetzeskorpus verleitet Ausleger leicht dazu, als Hintergrund von Mt 5,38-42 einen Gerichts- oder Prozesskontext anzunehmen; diese Vermutung passt allerdings nur für das zweite Beispiel, in dem direkt vom Prozessieren die Rede ist.

      Das führt zu einem weiteren Auslegungsproblem: Worum geht es in den längst sprichwörtlich gewordenen Beispielen von der anderen Wange, dem Gewand und der zweiten Meile? Was ist gemeint, worauf zielen sie ab und wie erklärt sich ihre Zusammenstellung? In welcher Weise lassen sie sich mit dem Aufruf zur Überwindung einer Anti-Haltung verbinden? Hier ist auch besonders auf die Abschlussmahnung in V. 42 zu achten, die vordergründig ganz anders gelagert ist und wie ein mitgeschlepptes Traditionsstück wirken mag, das nur ungefähr in den Zusammenhang zu passen scheint.

      Es ergeben sich zahlreiche Fragen zur Deutung der fünften These. Leichter scheint es zu fallen, den Zusammenhang der fünften und sechsten These zu erfassen. Aber ist mit der Zuordnung – „Verzicht auf ‚Widerstand‘ als negativer Seite und Feindesliebe als positiver Entsprechung“ – die Pointe in vollem Umfang erfasst? Welche Bedeutung hat die geforderte „Liebe“ in Bezug auf den Feind? Und welche Rolle hat die volltönende Abschlussformulierung, die Forderung einer gottgleichen „Vollkommenheit“ (so die durchgängige Übersetzung) in Bezug auf die Feindesliebe und möglicherweise die gesamte Thesenreihe?

      Ich schlage angesichts dieser Interpretationsprobleme besonders der fünften These vor, nicht mit der enigmatischen Einleitung in Mt 5,38f zu beginnen, sondern den Nahkontext der Bergpredigt als Interpretationshilfe zu nutzen, und zwar in zweifacher Weise: zum einen stärker auf den Zusammenhang der beiden Thesen zu achten und zum anderen die auffälligen Signale einer kontextuellen Einbindung gerade dieser beiden Absätze aufzugreifen.

      Die fünfte und die sechste These weisen im Aufbau große Gemeinsamkeiten auf, die den intuitiv erfassten inneren Zusammenhang, die Diskussion von Alternativen im Umgang mit dem Bösen und speziell dem Feind, unterstreichen und die zahlreichen Einzelüberlegungen in ein größeres Bild integrieren. Beide Abschnitte sind dreiteilig aufgebaut. Auf die zugespitzte Disputation (Zitat der überlieferten Position – dazu die Lehre Jesu) als Aufmerksamkeitserreger in 5,38.39a//43-45a folgt jeweils eine Beispielreihe in 5,39b.40f und 46.47; am Schluss steht in beiden Fällen eine markante Forderung in 5,42 und 48.

      Nachahmung Gottes, kein „Passivismus”

      Anders