Aktive Gewaltfreiheit. Группа авторов

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Название Aktive Gewaltfreiheit
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429063849



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einen Konsens darüber gibt, was Frieden ausmacht und wie auf ihn hinzuarbeiten ist, so kann es nicht verwundern, dass es im Islam nicht anders ist. Gegenwärtig lassen sich nach Frau Kadayifici-Orellana drei gegensätzliche und gegeneinander ringende Interpretationsweisen von Gewalt und Frieden in der muslimischen Welt ausmachen. Sie charakterisiert sie als

      – offensiv: Allahs Herrschaft auf der Erde und über sie als Garant für Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden muss mit allen Mitteln gegen die vorherrschenden Systeme der Unterdrückung und Ausbeutung durchgesetzt werden, wenn es nicht anders möglich ist, mit Gewalt und Terror;

      – defensiv: Im Falle der Bedrohung des Glaubens und des Lebens inklusive des Landes und Besitzes ist eine kriegerische Abwehr erlaubt; sie muss sich allerdings an die Kriterien gemäß der Lehre vom gerechten Krieg halten;

      – gewaltlos: Gemäß den heiligen Texten des Islam ist der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden verpflichtend, hat allerdings mit gewaltfreien Maßnahmen zu erfolgen.

      Nach Überzeugung von Frau Kadayifici-Orellana wird die letzte, die gewaltlose Interpretationsweise am besten dem Geist der zentralen islamischen Quellen gerecht. Diesen zufolge, so führt sie dazu aus, „beginnt der Frieden mit Gott, denn as-Salam (Frieden) ist einer der schönsten der 99 Namen Gottes (Q 59:23). Dieser Frieden ist ein positiver Zustand von Geborgenheit oder Sicherheit, der den Frieden mit sich selbst einschließt sowie den Frieden mit seinen Mitmenschen, mit der Natur und mit Gott (…). Frieden ist jedoch nicht nur ein ‚rein passiver Zustand‘, sondern bedeutet ‚ganz aktiv gegen die Bedrohungen des Bösen, der Zerstörung und des Aufruhrs einzutreten, die von innen oder von außen herrühren können‘ (…). So fordert Gott die Gläubigen stets auf, ihr Streben auf die Wiederherstellung von Harmonie, Gerechtigkeit und Frieden auf Erden zu richten, um den ‚dauerhaften Zustand des Friedens‘ (Q 10:25) zu erreichen.“26

      Aus dem Koran lassen sich nach Frau Kadayifici-Orellana mit Blick auf eine dauerhafte Friedensstiftung sechs Säulen ableiten27:

      – Tauhid, das Prinzip der Einheit Gottes und allen Seins als die Quelle von Harmonie, Ordnung und Frieden. Es hält die Gläubigen dazu an, „aktiv nach Einheit und Harmonie zu streben, denn die Menschen sind aufgrund ihrer bindenden Verpflichtung gegenüber Gott für den Schutz und die Sorge um Gottes Schöpfung verantwortlich“28. Konflikte und Kriege machen das zunichte.

      – Fitrah, das ursprüngliche Wesen des Menschen, nämlich dass er von Gott als sein Ebenbild gut und frei ist, verpflichtet zu unbedingtem gegenseitigen Respekt und zu friedlichen, konstruktiven und harmonischen Beziehungen untereinander.

      – Al-Adl, Gerechtigkeit, ein weiterer der schönsten Namen Gottes, woraus sich die untrennbare Zusammengehörigkeit von Frieden und Gerechtigkeit ergibt. Die Gläubigen „sind aufgefordert, sich den ungerechten Bedingungen, die als Ursprung von Konflikten und Chaos in der Welt gelten, zu widersetzen und diese zu korrigieren (Q 27:52)“29. Dabei ist Gerechtigkeit umfassend gemeint, erstreckt sich also auch auf die soziale und ökonomische Dimension, und universal, bezieht also alle Menschen ein.

      – Afu, der Vorrang von Vergebung vor Vergeltung, wodurch Gewaltlosigkeit ermöglicht wird.

      – Rahmah und Rahim, das Werte-Paar Mitgefühl und Erbarmen, das ebenfalls eine der Eigenschaften Gottes ausmacht. „Daher muss ein wahrer Muslim Erbarmen und Mitgefühl allen Menschen erweisen, ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Herkunft und ihres Geschlechts. Die Werte Mitgefühl und Erbarmen bedeuten auch, dass das Leid anderer, sei es physischer, wirtschaftlicher oder emotionaler Art, einen wahren Muslim nicht unberührt lassen kann und er sich nicht in grausamer Weise irgendeinem Geschöpf gegenüber verhalten darf.“30

      – Sahr, Geduld, die zu beherzigen es möglich macht, sich stellende Probleme unermüdlich, aber ohne Gewalt einer erfolgreichen Lösung zuzuführen.

      Nicht gemeint ist mit „sahr“, so fügt Frau Kadayifici-Orellana hinzu, dass Muslime Unterdrückung und Ungerechtigkeit passiv erdulden müssten. Vielmehr hält der Koran sie dazu an, sich aktiv am Kampf um die Schaffung von Gerechtigkeit und Frieden zu beteiligen. Sich dazu zu verpflichten und nicht ständig um sich selbst zu kreisen, nur auf die eigenen Interessen bedacht zu sein, dieses innere Streben macht die eigentliche Bedeutung von „jihad“ aus. Der Einsatz von gewaltsamen, kriegerischen Mitteln ist dann erlaubt, wenn es gilt, gegen Angriffe den Glauben zu schützen und die Gemeinschaft zu verteidigen. Unter welchen Voraussetzungen ein solcher Verteidigungskrieg erlaubt ist und welche Grenzen er nicht überschreiten darf, ist in einem im Laufe der Zeit entwickelten Regelwerk unter dem Titel Siyar festgelegt.31 Insgesamt gilt nach Frau Kadayifici-Orellana die Devise: „Da ein Konflikt als schädigend sowohl für die göttliche als auch die gemeinschaftliche Harmonie gilt, weist der Islam die Muslime an, engagiert für die Lösung von Konflikten einzutreten und die Harmonie friedlich und gewaltlos wiederherzustellen (Q 49:9).“32

      Angesichts der höchst divergierenden Auffassungen über Frieden und Gewalt in der muslimischen Gemeinschaft hält sie es für dringend erforderlich, innerhalb der eigenen Reihen eine Bewusstseinsbildung in dem von ihr dargelegten, den Weg der Gewaltlosigkeit bevorzugenden Geist der islamischen Quellen voranzutreiben und so vor allem die Islamisten zu delegitimieren.

      Zum Schluss – zwei Zitate ohne Kommentar

      „Wenn es nämlich stimmt, dass es in jeder solchen Zelle einen Kern von einigen Personen gibt, die bereit sind, sich zusammenzutun, um so eine größere Öffnung zum und eine größere Hingabe an den Nächsten zu erreichen, dann können diese Minderheiten im Bund mit anderen Minderheiten eine unwiderstehliche Kraft bilden.“33

      „Die Grundfrage bleibt: Sollen wir den Realismus der Bibel einem womöglich blauäugigen Pazifismus entgegensetzen? Oder sollen wir einem Realismus, der dem verfällt, was angeblich nun einmal so ist, die biblische Erwartung des Endes von Krieg und Gewalt schon in dieser Welt entgegensetzen? Ich setze entschieden auf das Zweite, aber angesichts mancher brutaler Milizen und Regime empfinde ich zuweilen bestürzend, dass ich gar nicht meiner Meinung bin. Das geht nicht nur mir so.“34

      1 Mollov, Ben, Ressourcen für die Friedensförderung in der politischen Tradition des Judentums, in: Mokrosch, Reinhold / Held, Thomas / Czada, Roland (Hg.), Religionen und Weltfrieden. Friedens- und Konfliktlösungspotentiale von Religionsgemeinschaften, Stuttgart 2013, 85–99, 85.

      2 Ein ökumenischer Aufruf zum gerechten Frieden, in: Raiser, Konrad / Schmitthenner, Ulrich (Hg.), Gerechter Friede. Ein ökumenischer Aufruf zum Gerechten Frieden, Berlin 2013, 5–20, 6f.

      3 Aus Gottes Frieden leben – für den gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007, 42.

      4 Vgl. Die deutschen Bischöfe, Gerechtigkeit schafft Frieden. Wort der Deutschen Bischofskonferenz zum Frieden, Bonn 1983, 23–29.

      5 Vgl. ausführlich zum Thema Engelhardt, Paulus, Die Lehre vom „gerechten Krieg“ in der vorreformatorischen und katholischen Tradition. Herkunft – Wandlung – Krise, in: Steinweg, Reiner (Red.), Der gerechte Krieg: Christentum, Islam, Marxismus, Frankfurt 1980, 72–124; Lienemann, Wolfgang, Das Problem des gerechten Krieges im deutschen Protestantismus nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Steinweg, Der gerechte Krieg, 125–162.

      6 Zitiert nach: Begleitdokument, in: Raiser / Schmitthenner (Hg.), Gerechter Friede, 21–190, 21.

      7 Vgl. neben dem Ökumenischen Aufruf (2013) und dem Begleitdokument (2013) dazu (im Folgenden abgekürzt: ÖA u. BD) und der EKD-Denkschrift (2007; im Folgenden abgekürzt: DS) Die deutschen Bischöfe, Gerechter Friede, Bonn 2000 (im Folgenden abgekürzt: GF). – Zum ersten Mal findet sich dieser Begriff im Abschnitt 36 des Ergebnistextes „Umkehr zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung – Theologische Grundlegung“ der Ökumenischen Versammlung der Christen und Kirchen in der DDR 1988/89 (in: Aktion Sühnezeichen / Pax Christi (Hg.), Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Dresden – Magdeburg – Dresden, Berlin 1990, 40).

      8 Vgl. BD, 26–30.

      9 DS, 51–53.

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